Religiöse Orientierung gewinnen

Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, November 2014

Einleitung

Religiöse Orientierung zu gewinnen wird heute wichtiger und schwieriger zugleich. Kinder und Jugendliche begegnen von früh auf einer religiösen und weltanschaulichen Vielfalt, die noch weiter zuzunehmen scheint. Gerade auch vor der Schule macht diese Vielfalt nicht halt. Kinder und Jugendliche bringen unterschiedliche Herkünfte, Prägungen und Orientierungen mit. Zu der heute im Blick auf Schule und Unterricht zu Recht hervorgehobenen Heterogenität tritt deshalb von Anfang an auch die religiöse und weltanschauliche Pluralität. Wie sich Schule und Unterricht auf die Pluralität einstellen und wie sie mit der veränderten Situation umgehen, ist noch immer eine weithin offene Frage. Die vorliegende Denkschrift will zeigen, wie die religiöse und weltan-schauliche Pluralität in Schule und Bildung in reflektierter Form wahrgenommen werden kann. Dabei soll deutlich werden, dass der Religionsunterricht als ein Schulfach, das sich in zentraler Weise mit dieser Pluralität auseinandersetzt, auf grundlegende Aufgaben von Schule und Bildung bezogen ist und einen wichtigen Beitrag zu deren Bearbeitung leisten kann.

Die Bearbeitung der Pluralität muss sich von beidem leiten lassen: von der Suche nach Gemeinsamkeit als dem trotz aller Vielfalt Verbindenden und der Bereitschaft, auch nicht auflösbaren Unterschieden gerecht zu werden. Beide Prinzipien sind sowohl pädagogisch als auch theologisch begründet. Die Fähigkeit, sich konstruktiv mit religiöser und weltanschaulicher Pluralität auseinanderzusetzen, beruht auf der Einsicht in Gemeinsamkeiten, die alle Menschen einschließen, aber auch auf dem Bewusstsein der bleibenden Bedeutung unterschiedlicher Lebensorientierungen und Glaubensüberzeugungen. Der doppelten Orientierung an Gemeinsamkeit und Differenz entspricht das Bildungsziel einer Pluralitätsfähigkeit, die profilierte religiöse Bildung voraussetzt.

Die Bewältigung der mit der religiösen und weltanschaulichen Vielfalt verbundenen Aufgaben reicht notwendig über den Religionsunterricht hinaus. Sie berührt immer auch Religion im Schulleben, in der Schulentwicklung und im Schulprofil. Schule und Religionsunterricht stehen hier vor gemeinsamen Aufgaben. Über den Religionsunterricht kann heute nicht mehr geredet werden, ohne über die Schule insgesamt zu reden — und umgekehrt.

Religionsunterricht, wie er hier verstanden wird, trägt zur Bildung religiöser Sprach- und Orientierungsfähigkeit bei. Er unterstützt den Erwerb interreligiöser und interkultureller Kompetenzen sowie den Zusammenhang von Rationalität und Religion. Dabei erreicht er auch Kinder und Jugendliche aus Elternhäusern, die sonst nur wenig Kontakt zu Kirche oder religiösen Institutionen haben.

Besonders ein Religionsunterricht, der in konfessionsbezogenen Gruppen erteilt wird, erscheint vielen jedoch als Relikt aus der Vergangenheit. Nicht wahrgenommen werden dann die Integrationsleistungen, die ein Religionsunterricht erbringt, der auf einen produktiven Umgang mit Differenz eingestellt ist und deshalb konfessionelle und religiöse Unterschiede nicht übergeht. Stattdessen wird unterstellt, ein solcher Unterricht stehe einem toleranten gemeinsamen Lernen im Wege. Der evangelische Religionsunterricht versteht sich jedoch als ein dialogisch offenes pädagogisches Angebot und strebt ausdrücklich die Kooperation mit dem Unterricht anderer Religionsgemeinschaften an.

Inzwischen kommt die religiöse und weltanschauliche Pluralität auch in der Gestalt des Religionsunterrichts selbst zum Ausdruck. Neben den gewohnten evangelischen und katholischen sowie punktuell auch orthodoxen Religionsunterricht treten weitere Angebote. Der jüdische Religionsunterricht ist bereits seit längerer Zeit als ordentliches Lehrfach anerkannt. Derzeit werden in einem Teil der Bundesländer Schritte unternommen, die letztlich auf einen flächendeckend angebotenen islamischen Religionsunterricht zielen. Insofern müssen sich heute alle Aussagen zu Religionsunterricht und Schule der Fragen bewusst sein, die aus einem nunmehr vielgestaltigen religionsunterrichtlichen Angebot erwachsen. Aufgrund ihrer rechtlichen und politischen Verantwortung hat die evangelische Kirche besonders den evangelischen Religionsunterricht im Blick. Primär auf ihn beziehen sich die folgenden Aussagen, und über dieses Fach hinausgehende Erwartungen werden eigens gekennzeichnet.

Die vorliegende Denkschrift hält im Kern an den besonders in der Denkschrift „Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität“ von 1994 sowie in den „10 Thesen zum Religionsunterricht“ von 2006 vorgezeichneten Grundlinien fest, indem sie den Religionsunterricht im Horizont der schulischen Bildungsaufgaben versteht und sich für einen konfessionell-kooperativen, dialogisch ausgerichteten Religionsunterricht einsetzt. Auch die damals geforderte Kooperation mit dem Ethikunterricht ist weiterhin zu bejahen. Inzwischen hat sich allerdings gezeigt, dass die dialogische Ausrichtung ebenso im Blick auf andere Religionen und Weltanschauungen wahrgenommen und theologisch verantwortet werden muss. Inso-fern geht es nun um einen auch über die christliche Ökumene hinaus pluralitätsfähigen Religionsunterricht. Damit reicht die vorliegende Denkschrift theologisch und pädagogisch über die früheren Veröffentlichungen hinaus, indem sie theologisch auf die inzwischen deutlich veränderte religiöse und weltanschauliche Situation in unserer Gesellschaft Bezug nimmt und pädagogisch mit dem Bildungsziel der Pluralitätsfähigkeit klarer herausarbeitet, was religiöse Bildung im Sinne einer der Unterstützung von Toleranz und Frieden verpflichteten gesellschaftlichen Verantwortung gerade auch angesichts gesellschaftlicher Konflikte bedeutet.

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