Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen

1. Die Religionen als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft

Die Zahl der Menschen in Europa, die einer anderen als der christlichen Religion zugehören, ist ständig im Wachsen. Das wirft für das Verhältnis der Kirchen zu den nichtchristlichen Religionen und für das Zusammenleben von Christen und Menschen aus anderen Religionen auch in Deutschland besondere theologische und ethische Probleme auf. Diese Probleme hängen mit den Fragen zusammen, welche die religiöse Situation in der pluralistischen Gesellschaft heute überhaupt kennzeichnen: Die Praxis anderer Religionen gesellt sich zum Erscheinungsbild einer neben den Kirchen in vielfältiger Weise auftretenden Religiosität. Auf dem Boden religiöser Individualisierung und einer sich neuen religiösen Bewegungen öffnenden Frömmigkeit gedeiht die Faszination durch fremde Religionen, Spiritualitäten und Kulte. Das fordert die Kirche heraus, ihr Verhältnis zu anderen Religionen theologisch zu klären – eine Herausforderung, deren Dringlichkeit in den religionsphilosophischen Diskursen der von der Aufklärung bestimmten Theologie, aber auch unter dem Einfluss der frühen „dialektischen Theologie“ nicht hinreichend wahrgenommen wurde. Die römisch-katholische Kirche hat sich auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil dieser Herausforderung mit bemerkenswerten Überlegungen zu stellen versucht.

Zur theologischen Klärung des Verhältnisses der christlichen Kirche zu den Angehörigen anderen Religionen gehört eine gründliche Kenntnis dieser anderen Religionen, die in der Regel eine lange Geschichte in anderen Teilen der Welt haben – eine Geschichte, die man verstehen muss, wenn man sich zu den Angehörigen anderer Religionen in ein angemessenes Verhältnis setzen will. Diese Religionen sind mit anderen Kulturen verwoben. Die Folge ist, dass das Verhalten ihrer Angehörigen in unserer Gesellschaft als fremdartig wahrgenommen wird. Vor allem aber sind in den anderen Religionen andere Grundanschauungen von der Wirklichkeit im Ganzen, von der Welt und vom Menschen und nicht zuletzt von Gott und vom Göttlichen zu Hause, die auf anderen Gewissheiten beruhen als der christliche Glaube.

Das Befremdende des Auftretens von Menschen anderer Religionen muss nüchtern wahrgenommen werden. Es verunsichert Christen und Gemeinden, weil ihnen hier neben den Sorgen, welche ihnen die weitgehende Gottvergessenheit der säkularen Gesellschaft bereitet, nun auch noch eine konzentrierte religiöse Infragestellung ihres Glaubens gegenüber tritt. Es schafft zudem gesellschaftliche Beunruhigung, weil das Befremdende anderer Religionen auch rechtliche Selbstverständlichkeiten unserer Gesellschaft berührt (Tierschutz, Eherecht, Wehr- und Zivildienst). Die Regelung des von den geltenden sozialen Normen abweichenden Verhaltens wird so zu einer problemgeladenen Aufgabe. Man denke nur an die Frage, wie der öffentlichen Rolle von anderen Religionen im Bereich der Bildung angemessen Rechnung getragen werden kann!

Auch die entzweiende Wirkung der Religionen, wie sie in vielen Konflikten manifest wird, ist nicht übersehbar. Sind die schrecklichen Terrorakte des 11. September 2001 und die vielfältigen Erscheinungsformen von Antisemitismus nicht Geist vom Geiste der Religionen? Ist der christliche Glaube frei davon? Die dunklen Seiten der Religionen wie z. B. die Rechtfertigung von Religionskriegen und die aus religiösem Fanatismus hervorgehende Missachtung der Menschenrechte bilden zweifellos einen gravierenden Störfaktor für das friedliche Zusammenleben der Menschheit. Wächst auf dem Boden der Religionen nicht Intoleranz und Konkurrenzdenken, so dass die Religionen an immer mehr Orten der Welt in konfliktträchtiger Vielfalt auftreten und gerade im Zeitalter der Globalisierung keineswegs eine die Menschheit verbindende Rolle spielen? Der Einfluss von Religionen auf Menschen und Völker sei einzudämmen, um überall den gesellschaftlichen Frieden zu wahren, lautet deshalb eine verbreitete religionskritische Forderung.

Den problematischen Seiten der Religionen steht ihr unbestreitbarer Reichtum gegenüber, der sich in bewunderungswürdigen geistigen und kulturellen Schöpfungen sowie in einer durch lange Zeiten gereiften Erfahrung im Menschlichen auszeichnet. In jeder Religion können Dimensionen der religiösen Überzeugung und Praxis entdeckt werden, die in anderer Weise auch zum christlichen Glauben gehören. Die Verehrung eines Gottes oder des Göttlichen in Kultus und Gebet, in ästhetischer Darstellung und ethischem Verhalten teilt der christliche Glaube mit den Religionen. Das erklärt, warum auch er zu ihnen gezählt wird. Steckt in der Nachbarschaft des christlichen Glaubens zu den Religionen darum nicht auch ein Potential gemeinsamer, verständigungsoffener religiöser Erfahrung, die dem Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen in unserer Gesellschaft zugute kommen kann?

Innerhalb wie außerhalb der christlichen Kirchen bestehen in dieser Hinsicht jedenfalls auch große Erwartungen an die Religionen. Es wird ihnen zugetraut, dass sie eine humane Gesinnung zu fördern und mit ihrer religiösen Praxis den Gesellschaften, in denen sie wirken, Achtung vor dem Humanum einzuprägen vermögen. Der „Dialog der Religionen“, der von vielen Seiten eingefordert wird, hätte sich vor diesem Hintergrund vor allem auf das gemeinsam Menschliche als das eigentlich Verbindende zwischen den Religionen zu konzentrieren. Das ist angesichts der Zerrissenheit unserer Welt überaus wünschenswert, stellt sich aber gegenüber der Realität der Religionen leider als ein ziemlich abstrakter Wunsch dar.

Schon die Annahme, die diesem Bestreben zugrunde liegt, dass sich nämlich in oder hinter der geschichtlichen Vielfalt gelebter Religionen die alle Religionen verbindende wahre Religion oder der „von Natur aus“ religiöse Mensch manifestiere, ist ein abstraktes Postulat. Die geschichtliche Besonderheit einer Religion kann nicht auf ein allgemeines gesellschaftliches Erfordernis oder eine authentische religiöse Anlage des Menschen reduziert werden. Eine solche in der Tradition der Aufklärung stehende Betrachtungsweise unterschätzt die spezifische Bestimmtheit der Religionen. Auch das Humanum oder die humanen Werte begegnen in einer bestimmten Religion niemals neutral. Sie sind vielmehr durch eben diese Religion geprägt. Wenn Frauen Kopftücher tragen oder sich ganz verschleiern müssen, dann äußert sich darin das dieser Religion eigene Verständnis des Humanum! Was menschlich ist, stellt sich also zwischen den verschiedenen Religionen so verschieden dar, wie sie selbst voneinander verschieden sind. Es gehört darum auch zu dem, was zwischen den Religionen selbst strittig ist.

Hinzu kommt, dass außereuropäische Religionen die ganze Frage nach dem Humanum in den Religionen keineswegs immer als so neutral empfinden, wie sie gemeint ist. Oft sehen sie in der These von dem alle Religionen verbindenden Humanum eine auf dem Boden des Christentums entstandene Anmaßung. Nicht die Suche nach solcherart Gemeinsamem, sondern die gegenseitige Pflege und Achtung der Differenzen der verschiedenen Religionen wird dann als der richtige Weg empfohlen, der religiöse Konflikte vermeiden hilft.

Angesichts dieses Bündels von lokalen und globalen Problemen und ihrer Bearbeitung von vielen (gesellschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen) Seiten her sind die christlichen Kirchen herausgefordert, ihr Verhältnis zu den Religionen theologisch zu klären. Ansätze dazu bilden die vom Rat der EKD im Jahr 2000 publizierte Handreichung Zusammenleben mit Muslimen und seine drei Studien Christen und Juden I-III aus den Jahren 1975, 1991 und 2000. Doch diese Texte bedürfen einer sie ergänzenden, sich auf die Fundamente richtenden Perspektive. Die für viele Christen verwirrende Situation des Zusammenlebens mit Menschen, die eine andere Religion haben, macht es erforderlich, den Gemeinden mit Orientierungen in diesem Verhältnis zu helfen. Zugleich wird von den Kirchen mit Recht erwartet, dass sie besonders intensiv auf andere Religionen eingehen. Von den kirchlichen Institutionen sollen Impulse für Gesellschaft und Politik ausgehen, die dem Frieden unter den Menschen dienlich sind.

Die Evangelische Kirche in Deutschland stellt sich dieser Herausforderung, indem sie theologische Leitlinien formuliert, die helfen sollen, ein gedeihliches Verhältnis zwischen Menschen mit einem jeweils anderen Glauben zu fördern. Natürlich ist es in diesem Rahmen nicht möglich, die vielfältigen Probleme im Einzelnen zu erörtern, die sich konkret stellen, wenn es z. B. um die – noch dazu in sich mannigfach differenzierte – buddhistische, hinduistische, muslimische oder eine afrikanische Religion geht. Aber solche Leitlinien aus der Perspektive evangelischer Theologie können doch eine Ermutigung für die christlichen Gemeinden und die Gesellschaft werden, das Verhältnis zwischen den Religionen und den Menschen, die ihnen anhängen, als ein zukunftsträchtiges Verhältnis zu begreifen.
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