Stellungnahme des Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Stellungnahme des Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

aus Anlaß der öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages am 25. März 1998 zum Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin des Europarates vom 4. April 1997

Kirchenamt und Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, dazu das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland und einige evangelische Landeskirchen haben sich bereits in der Zeit vor der abschließenden Feststellung des Textes des Übereinkommens mehrfach zur Sache geäußert. Diese Stellungnahmen enthalten zu grundlegenden Fragen und zu Einzelpunkten Hinweise und Argumente von bleibender Bedeutung und werden hier vorausgesetzt. Seit das Übereinkommen in seiner endgültigen Fassung beschlossen und zur Unterschrift ausgelegt wurde, besteht allerdings eine neue Argumentationslage. Es geht jetzt nicht mehr darum, durch den Hinweis auf Schwachstellen die Zustimmungsfähigkeit des Textes zu verbessern, sondern um die Prüfung, ob ein gegebener Text, in dessen endgültiger Fassung nicht allen früher vorgetragenen Bedenken Rechnung getragen wurde, gleichwohl akzeptabel ist und von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet und ratifiziert werden sollte, ob dies nur unter bestimmten Bedingungen befürwortet werden kann oder ob die verbleibenden Bedenken und Einwände von solchem Gewicht sind, daß von der Unterzeichnung und Ratifizierung auf jeden Fall abzuraten ist. Der hier erforderliche Abwägungsvorgang muß von den Abgeordneten persönlich verantwortet werden. Die Stellungnahme eines kirchlichen Leitungsorgans kann nach evangelischem Verständnis die persönliche Urteilsbildung niemals ersetzen, sie will aber Hilfe zur ethischen Urteilsbildung sein. Es gibt auch Fälle - und die Frage der Unterzeichnung und Ratifizierung des Übereinkommens ist nach Auffassung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland ein solcher Fall -, in denen auf der Grundlage übereinstimmender ethischer Kriterien unterschiedliche konkrete Folgerungen möglich und vertretbar sind und sich das kirchliche Leitungsorgan bewußt darauf beschränkt, diejenigen Kriterien zu benennen, die bei einer gewissenhaften persönlichen Urteilsbildung in jedem Fall zu berücksichtigen sind.

1. Breite Übereinstimmung besteht in der evangelischen Kirche darüber, daß die Bestrebungen, im Bereich der Biomedizin zu internationalen rechtlichen Vereinbarungen zu kommen, wichtig und dringlich sind. Zuletzt hat die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland in einem Beschluß vom 6. November 1997 "die Bemühungen des Europarates, durch das Übereinkommen die Würde und die Rechte der Menschen im biomedizinischen Bereich zu sichern", ausdrücklich "begrüßt". In einer Zeit zunehmender Internationalisierung von Wissenschaft, Forschung und deren Anwendung können ethisch begründete Grenzziehungen nur wirksam werden, wenn der auf den jeweiligen Nationalstaat begrenzte Bereich der Gesetzgebung durch international geltendes Recht erweitert wird. Ein Instrument hierfür ist eine Konvention, auf die sich Nationalstaaten verständigen und zu deren Durchsetzung im eigenen Bereich sie sich verpflichten. So wird dazu beigetragen, bestimmten ethisch begründeten Grenzsetzungen menschlichen Handelns international Geltung zu verschaffen.

2. Breite Übereinstimmung ist in der evangelischen Kirche auch darüber gegeben, welche Kriterien bei der hier anstehenden Prüfung als Maßstab anzulegen sind:

  • Hilfe für die Kranken: Niemand ist vollkommen, jeder Mensch braucht die Hilfe des anderen. Solidarische Gemeinschaft macht die besondere Qualität guten Lebens aus. Der kranke, der belastete, der geschwächte und der sterbende Mensch bedarf in besonderer Weise der solidarischen Hilfe der Gemeinschaft. In der Bibel wird der Wille Gottes im Gebot der Nächstenliebe zusammengefaßt. Die Evangelien verkündigen Jesus als den Heiland gerade für kranke Menschen. Die Zuwendung zu den Kranken ist darum ein Kennzeichen christlicher Barmherzigkeit geworden. Es ist wichtig, daß dabei therapeutische Fortschritte für alle Menschen gleichermaßen angestrebt werden. Niemand ist weniger wichtig als andere, keine Gruppe darf vernachlässigt oder benachteiligt werden.
         
  • Schutz der Würde des Menschen: Die Entwicklung von Biologie und Medizin darf sich nicht selbst überlassen bleiben, sondern muß ethisch sorgfältig verantwortet und insbesondere am Schutz der Würde des Menschen ausgerichtet werden. Nach christlicher Sicht gründet die Würde des Menschen nicht in empirisch feststellbaren Qualitäten, sondern darin, daß Gott den Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen und zur Gemeinschaft mit sich bestimmt hat. Diese Bestimmung wird nicht dadurch hinfällig, daß der Mensch aufgrund einer Versehrung von Geist oder Körper in seinen Fähigkeiten eingeschränkt ist. "Auch das durch Krankheit, Behinderung oder Tod gekennzeichnete Leben hat als menschliches Leben eine unverlierbare Würde. Selbst schwerwiegende Beeinträchtigungen des Lebensvollzugs, vollständige Hilflosigkeit und ein hoher Aufwand an Pflege und Betreuung können es unter keinen Umständen rechtfertigen, den betroffenen Menschen die Würde abzusprechen oder ihre Würde als eingeschränkt anzusehen ... Jeder Mensch, wie immer er ist, gesund oder krank, mit hoher oder geringer Lebenserwartung, produktiv oder eine Belastung darstellend, ist und bleibt 'Bild Gottes'. Die Überzeugung, daß letztlich nicht eigene Qualitäten, sondern Gottes Annahme und Berufung dem Menschen Gottebenbildlichkeit und damit seine Würde verleihen, muß sich gerade gegenüber dem kranken, behinderten und sterbenden Leben bewähren" (Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, 1989, S. 46f).

Die Würde des menschlichen Lebens "verbietet es, daß es bloß als Material und Mittel zu anderen Zwecken genutzt" wird (ebd. S. 64). Dieser Grundsatz hat über seine Fassung in der Philosophie Kants breiten Eingang in das ethische Denken gefunden. Er hängt aber aufs engste mit dem christlichen Verständnis des Menschen zusammen. Denn "theologisch gesehen konstituiert die Anerkennung des Menschen durch Gott den Menschen als Person. Das mitmenschliche und gesellschaftliche Verhalten macht und setzt darum nicht die personale Würde des anderen; es anerkennt sie. Daraus ergibt sich eine Reihe von Konsequenzen:

  • Wert und Würde des Menschen bestimmen sich letztlich nicht aus seinen Funktionen, Leistungen, Verdiensten oder aufgrund bestimmter Eigenschaften, schon gar nicht nach individuellem oder sozialem Nutzen und Interesse.

  • Die Person hat einen Vorrang vor Sachen, somit vor Institutionen, wirtschaftlichen Prozessen, Interessen u.a. Menschen dürfen deshalb für andere Menschen nie nur Mittel zum Zweck sein" (ebd. S. 42).

    Schutz von menschlichen Embryonen: Ein wirksamer Schutz von menschlichen Embryonen ist unerläßlich und darf durch eine Unterzeichnung des Übereinkommens nicht in Frage gestellt oder gemindert werden. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren mehrfach zum Embryonenschutz geäußert und ihre Position auch in ihren Stellungnahmen zum Entwurf eines Embryonenschutzgesetzes gegenüber dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages vertreten. Dabei hat sie seinerzeit nachdrücklich die Grundentscheidung des Entwurfs begrüßt, "das Gebot zum Schutz der Menschenwürde auch auf den Umgang mit menschlichen Embryonen vom frühesten Stadium an anzuwenden ... Schon die kleinste Bewegung in Richtung auf die Zulassung verbrauchender Forschung an Embryonen überschreitet eine wesentliche Grenze. Auch hierfür gilt, woran Hans Jonas im Blick auf die gentechnologische Forschung im ganzen erinnert hat: 'Unsere so völlig enttabuisierte Welt muß angesichts ihrer neuen Machtarten freiwillig neue Tabus aufrichten. Wir müssen wissen, daß wir uns weit vorgewagt haben, und wieder wissen lernen, daß es ein Zuweit gibt.'"
         
    Anhebung des internationalen Schutzniveaus: Die Anhebung des internationalen Schutzniveaus ist ein wichtiges Ziel der Rechtsentwicklung. Nationale Inseln eines strengen Lebensschutzes sind nicht genug. Ohne ein hohes internationales Schutzniveau können Forschung und Anwendung leicht in Länder mit geringeren Anforderungen ausweichen. Das Schutzniveau von zahlreichen Mitgliedstaaten des Europarates sowie von möglicherweise beitretenden Drittstaaten würde durch die Geltung des Übereinkommens im Bereich von Biologie und Medizin eine Anhebung erfahren. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf diejenigen Staaten, die bislang über keine angemessenen nationalen Rechtsvorschriften verfügen.

Seit 1997 arbeitet der Lenkungsausschuß an weiteren Protokollen zum Embryonenschutz, zur medizinischen Forschung, zur Organtransplantation und zur Humangenetik. Inzwischen ist bereits ein Zusatzprotokoll zum Verbot des Klonens von menschlichen Lebewesen erarbeitet, das seit einiger Zeit zur Zeichnung aufliegt. Im Blick auf dieses Zusatzprotokoll besteht auch bei entschiedenen Gegnern einer Unterzeichnung des Übereinkommens Verständnis für den Wunsch, die Bundesrepublik Deutschland möge das Protokoll mitzeichnen. Hieran ist die Bundesregierung jedoch rechtlich gehindert, da das Protokoll ausschließlich für die Signatarstaaten des Übereinkommens zur Unterzeichnung aufliegt (s. Art. 31 des Übereinkommens und Art. 4 des Protokolls zum Verbot des Klonens von menschlichen Lebewesen). Die Bundesregierung müßte also zunächst das Übereinkommen unterzeichnen, bevor sie dem Zusatzprotokoll beitreten könnte. Dieses Prinzip findet auch bei allen weiteren derzeit in Vorbereitung befindlichen Zusatzprotokollen Anwendung.

An der Mitberatung über spätere Änderungen des Übereinkommens und zusätzliche Protokolle ist die Bundesrepublik Deutschland allerdings auch dann nicht gehindert, wenn sie das Übereinkommen nicht unterzeichnet und ratifiziert. Art. 32 erlaubt es jedem Mitgliedstaat des Europarats, in dem einschlägigen Ausschuß vertreten zu sein. Offen bleibt, ob die Stimme derjenigen Staaten, die lediglich mitberaten, aber sich rechtlich nicht binden, auf die Dauer dasselbe Gewicht haben wird wie die Stimme der Vertragsstaaten.

Bewahrung des hohen deutschen Schutzniveaus: Ein Beitritt zum Übereinkommen darf nicht dazu führen, daß abweichende strengere Regelungen des deutschen Rechts gefährdet und aufgeweicht werden. Durch Art. 27 des Übereinkommens ist allerdings sichergestellt, daß sich das hohe deutsche Schutzniveau entsprechend den deutschen gesetzlichen Vorschriften in vollem Umfang auch bei einem Beitritt Deutschlands zum Übereinkommen erhalten und gewährleisten läßt. Die im Text des Übereinkommens festgelegten Bestimmungen sind als europäische Mindeststandards anzusehen. Sie lassen rechtlich bindendere bzw. strengere Vorschriften in den Vertragsstaaten ausdrücklich unberührt. Art. 27 des Übereinkommens regelt den sog. weiterreichenden Schutz. Diese Vorschrift sieht vor, daß keine der Bestimmungen des Übereinkommens so ausgelegt werden darf, daß sie die Möglichkeit einer Vertragspartei, einen über die Bestimmungen dieses Übereinkommens hinausreichenden Schutz zu gewähren, einschränkt oder in anderer Weise berührt.

Das Prinzip der Unberührtheit höherer rechtlicher Standards in den Zeichnerstaaten ist nicht auf dieses Abkommen beschränkt, sondern findet sich ebenso in der für die Staatengemeinschaft des Europarates konstitutiven Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, s. dort Art. 60). Bei der EMRK kann als unbestritten gelten, daß die dort festgelegten Menschenrechtsstandards einschließlich der in den Zusatzprotokollen geregelten Rechte deutlich hinter dem Standard der im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantierten Grund- und Menschenrechte zurückbleiben, ohne daß der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur EMRK mit Nivellierungstendenzen des Grundrechtschutzes verbunden gewesen wäre bzw. eine solche Entwicklung befördert hätte. Tatsächlich existiert auf der gemeinsamen Basis der EMRK eine vielfältige Abstufung unterschiedlich ausgestalteter Grundrechtsgarantien zwischen den Zeichnerstaaten, wobei die rechtlichen Standards in Deutschland zu den höchsten zählen.

  • Verbesserung des deutschen Schutzniveaus: Das Übereinkommen gibt Gelegenheit, das nationale Recht dann zu verbessern, wenn es hinter den Schutzbestimmungen des Übereinkommens zurückbleibt. So gehen die in dem Übereinkommen geregelten Standards in der Pflicht zur genetischen Beratung bei der Erhebung von prädiktiven genetischen Tests (Art. 12) über das deutsche Schutzniveau hinaus. Grundsätzlich besteht für jeden Zeichnerstaat die Möglichkeit, bei der Unterzeichnung oder Hinterlegung der Ratifikationsurkunde einen Vorbehalt gegen jede einzelne Bestimmung anzubringen, wenn ein im Hoheitsgebiet geltendes Gesetz nicht in Einklang mit dieser entsprechenden Bestimmung steht (s. Art. 36). Dies ist in diesem einzigen Bereich, in dem die derzeitige deutsche Rechtslage hinter dem Abkommen zurückbleibt, jedoch nicht zu erwarten. Im Gegenteil ergibt sich hier die Möglichkeit, im Hinblick auf die Erreichung der Standards des Übereinkommens eine Verbesserung der Informations- und Beratungsrechte von Patienten in Deutschland einzufordern und anzustreben.
         
  • Öffentliche Diskussion: Eine breite öffentliche Diskussion der grundlegenden Fragen über die Entwicklung in Biologie und Medizin, wie sie Art. 28 des Übereinkommens für die Vertragsparteien verbindlich vorsieht, ist anzustreben und kommt dem Bedürfnis vieler Menschen entgegen. Sie kann um so fruchtbarer sein, je breiter sie traditions- und kulturenüberschreitend geführt wird.

3. Vor allem an zwei Punkten zeigen sich bei der Anwendung der Kriterien auf den Text des Übereinkommens besondere und schwerwiegende Probleme:

a) Forschung an Embryonen in vitro (Art. 18)

Im Übereinkommen wird im ersten Absatz von Art. 18 die "Forschung an Embryonen in vitro" prinzipiell zugelassen, im zweiten jedoch "die Erzeugung menschlicher Embryonen für Forschungszwecke" strikt verboten. Der erste Absatz bindet die Forschung an das Prinzip eines "angemessenen Schutzes des Embryos", schließt aber Forschung, die Tod oder Schädigung des Embryos zur Folge hat, nicht eindeutig aus. So wäre z.B. Forschung mit Embryonen möglich, die etwa bei einer In-vitro-Fertilisation übrigbleiben.

In Deutschland gewährleistet das Embryonenschutzgesetz vom 1990 einen weitgehenden Schutz menschlicher Embryonen. Die evangelische Kirche hat sich in den 80er Jahren zusammen mit den anderen christlichen Kirchen mit Nachdruck für einen strengen gesetzlichen Schutz menschlicher Embryonen eingesetzt. Dabei hat sie sich, wie oben bereits kurz angesprochen, von dem Grundsatz leiten lassen: "Der Embryo ist individuelles Leben, das als menschliches Leben immer ein sich entwickelndes ist; die Anlage zur uneingeschränkten Ausübung des Menschseins ist in ihm von Anfang an enthalten; das ungeborene Leben hat ebenso wie das geborene Anspruch auf Schutz. Dann kann aber - wie bei anderen Humanexperimenten - Forschung am ungeborenen Leben nur insoweit gebilligt werden, wie sie der Erhaltung und der Förderung dieses bestimmten individuellen Lebens dient; man sollte in diesen Fällen von Heilversuchen sprechen. Gezielte Eingriffe an Embryonen hingegen, die ihre Schädigung oder Vernichtung in Kauf nehmen, sind nicht zu verantworten - und seien die Forschungsziele noch so hochrangig" (Gott ist ein Freund des Lebens, S. 64).

Das Übereinkommen bleibt im Blick auf den Embryonenschutz spürbar unter dem Standard des Embryonenschutzgesetzes von 1990. Von daher ist die Besorgnis groß, daß die Unterzeichnung und Ratifizierung des Übereinkommens eine "Sogwirkung" ausübt und die höheren deutschen Schutzstandards auf Dauer nicht eingehalten, sondern den niedrigeren Standards des Übereinkommens angepaßt werden. Es wird also befürchtet, daß nach dem Inkrafttreten des Übereinkommens in Deutschland ein Druck entsteht, das hohe deutsche Schutzniveau in Richtung auf den Mindeststandard zu reduzieren.

Dem kann entgegengehalten werden, daß sich auf der Grundlage von Art. 27 des Übereinkommens das hohe deutsche Schutzniveau entsprechend den deutschen gesetzlichen Vorschriften in vollem Umfang auch bei einem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen erhalten und gewährleisten läßt. Zudem ist zu berücksichtigen, daß eine "Sogwirkung" auch unabhängig von der Ratifizierung des Übereinkommens gegeben ist. Seit der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes wird von interessierter Seite immer wieder darauf hingewiesen, daß in anderen Ländern weniger restriktive Regelungen bestünden und eine solche Beeinträchtigung der Forschung in Deutschland überwunden werden müsse. Die "Sogwirkung" wird also nicht erst durch einen Beitritt zum Übereinkommen geschaffen. Ihr muß in jedem Fall energisch widerstanden werden.

b) Fremdnützige Forschung an einwilligungsunfähigen Personen (Art. 17 Abs. 2)

Das Übereinkommen erlaubt mit folgenden Einschränkungen fremdnützige Forschung an einwilligungsunfähigen Personen: wenn keine Alternativmethoden zur Verfügung stehen, der gesetzliche Vertreter seine Zustimmung gibt, die Risiken und Belastungen "minimal" sind, derselbe Eingriff nicht an einwilligungsfähigen Personen vorgenommen werden kann, eine Ethik-Kommission die ethische Vertretbarkeit des Forschungsprojekts gebilligt hat und das Forschungsprojekt Beiträge zu künftigen Heilungschancen erwarten läßt. Dies bedeutet, daß an Menschen, die aufgrund ihres Alters, ihrer Behinderung und Erkrankung nicht selbst in der Lage sind, ihre informierte Zustimmung zu geben, Interventionen ohne gesundheitlichen Nutzen für sie selbst vorgenommen werden dürfen. (Eine analoge Regelung trifft Art. 20 Abs. 2 für die Entnahme von Organen und Gewebe zu Transplantationszwecken.) Durch eine solche Forschung und die dabei gewonnenen Erkenntnisse haben also nicht die Betroffenen selbst, aber möglicherweise Personen, die von der gleichen Krankheit oder Störung betroffen sind, einen Nutzen.

Die fremdnützige Forschung an einwilligungsunfähigen Personen wird in dem Übereinkommen, wie dargestellt, nur unter stark eingrenzenden und präzisierenden Kautelen zugelassen. Aber es ist unübersehbar, daß auch so der - oben benannte - Grundsatz tangiert wird, wonach das menschliche Leben niemals bloß als Material und als Mittel zu anderen Zwecken genutzt werden darf.

Darum hat der kritische Einwand größtes Gewicht, daß in der Frage der fremdnützigen Forschung auch die kleinste Aufweichung verhängnisvolle Folgen haben kann. Die in dem Übereinkommen vorgesehene Regelung wird auf der Linie dieser Argumentation als "Dammbruch" bewertet. Demgegenüber komme es - in Übereinstimmung mit dem Arzneimittelgesetz, dem Nürnberger Kodex und der Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes - darauf an, den Anfängen zu wehren. Das Prinzip der Selbstbestimmung dürfe unter keinen Umständen - wie hochrangig die Forschungsziele auch sein mögen - relativiert werden.

Dem kann entgegengehalten werden, daß kranke Kinder, behinderte Menschen oder demente alte Menschen ohne die von dem Übereinkommen ermöglichte Forschung nicht in genügender Weise an therapeutischen Fortschritten teilhaben. Denn die Entwicklung von Therapien für bestimmte Krankheiten ist in Ausnahmefällen nur durch Erforschung der Ursachen der Krankheit und durch therapeutische Forschung mit solchen Personen möglich, die ihre Einwilligung zur Forschung nicht persönlich geben können. "Der Preis für das Beharren auf dem Prinzip (sc. der Selbstbestimmung)" - so läßt sich in diesem Sinne argumentieren - "bestünde darin, daß ein bestimmter Kreis von Patienten von der medizinischen Erforschung ihrer Krankheit ausgeschlossen bliebe. Dieser Kreis von Patienten, der schon durch die Erkrankung selbst benachteiligt sei, werde durch das Forschungsverbot noch einmal diskriminiert. Die Kranken hätten auf medizinischen Nutzen zu verzichten, und zwar aus Gründen, zu denen sie selbst nicht Stellung nehmen könnten. Die Maximen der ärztlichen Ethik leiten dazu an, den Patienten sowohl unmittelbar sowie durch die wissenschaftliche Forschung zu helfen. Für diejenige moralische Überzeugung, die in Kauf nimmt, einen bestimmten Kreis von Patienten aus dieser Forschung auszuschließen, würde offenbar diese Überzeugung schwerer wiegen als die Verpflichtung zur ärztlichen Hilfeleistung" (Dietrich Rössler). An dieser Stelle wird ein Dilemma sichtbar, das es offensichtlich erforderlich macht, die Debatte darüber fortzusetzen, ob sich nicht eine ethische und rechtlich vertretbare Lösung finden läßt, die therapeutische Fortschritte möglich macht, ohne die Menschenwürde von einwilligungsunfähigen Personen zu verletzen.

4. Welche Schlußfolgerung ist in der Frage einer Unterzeichnung und Ratifizierung des Übereinkommens durch die Bundesrepublik Deutschland zu ziehen? Innerhalb der evangelischen Kirche gibt es Stimmen, die Bundesregierung und Bundestag ausdrücklich dazu auffordern, dem Übereinkommen die Zustimmung zu verweigern und es nicht zu ratifizieren. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland sieht in dieser Position eine mögliche, jedoch nicht eine zwingende Folgerung aus den oben dargestellten Kriterien und Abwägungen. Vielmehr kann auf der Grundlage eben dieser Kriterien und Abwägungen mit beachtenswerten Gründen auch die Folgerung gezogen werden, unter bestimmten Bedingungen die Unterzeichnung und Ratifizierung des Übereinkommens durch die Bundesrepublik Deutschland zu befürworten. Dabei müßte in jedem Fall berücksichtigt werden:

  • In dem Übereinkommen geht es um elementare Rechtsgüter, die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland höchsten Rang erhalten haben: den Schutz des menschlichen Lebensrechts und den Schutz der menschlichen Würde. Im Hintergrund stehen die vielfältigen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche und nichtstaatliche Institutionen, die wesentliches Merkmal des "Dritten Reiches" waren. Das darf jedoch nicht dazu führen, diese Erfahrungen als mittlerweile überholte zu einem "deutschen Trauma" abzuwerten, wie das gelegentlich geschieht. Vielmehr müßte anerkannt werden, daß Erfahrungen mit solchem Unrecht, das ja vielfältig auch anderen Völkern und Menschen angetan wurde, in Hinsicht auf den Schutz des Lebensrechts und der Würde des Menschen besonders sensibel machen sollten.
         
  • Die Entscheidung über Unterzeichnung und Ratifizierung des Übereinkommens bedarf darum um so mehr einer gewissenhaften, von jedem und jeder persönlich zu verantwortenden Urteilsbildung. Die Kriterien und Abwägungen, die hier vorgetragen wurden, sind eine Anleitung und Hilfe zu dieser Urteilsbildung.
         
  • Die hohen Standards, die in der Bundesrepublik Deutschland beim Schutz des menschlichen Lebensrechts und der menschlichen Würde, insbesondere beim Schutz von menschlichen Embryonen, gelten, dürfen durch eine mögliche Unterzeichnung und Ratifizierung auf keinen Fall zur Disposition gestellt oder gefährdet werden. In diesem Zusammenhang genügt es nicht, auf den in Art. 27 des Übereinkommens grundsätzlich garantierten weiterreichenden Schutz lediglich zu verweisen. Der Deutsche Bundestag sollte im Falle einer Ratifizierung eine Selbstverpflichtung vornehmen und die feste Absicht zur Bewahrung der bestehenden hohen Standards ausdrücklich bekräftigen.
         
  • Die Ausarbeitung von Protokollen gemäß Art. 31 des Übereinkommens gibt Gelegenheit, zu einer Verbesserung des Schutzes des menschlichen Lebensrechts und der menschlichen Würde beizutragen. Diese Gelegenheit sollte entschlossen und beharrlich genutzt werden.

Bonn, 24. März 1998