Konfessionell-kooperativ erteilter Religionsunterricht

Grundlagen, Standards und Zielsetzungen. EKD-Texte 128, Februar 2018, ISBN 978-3-87843-051-3

Grundlagen

Die Gestaltung der religiösen Bildung in einer pluralistischen Gesellschaft ist von großer Bedeutung für das Zusammenleben heute und in der Zukunft. Die öffentliche Schule, insbesondere der Religionsunterricht, ist ein zentraler Ort für religiöses Lernen und religiöse Orientierung. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat in seiner Denkschrift »Religiöse Orientierung gewinnen"[1] Perspektiven für einen auf Pluralitätsfähigkeit ausgerichteten Religionsunterricht aufgezeigt und dabei den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht als eine zukunftsweisende Entwicklungsmöglichkeit dargestellt. Mit den vorliegenden Grundlagen, Standards und Zielsetzungen des konfessionell-kooperativ erteilten Religionsunterrichts werden diese Überlegungen aufgenommen und Impulse für die konkrete Weiterentwicklung der Kooperation gegeben. Sie wenden sich an die in den Kirchen, Schulen, Schulverwaltungen und in der Lehrerbildung für den Religionsunterricht Verantwortlichen. Dem kommt entgegen, dass die Deutsche Bischofskonferenz die Möglichkeit eröffnet hat, in den einzelnen Diözesen die konfessionelle Kooperation im Religionsunterricht weiterzuentwickeln.[2] Es ist zu begrüßen, wenn in den Bundesländern Vereinbarungen zwischen den zuständigen Bistümern und Landeskirchen zur konfessionellen Kooperation bestehen bzw. getroffen werden. Die hier formulierten Grundlagen, Standards und Zielsetzungen benennen den dafür notwendigen Rahmen, der im Interesse der Qualitätssicherung und der weiteren didaktischen und theologischen Profilierung regional ausgestaltet werden kann.[3]

Grundlagen

  1. Religion ist eine Lebensressource für Menschen. Auch wenn Religion eine sehr persönliche Angelegenheit ist, prägt sie entscheidend die Identität des Menschen, seine Lebensführung, seine Überzeugungen und Handlungen. Damit hat sie vielfältige Auswirkungen auf die Gesellschaft und das gesellschaftliche Leben. Religion ist eine persönliche Angelegenheit, aber keine Privatsache allein. Religiös-kulturelle Prägungen und Einstellungen spielen im alltäglichen Miteinander der Gesellschaft, auch in der Schule, eine Rolle. Gerade die zunehmende Pluralität von Religionen und Kulturen stellt die Kirchen vor besondere gesamtgesellschaftliche Herausforderungen und Aufgaben. In einer sich immer stärker inklusiv verstehenden Schule gilt es, die Gemeinschaft der Verschiedenen unter Beachtung dessen, was Menschen heilig ist, zu gestalten, damit das Zusammenleben gelingt. Dies ist ein wesentlicher Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Integration. Religiöse Bildung bekommt eine noch größere Bedeutung vor dem Hintergrund dieser Aufgabe.
    Religiös-ethische Bildung ist ein Modus der Weltbegegnung (Baumert, Dressler), der durch keinen anderen ersetzbar ist. Sie braucht einen Platz in der Schule. Der bekenntnisgebundene Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an allen Schulen mit seiner authentischen Begegnung mit der jeweiligen Konfession oder Religion leistet in dieser Situation einen unverzichtbaren Beitrag zur religiösen Identitätsbildung und Orientierung sowie zu Sprach- und Dialogfähigkeit. So kommt dem bekenntnisorientierten Religionsunterricht eine wichtige Funktion innerhalb des schulischen Bildungskanons im Blick auf die notwendige Pluralitäts- und Dialogfähigkeit jedes Einzelnen zu.
     
  2. Die religiöse, konfessionelle und weltanschauliche Pluralität unserer Gesellschaft wie auch von Kindern und Jugendlichen nimmt weiterhin zu. Der demografische Wandel bringt eine sinkende Schülerzahl verbunden mit einer Abnahme von christlich-konfessionell gebundenen Schülerinnen und Schülern mit sich. Auch wenn gegenwärtig die Schülerzahlen wieder steigen, nimmt damit im Wesentlichen die Zahl der Schülerinnen und Schüler zu, die einer anderen Religion als der christlichen oder keiner Religionsgemeinschaft angehören. Dies hat Konsequenzen für den vom Grundgesetz geforderten und garantierten konfessionellen Religionsunterricht. Der konfessionell-kooperativ erteilte Religionsunterricht trägt diesen Veränderungen und gesellschaftlichen Herausforderungen Rechnung[4] und ist als eine Regelform des konfessionellen bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts zu verstehen. Er leistet eine sachgemäße Ausgestaltung des bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts nach Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG).
     
  3. Schule ist gesellschaftlich ein besonderer Ort für das Zusammenlernen und -leben von Menschen unterschiedlicher Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen. Gegenwärtiges Leitmotiv schulischen Handelns ist die Inklusion in einem umfassenden Sinn, um so die Pluralität konstruktiv aufzugreifen und zugleich Gemeinschaft zu stiften. Der Umgang mit den unterschiedlichen Konfessionen und Religionen in Schule hat zur Entwicklung einer Schulkultur geführt, zu der die Bearbeitung von Themen und die Entwicklung einer religiösen Praxis gehören, die möglichst allen Schülerinnen und Schülern Gelegenheit gibt, sich mit ihrer eigenen Konfession oder Religion einzubringen. Die religiöse Praxis bietet dabei auch die Chance zur reflexiven Durchdringung eigener und fremder Religion. Religiöse Angebote sind grundsätzlich offen für alle Schülerinnen und Schüler. An der Gestaltung der Schulkultur hat der konfessionelle Religionsunterricht auch in seiner konfessionell-kooperativen Gestalt aktiv mitzuwirken und er hat selbstverständlich an diesem schulischen Weg teil.
     
  4. In einer sich religiös, kulturell und politisch immer mehr ausdifferenzierenden und hoch individualisierten Gesellschaft kommt der Schule als Ort der gelebten und erlebten (Klassen-)Gemeinschaft von sehr unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern eine besondere Bedeutung zu. Individualität braucht zu ihrem Gelingen Sozialität, erfahrbare Gemeinschaft in aller Verschiedenheit, auch in der unterschiedlichen Religionszugehörigkeit. Religiöse Pluralität löst im öffentlichen Raum oft Unsicherheit aus. Sie wird als störend, konfliktreich und in Ausnahmefällen sogar als gefährlich verstanden. In der Folge werden religiöse Positionen aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung gedrängt, auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert oder durch die Überbetonung von „Gemeinsamkeiten“ „neutralisiert“. Von Skepsis und Distanz geprägte Denkweisen und Haltungen sind gerade bei Verantwortlichen im Schulbereich vermehrt zu beobachten. Sie zeigten sich auch in der Forderung nach einem verbindlichen werteorientierenden Fach „für alle“ und der Kritik an der „Aufteilung“ von Schülerinnen und Schülern nach Bekenntnissen und Religionen. Es ist allerdings ein Trugschluss zu unterstellen, dass es „eine“ Werteorientierung „für alle“ gäbe und „religiöse Grundlagen“ bzw. einen „religiösen Kern“, der für alle Religionen gilt. Vielmehr gilt es, die unterschiedlichen Wertvorstellungen, Wahrheitsansprüche und religiösen Praxen angemessen in ihrer Unterschiedlichkeit von einer bekenntnis- und weltanschaulich transparenten Position her den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln. Gerade die Pluralität ist eine Herausforderung und macht den Dialog zwischen den Religionen und Weltanschauungen zur ständigen Aufgabe. Religiöse und interreligiöse Bildung dienen dazu, die Religionen intensiv aus der jeweiligen Binnensicht zu betrachten, gerade auch die jeweiligen Wahrheitsansprüche und die grundlegenden Überzeugungen. Auf der Basis von im Dialog zu benennenden Gemeinsamkeiten und Differenzen können dann gemeinsame Wege gefunden werden, wie ein dem Frieden, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung dienendes Handeln der Religionen und Weltanschauungen entwickelt werden kann.
     
  5. Obwohl einerseits versucht wird, Religion aus dem öffentlichen Raum von Schule zu drängen, den bekenntnisgebundenen Religionsunterricht durch ein werteorientiertes Fach „für alle“ abzulösen, gibt es dennoch andererseits an vielen Schulen eine „Religion in der Schule“, deren gelebte Praxis sich sehr unterschiedlich gestaltet. Teilweise ist diese Praxis von einem »zivilreligiösen Charakter« geprägt und wird mit religiösen Versatzstücken gestaltet; es kommt vielfach zu einem multireligiösen Neben- oder Miteinander von religiösen Vorstellungen und Ritualen. Eine solche Praxis gelebter »Religion in der Schule“ steht in Spannung zum Selbstverständnis der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften, die das Darstellen und Leben ihrer eigenen Perspektive in den Vordergrund stellen. Der konfessionell-kooperative Religionsunterricht gestaltet in dieser Situation für evangelische und katholische Schülerinnen und Schüler und mit ihnen das religiöse Leben an der Schule bewusst mit und zielt auf wechselseitige Wahrnehmung und gegenseitige Verständigung. Dabei nehmen Lehrkräfte und Schüler einen profilierten Standpunkt ein, der auch die Differenzen zu den nicht christlichen Religionen aufzeigt und sich zugleich intensiv um den Dialog mit allen bemüht: „… so ist es primär die erzieherische Aufgabe der Schule, ein tolerantes Miteinander der Schülerinnen und Schüler mit ihren vielfältigen religiösen und weltanschaulichen Orientierungen einzuüben und die Achtung vor der Überzeugung von Menschen anderer Herkunft, Religion und Weltanschauung zu fördern.“[5]
     
  6. Räume der Stille bzw. Andachtsräume, Gottesdienste und multireligiöse Feiern, Schulseelsorge bzw. Schulpastoral sowie Angebote im Ganztagsbereich, Exkursionen und Freizeiten erweitern den Resonanzraum gegenwärtig insbesondere der christlichen Konfessionen in Schule und sind vielfach von ökumenischer Zusammenarbeit, in Ansätzen auch von multireligiöser Zusammenarbeit geprägt.
     
  7. Das Bekenntnis von Jesus Christus ist in einer pluralen Welt – nicht nur an Schule, aber hier in besonderer Weise – auf Ökumene angewiesen. Dieses Bekenntnis kann nur aus der Binnenperspektive theologisch und nicht religionswissenschaftlich sachgemäß und authentisch dargestellt werden. Der konfessionell-kooperative Religionsunterricht hebt dabei die konfessionellen Unterscheidungen nicht auf, im Gegenteil, er reflektiert sie explizit. Damit ist er Ausdruck gelebter „Ökumene“, wobei die erfolgte Taufe der evangelischen und katholischen Schülerinnen und Schüler ein sichtbares Zeichen dieser ökumenischen Verbundenheit darstellt.[6]
     
  8. Die evangelischen Kirchen und die katholische Kirche sind sich bewusst, dass der schulische Religionsunterricht nicht die Funktion haben kann, die familiäre religiöse Erziehung nachzuholen oder Kinder und Jugendliche in einer Religion oder Konfession zu beheimaten. Mit dem Religionsunterricht wird nicht die Verkündigung an den Ort der Schule verlagert. Der Religionsunterricht ist integraler Bestandteil des schulischen Bildungsauftrags. Zugleich hat der Religionsunterricht eine sozialisierende Wirkung, ohne dass er kirchlich „enggeführt“ ist. Der Evangelische Religionsunterricht ist wie der Katholische Religionsunterricht nach Artikel 7 Absatz 3 GG und nach den Schulgesetzen der einzelnen Bundesländer[7] ordentliches Lehrfach, für das Staat und Kirche gemeinsame Verantwortung tragen. Er wird „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ (Artikel 7 Absatz 3 GG) erteilt. Den Religionsgemeinschaften obliegt also die Aufgabe sicherzustellen, dass der von ihnen mitverantwortete Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der jeweiligen Religionsgemeinschaft erteilt wird.
     
  9. Der konfessionell-kooperativ erteilte Religionsunterricht ist im Sinne von Abs. 8 schulrechtlich Religionsunterricht der Religionsgemeinschaft, der die unterrichtende Lehrkraft angehört.
     
  10. Der konfessionelle Religionsunterricht, auch in der konfessionell-kooperativ erteilten Form, ist grundsätzlich offen für Schülerinnen und Schüler, die nicht der evangelischen oder der katholischen Kirche angehören, sofern sie selbst als religionsmündige Schülerinnen und Schüler oder Eltern nicht religionsmündiger Schülerinnen und Schüler die Teilnahme am konfessionellen Religionsunterricht wünschen. Mit der Teilnahme verbunden ist die Benotung der erbrachten Leistung im Zeugnis.
     
  11. Gemeinsam haben die evangelischen Kirchen und die katholische Kirche festgehalten, „dass konfessioneller Religionsunterricht immer auch in ökumenischem Geist erteilt wird.“[8]
     
  12. Der konfessionell-kooperativ erteilte Religionsunterricht ist eine eigenständige Regelform des konfessionellen Religionsunterrichts im Sinne von Artikel 7 Absatz 3 GG. Damit sollen weder Defizite in der Versorgung einer Schule mit Religionslehrkräften behoben noch schulorganisatorische Erleichterungen geschaffen werden.
    In den letzten ca. 20 Jahren haben sich unterschiedliche Modelle von konfessioneller Kooperation bewährt. Auf dieser Basis sollen mittelfristig für die Einrichtung und Durchführung eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts folgende Standards verbindlich werden:


Fußnoten

1 Vgl. Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitäts­fähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2014.

2 Vgl. Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts. Empfehlungen für die Kooperation des katholischen mit dem evangelischen Religionsunterricht; hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofs­konferenz (Die deutschen Bischöfe Nr. 103), Bonn 2016.

3 Vgl. weitere aktuelle Veröffentlichungen: Religionsdidaktik im Dialog – Religionsunterricht in Kooperation, hg. von Manfred L. Pirner/Andrea Schulte, Jena 2010; Faber, Eva-Maria: Ist Konfessionalität zu Ende?
Zum Bedeutungsverlust der Konfessionen, in ThPQ 161 (2013), 29-32; Kenngott, Eva-Maria/Englert, Rudolf/Knauth, Thorsten (Hg): Konfessionell – interreligiös – religionskundlich. Unterrichtsmodelle in der Diskussion, Stuttgart 2015; Link-Wieczorek, Ulrike: Die Kirchen und die Konfession: Zum konfessionellen Verständnis des konfessionellen Religionsunterrichts, in ÖR 63 (1/2014), 7-26; Lück, Christhard/Simon, Werner: Konfessionalität und ökumenische Ausrichtung des Religionsunterrichts, in: Michael Kappers u. a. (Hg.), Trennung überwinden. Ökumene als Aufgabe der Theologie (Theologische Module 2), Freiburg 2007, 138-208; Schröder, Bernd: Was heißt Konfessionalität des Religionsunterrichts heute? Eine evangelische Stimme, in: Ders. (Hg.) Religionsunterricht wohin? Modell seiner Organisation und didaktischen Struktur, Neukirchen-Vluyn 2014, 163-178; Woppowa, Jan: Grundlegung einer Didaktik der konfessionellen Kooperation im schulischen Religionsunterricht, in: Ders. (Hg.), Perspektiven wechseln, Lernsequenzen für den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, Paderborn 2015, 5-17; Englert, Rudolf: Warum kein Religionsunterricht für alle? Der besondere Reiz des konfessionellen Models, in HerKorr 67 (2013) Spezial 2, 23-27; Feige, Andreas/Tzscheezsch, Werner: Christlicher Religionsunterricht im religionsneutralen Staat? Unterrichtliche Zielvorstellungen und religiöses Selbstverständnis von evangelischen und katholischen Religionslehrerinnen und -lehrern in Baden-Württemberg, Ostfildern 2005; Hartmut Rupp/Stefan Hermann (Hg.): Religionsunterricht 2020, Stuttgart, 17-26.

4 Gegenwärtig gibt es den konfessionell-kooperativ erteilten Religionsunterricht als eine Regelform des konfessionellen Religionsunterrichts – durch eine entsprechende Vereinbarung bzw. einen Erlass geregelt – in Baden-Württemberg und Niedersachsen. In einigen Bundesländern gibt es Modell- bzw. Schulversuche.

5 Religiöse Orientierung gewinnen, S. 108.

6 In diesem Sinne kann es auch zur Zusammenarbeit und Kooperation mit dem an einzelnen Standorten eingeführten orthodoxen Religionsunterricht kommen.

7 Von der Geltung des Artikel 7 Absatz 3 GG sind mit Artikel 141 GG die Bundesländer Berlin und Bremen ausgenommen.

8 Die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht (1998), S. 2.

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