Viele beten, wenige reden darüber

Eine Frau betet in der Kirche
„Bittet, so wird euch gegeben“, sagt Jesus

Beten, wenn es ernst wird – das tun auch die Autoren der Bibel. Zwei Drittel der Psalmen sind Klagelieder und Bittgebete. Sie bitten darum, dass Gott sie hört, dass er ihnen vergibt, und dass er sie wieder gute Tage sehen lässt. „Bittet, so wird euch gegeben“, sagt Jesus im Lukasevangelium.

Mehr als die Hälfte der Deutschen betet laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Emnid. 31 Prozent von ihnen gelegentlich;doch fast jede*r fünfte Deutsche betet regelmäßig. In Krisenzeiten beten weitere sechs Prozent. Am meisten beten ältere Menschen: Ganze 69 Prozent der Befragten über 60 Jahre gaben an, zu beten. Frauen (66 Prozent) beten häufiger als Männer (45 Prozent). Im Westen wird doppelt so oft gebetet wie im Osten der Republik. In den neuen Bundesländern haben zwei Drittel der Befragten angegeben, noch nie gebetet zu haben.

Beten ist keine Kunst und keine Pflicht

Beten ist keine Kunst, keine Pflicht und keine Leistung. Niemand muss eine Bedingung erfüllen, bevor Gott ihn hört. Beten ist auch keine Demonstration. Von Jesus ist in Matthäus 6 ein Satz überliefert, unmittelbar bevor er seinen Jüngern das Vaterunser empfiehlt: „Wenn du betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.“

„Beten gehört wahrscheinlich zu den intimsten Dingen, die es im Leben eines Menschen gibt.“

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm (l.). ueberreicht die Martin-Luther-Medaille der EKD an Kardinal Karl Lehmann.
Heinrich Bedford-Strohm Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Ratsvorsitzender der EKD von 2014 bis November 2021

Viele beten, aber wenige reden darüber. „Beten gehört wahrscheinlich zu den intimsten Dingen, die es im Leben eines Menschen gibt“, sagt Heinrich Bedford-Strohm, der bayerische Landesbischof und ehemalige Ratsvorsitzende der EKD. „Es gibt so etwas wie eine religiöse Scham. Sie ist manchmal noch größer als die Scham bei der Sexualität. Über Sexualität reden wir noch eher, zumal sie in allen möglichen Zeitungen und Zeitschriften thematisiert wird. Aber über das Beten? Wer erzählt eigentlich den Menschen, die ihm nahe sind, dass er oder sie persönlich betet?“ Ein Pfarrer hat berichtet, wie er ein Paar bei einem Traugespräch nach dem Gebet fragte. Beide künftigen Ehepartner überraschten einander damit, dass sie regelmäßig beteten.

Übers Beten wird nicht gern gesprochen

Woran liegt es, dass wir nicht so gerne über unser Gebet sprechen? Vielleicht, weil wir damit unsere Verletzlichkeit eingestehen. Weil es peinlich ist, dass wir nicht so stark und erfolgreich sind, so unverwüstlich oder so cool und funny, wie wir gerne wahrgenommen werden wollen. „Obwohl wir alle auch schon erfahren haben, wie viel Nähe es schaffen kann, wenn wir auch einmal unsere verletzliche Seite zeigen“, sagt Heinrich Bedford-Strohm.

Vielleicht liegt es auch am Zweifel, der unser Gebet begleitet, dass wir nicht gern darüber sprechen. Ob Gott hört. Ob es ihn überhaupt gibt, ob wir also vergeblich unser Herz öffnen. Und ob unsere Hoffnungen erfüllt werden. Jeder kennt Beispiele, dass die, für die wir gebetet haben, nicht gesund wurden oder gestorben sind. Und dass uns ein Unglück trifft. Wir haben nichts als unser Vertrauen.

Es ist schön zu hören, dass Beten offensichtlich hilft. In den USA werden darüber gern und oft Untersuchungen veröffentlicht. Die meisten sagen, dass Beter Operationen besser überstehen, schneller gesund werden und mit Rückschlägen besser umgehen können. Aber die Statistik ersetzt nicht das Vertrauen, mit dem wir uns an Gott wenden.

„Einfach nur vor Gott da sein“

Hinter dem Gebet steht die Sehnsucht, Gott zu erfahren. Es hat seinen Grund in der Hoffnung, dass wir nicht nur unter Menschen in der Welt leben, sondern in der Gegenwart Gottes. Diese Erfahrung schaffen nicht wir, sagt der Religionsphilosoph Ingolf U. Dalferth im Magazin zum Reformationsjahr 2017. Sie widerfährt uns, denn sie kommt von Gott. Und sie wird bestätigt und gestärkt im Gottesdienst, im Nachdenken über Gott, im Bibellesen und – im Gebet.

Dabei muss Beten gar nicht immer aus Worten bestehen. „Es ist mehr noch ein Hören“, sagt der 2016 verstorbene Theologe Jörg Zink. Er schrieb 1970 den bis heute immer wieder aufgelegten Klassiker „Wie wir beten können“. Beten, so sagt Zink, „kann heißen, einfach nur vor Gott da zu sein oder vor Gott einer Arbeit nachzugehen.“ Das hilft allen, denen eigene Worte schwer fallen. Oder sie beten allein oder gemeinsam das Vaterunser. Das Gebet, das Jesus uns gegeben hat, umgreift alles.

Warum also beten? Weil es uns in einen neuen Zusammenhang stellt. Weil es uns hilft, zu vertrauen. Und weil es nicht nur uns, sondern die Welt verändert. „Hände zum Gebet falten“, hat der Schweizer Theologe Karl Barth gesagt, „ist der Anfang eines Aufstandes gegen die Unordnung der Welt.“

wt