Impulsvortrag zum Schwerpunktthema

4. Tagung der 12. Synode der EKD, 12. - 15. November 2017 in Bonn

Es gilt das gesprochene Wort

Impuls

 zum Schwerpunktthema – Zukunft auf gutem Grund

„Herausforderungen für eine reformbereite Kirche“

Prof. Dr. Detlef Pollack, Münster

Nach den aufregenden Ereignissen anlässlich des Reformationsjubiläums, das uns mit vielen interessanten Menschen in Kontakt gebracht hat, zu neuen Einsichten geführt und unsere protestantischen Herzen bewegt hat, fällt es möglicherweise schwer, in den Alltag zurückzukehren. Haben die Reformationsfeierlichkeiten nicht gezeigt, auf welch vielfältige Weise die Menschen, auch Menschen weit außerhalb der Kirche, erreicht und auf die Botschaft des Evangeliums hin angesprochen werden können? An vielen Stellen ist ein Aufbruch spürbar, der nun in nachhaltiges kirchliches Handeln überführt werden soll.

Jedem ist klar, dass dies nur sehr fragmentarisch gelingen kann. Die Kirche ist schon seit langem nicht mehr die Herrin ihres Schicksals. Kirchenaustrittsraten werden stärker von wirtschaftlichen Konjunkturen und Wertwandelprozessen beeinflusst als vom aktuellen kirchlichen Handeln, obschon dieses wiederum auch nicht völlig wirkungslos ist. Geringe Beteiligungsraten hängen stärker von der Verfügbarkeit säkularer Handlungsalternativen ab als von der Qualität der Gottesdienste, auch wenn diese sehr wohl einen Unterschied machen kann. Die Kirche ist einer Vielzahl von säkularen Prozessen ausgesetzt, auf die sie kaum einen Einfluss ausüben kann, Prozessen der weltanschaulichen Pluralisierung, der Wohlstandsanhebung, der Individualisierung. Diese haben der Kirche nicht nur geschadet, sondern sie auch wohlhabender, dialogischer und menschenfreundlicher gemacht, zugleich aber auch Tendenzen der Entkirchlichung befördert.

Obwohl ich als Religionssoziologe zur nüchternen Wahrnehmung der kirchlichen Verhältnisse verpflichtet bin, sehe ich meine Aufgabe allerdings nicht darin, Mutlosigkeit zu verbreiten. Vielmehr möchte ich als Religionssoziologie und als um die Zukunft der Kirche besorgter Kirchenchrist mit Ihnen gemeinsam darüber nachdenken, wie sich die Resonanz des kirchlichen Handelns in der Gesellschaft steigern lässt. Dazu ein paar Stichworte.

Stichwort 1: Religiöse Sozialisation

Ob man als Kind eine religiöse Erziehung erfahren hat oder nicht, entscheidet maßgeblich darüber, ob man als Erwachsener zur Kirche gehört, an Gott glaubt und Religion in seinem Leben für wichtig hält. Die religiöse Sozialisation ist der wichtigste Einflussfaktor für die religiös-kirchliche Bindung. Das ist bekannt. Bekannt ist auch, dass der Anteil der Kirchenmitglieder, die berichten, eine religiöse Erziehung erfahren zu haben, dramatisch sinkt. Unter den unter 30-Jährigen evangelischen Kirchenmitgliedern sind es im Westen Deutschlands nur noch etwas mehr als die Hälfte, die angeben, religiös erzogen worden zu sein. Bei den über 60-Jährigen sind es etwa 80 %. Die Kirche hat das Problem erkannt. Etwa ein Drittel des kirchlichen Haushalts geht in die Kinderarbeit. Das ist gut angelegtes Geld. Denn wer sich erst einmal von der Kirche verabschiedet hat, kommt in der Regel nicht wieder. Nicht einmal ein Prozent der Konfessionslosen denkt über einen Kircheneintritt ernsthaft nach. Die Eintritte in die evangelische Kirche belaufen sich jährlich auf 0,2 % des kirchlichen Mitgliederbestands, und unter ihnen machen die Wiedereintritte und Eintritte von Mitgliedern anderer christlicher Religionsgemeinschaften die Mehrheit aus. Die Verbreitung des Evangeliums an alles Volk mag theologisch geboten sein; unter zweckrationalen Gesichtspunkten ist es effektiver, sich vor allem um diejenigen zu kümmern, die in der Kirche sind, genauer: noch in der Kirche sind und an ihrem Rande stehen. Auf welche Weise gehen sie verloren? Ein Schlüssel zur Erklärung der Verluste liegt in dem Verhältnis der Generationen zueinander. Die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern ist, wie Untersuchungen gezeigt haben, mehrheitlich durch liebevolle Unterstützung geprägt. Der Einfluss der Eltern auf ihre Kinder ist durchaus nicht rückläufig. Das heißt, wenn wir die religiöse Prägung der Kinder beeinflussen wollen, müssen wir bei den Eltern ansetzen, die häufig an der Vermittlung christlicher Werte und Normen, aber auch an der Segnung ihrer Kinder durch die Kirche durchaus ein Interesse haben. Über 90 % der Kinder mit mindestens einem evangelischen Elternteil werden entweder evangelisch oder katholisch getauft. Aber – wie gesagt – nur die Hälfte erhält heute noch eine christliche Erziehung. Was können wir tun, damit die Eltern, die am Heil und Wohl ihrer Kinder ja hoch interessiert sind, sich für deren christliche Erziehung engagieren?

Stichwort 2: Sinnsuche

Mit diesem Stichwort komme ich auf ein Bedürfnis zu sprechen, auf das man sich vielleicht lieber nicht verlassen sollte: auf die vielfach praktisch-theologisch unterstellte Suche der Menschen nach Sinn und höherer Bedeutung. Sehr wohl ist das diffuse Gefühl, dass das Leben in objektiv messbaren Tatsachen nicht aufgeht, in beachtlichen Teilen der Gesellschaft anzutreffen. Erwartungen an eine weit verbreitete Sehnsucht nach Sinn, Spiritualität oder Religion erhalten durch einschlägige Umfrageergebnisse indes eine nachhaltige Dämpfung. Nur etwa
8 % der Deutschen geben an, sehr oft über den Sinn des Lebens nachzudenken. Die Mehrheit denkt nicht oft darüber nach. Nur etwa 10 % erklären, sie wären religiös auf der Suche. Dass unser Zeitalter durch ein hohes Maß an religiöser Sehnsucht charakterisiert sei, lässt sich nicht behaupten. Mit anderen Worten: Die zurückgehende religiös-kirchliche Bindung hat nicht nur etwas mit dem Profil des kirchlichen Angebots zu tun, sondern auch etwas mit der schwachen religiösen Nachfrage. Die theologische Unterstellung eines religiösen Apriori trifft die Lebenswirklichkeit der Menschen nicht. Umso mehr kommt der Kirche die Aufgabe zu, den Sinn fürs Unendliche in der Gesellschaft präsent zu halten. Vielleicht sollte die Kirche ihre Angebote auf eine Art und Weise unterbreiten, die es erlaubt, die Entdeckung zu machen: Religion – das könnte ein Bedürfnis sein.

Stichwort 3: Gottesdienst

Damit bin ich beim Stichwort Gottesdienst. Der Gottesdienst ist nicht nur theologisch, sondern auch soziologisch die wichtigste kirchliche Veranstaltung. Wer in den Gottesdienst geht, weist eine weitaus höhere Wahrscheinlichkeit auf, auch an Gott zu glauben und sein Leben nach den Grundsätzen des Glaubens auszurichten, als jemand, der das nicht tut. Man hört oft: Ich kann auch ohne Kirche Christ sein. Ja, das geht, kirchensoziologische Untersuchungen aber zeigen: Die Wahrscheinlichkeit, dass man sich ohne Kirche zu Gott bekennt, ist deutlich geringer, als wenn man sich am kirchlichen Leben beteiligt, Kontakt zum Pfarrer hat und seinen Glauben mit denjenigen teilt, die sich ebenfalls zum Glauben an Gott bekennen. Zuweilen hört man auch das Argument, man könne sich auch außerhalb des Gottesdienstes kirchlich engagieren. Gegenüber diesem Argument ist zunächst auf den engen statistisch nachweisbaren Zusammenhang zwischen Gottesdienstbesuch und kirchlichem Ehrenamt hinzuweisen. 60 % von denen, die angeben, mindesten einmal im Monat in die Kirche zu gehen, engagieren sich auch auf andere Weise in der Kirche, im Kirchenvorstand, im Frauenkreis, beim Besuchsdienst, in Projekten, im Kirchenchor oder beim Besuch von Seminaren. Das ist ein hoher Prozentsatz. In den hochlebendigen Megachurches der USA liegt der Anteil der Gottesdienstbesucher, die sich ehrenamtlich engagieren, nicht darüber, eher sogar darunter. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass dort weitaus mehr zum Gottesdienst gehen. Dort nimmt man seine Freunde und Bekannten, die gerade auf Besuch sind, zum Gottesdienst mit und fragt sie, ob sie nicht auch in Zukunft mitkommen wollen. Der Engpass in Deutschland ist nicht das Ehrenamt, sondern der Gottesdienst, der immer mehr zu einer Insider-Veranstaltung wird. Von denen, die weniger als einmal im Monat zum Gottesdienst gehen, beteiligen sich nur 5 % an außergottesdienstlichen Aktivitäten. Dass uns bei diesen Aktivitäten dennoch so viele Nichtgottesdienstbesucher begegnen, liegt daran, dass die Gruppe der Kirchgänger so klein ist. Wäre es also nicht ratsam, sich darum zu bemühen, den Kreis der Gottesdienstbesucher zu erweitern, damit auch der Pool, der einen so hohen Anteil von ehrenamtlich Tätigen produziert, größer wird? Das heißt, wir müssen über die Gestaltung des Gottesdienstes nachdenken. Der Gottesdienst muss einladender werden und professioneller werden, und er muss – um schon einmal einen ersten konkreten Vorschlag anzubringen – kürzer werden. Damit könnte man ja einmal anfangen: Kein Gottesdienst länger als 50 oder höchstens 60 Minuten, denn dass die Menschen wegbleiben, hat zwar auch damit zu tun, dass sie etwa mit der Art der Predigt unzufrieden sind, aber vor allem damit, dass sie am Sonntagvormittag schlichtweg anderes zu tun haben, das ihnen wichtiger ist. Wir erleichtern es Menschen, am Gottesdienst teilzunehmen, wenn er kürzer ist. Denn viel mehr, als zum Gottesdienst erscheinen, verstehen sich als Gottesdienstbesucher. Die Zahl derer, die in Befragungen angeben, sie würden zum Gottesdienst gehen, liegt stets weitaus höher als die durch Zählungen ermittelte Gottesdienstbesucherzahl. Da gibt es also offenbar ein Mobilisierungspotenzial, das sich vielleicht aktivieren ließe.

Stichwort 4: Pfarrerschaft

Die Pfarrerschaft ist das Vermittlungsglied zwischen Kirche und Kirchenvolk. Die Pfarrerinnen und Pfarrer haben den Dienst an Gott zu ihrem Beruf gemacht und sind vielleicht die wichtigste Ressource, die der Kirche zur Verfügung steht. Wenn nicht alles täuscht, bestehen vielfach jedoch Kommunikationsprobleme zwischen Pfarrerschaft und Kirchenleitung, und das könnte sich möglicherweise auch negativ auswirken auf das Verhältnis der Pfarrer zur Gemeinde. Die Pfarrerinnen und Pfarrer stilisieren sich gegenüber den Gemeinden oft als Personen, die außerhalb der Organisation stehen. Eine solche Rollendistanz ist typisch für Rollenträger innerhalb von Non-Profit-Organisationen, die sich nicht über Effektivität legitimieren, sondern über Glaubwürdigkeit. Daher ist es konsequent, dass es Pfarrern vor allem darauf ankommt, authentisch aufzutreten und Vertrauen zu wecken. Indem sie sich als außerhalb der Organisation stehend inszenieren, schützen die Pfarrerinnen und Pfarrer gewissermaßen ihre persönliche Kommunikation mit den Gemeindegliedern. Diese Inszenierung kommt bei den Kirchenmitgliedern gut an und ist völlig funktional. Die gleiche Haltung nehmen die Pfarrerinnen aber auch oft gegenüber der Kirchenleitung ein. Und da wird sie zuweilen destruktiv. Natürlich können die Pfarrerinnen und Pfarrer ihre Arbeit nur machen, wenn sie weitgehend autonom agieren. Es stellt sich indes die Frage, ob es aufgrund der Profilierungstendenzen von Pfarrerinnen und Pfarrern gegenüber Kirchenamt und Kirchenleitung nicht auch manche Reibungsverluste gibt, die effektives und konstruktives kirchliches Handeln behindern.

Stichwort 5: Das öffentliche Image der Kirche

Niemand möchte Mitglied in einer Organisation mit einem schlechten Image sein. Für das Gefühl der Verbundenheit mit der Kirche und die Bereitschaft zum kirchlichen Engagement ist das Bild der Kirche in der Öffentlichkeit nicht unwichtig. Viele Menschen aber wissen wenig über die Kirche und pflegen zuweilen sogar ihre Vorurteile über sie. Deshalb kommt es darauf an, in der Öffentlichkeit zu zeigen, wie weltoffen, dialogisch, reformbereit und responsiv Kirche ist. Das Bemühen um ein gutes Image geht zuweilen aber auf Kosten ihrer Unverwechselbarkeit. Müsste Kirche nicht manchmal mutiger sein und vom Mainstream des allgemeinen Gutmenschentums abweichen? Zum Beispiel, indem sie sich für die Wähler der AfD interessiert und versucht ihre Anliegen ernst zu nehmen und zu verstehen statt sie zu verurteilen? Natürlich muss Kirche genau überlegen, wie weit sie dabei gehen kann. In der Öffentlichkeit kann man sehr viel falsch machen und schnell in eine unbequeme Ecke gestellt werden, aus der schwer wieder herauszukommen ist. Aber vielleicht sollte man die erforderliche Balance zwischen political correctness und Provokation zuweilen ein wenig mehr in Richtung Devianz verschieben. Das erzeugt Streit, aber hält die Kirche im Gespräch.

Stichwort 6: Und wo bleibt die Sünde?

Ich schließe mit einer Frage, die die Theologie betrifft: Was tritt heute an die Stelle des einst omnipräsenten Sündenbewusstseins? Das Problem der Kirche heute besteht nicht so sehr darin, dass die Menschen die Kirche ablehnen, sich über ihre Stellungnahmen ärgern und den Glauben an Gott durch atheistische Überzeugungen ersetzen wollen. Im Gegenteil, das Christentum ist als Fundament unserer Kultur, als Quelle moralischen Verhaltens und als eine nützliche und hilfreiche Einrichtung weithin akzeptiert, im Westen Deutschlands ohnehin, aber zu einem überraschend hohen Anteil auch im Osten. Das größte Problem der Kirche heute besteht darin, dass Glaube und Kirche den Menschen nicht so wichtig sind. Sie haben andere Prioritäten, sich mit Freunden treffen, sich bilden, beruflich vorankommen, die vielfältigen Freizeitangebote vom Restaurantbesuch bis zum Fernsehen genießen, die Familie. Anders ausgedrückt: Das größte Problem der Kirche heute besteht darin, dass das Ganze des menschlichen Lebens, Sterbens und Hoffens, um das es im Evangelium geht, für die meisten nur noch partiell relevant ist. Wenn das Reformationsjubiläum in den Augen mancher vielleicht wenig gebracht hat, dann aber doch gewiss das eine: dass es uns gezeigt hat, wie fremd uns Luther inzwischen geworden ist, wie weit seine Welt von unseren Annahmen über die Welt und das Leben entfernt ist. Für Luther war die Frage nach der individuellen Heilsgewissheit lebensbestimmend. Ihn trieb die Frage um, wie der Mensch angesichts seiner Verderbtheit und tiefen Sündhaftigkeit einen gnädigen Gott bekommen kann. An die prinzipielle Sündhaftigkeit des Menschen können wir heute nicht mehr glauben. Den Menschen halten wir eher für verbesserungsfähig als für verdorben. Und auch Gott stellen wir uns nicht als eine Autorität vor, die über unsere Taten richtet, sondern als eine ferne irgendwie gutwillige Kraft, die unsere kleinen Sünden nicht bekümmert und es schon gut mit uns meint. Die meisten Menschen im Westen Deutschlands, die sich zum Glauben an Gott bekennen – und das ist nach wie vor die Mehrheit – verstehen denn Gott auch gar nicht mehr als eine Person, wie ihn die Bibel verkündet, sondern als eine unpersönliche höhere Macht. Was kann heute an das einstmalige Sündenbewusstsein treten, das uns die Frage nach Gott so dringlich macht, wie sie Luther einst war? Könnte das die Frage nach der grundsätzlichen Begrenztheit unseres Lebens und nach der Neigung des Menschen sein, diese Grenze nicht anerkennen zu wollen und Steigerung, Lebensgier und Selbstverwirklichung zum letzten Prinzip seines Lebens zu machen? Oder könnte man es so machen wie Papst Franziskus, der dazu neigt, die Kapitalismuskritik zum Zentrum des Evangeliums und damit einen denkbaren Zweitcode wie die Unterscheidung zwischen gerecht und ungerecht zum religiösen Erstcode zu machen? Das größte Problem der Kirche ist ein Glaubensproblem. Wie der Glaube Luthers in unserer Zeit so umgesprochen werden kann, dass er die Menschen bewegt, ist eine Frage, die an die Theologie geht. Eine solche kritische Anfrage an die Theologie zu richten, ist durchaus legitim, auch wenn sie, wie wir in den letzten Monaten gesehen haben, Streit und Konflikt provoziert. Aber das wissen wir ja bereits, dass ein gewisses Maß an Streit der Kirche vielleicht auch guttun kann.

„Herausforderungen für eine reformbereite Kirche“

Prof. Dr. Detlef Pollack, Münster