Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen

3. Die Religionen im Licht christlich-theologischer Leitdifferenzierungen

Gott begegnet in der christlichen Glaubenserfahrung als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Darum sind mit dem evangelischen Verständnis von Religion zugleich drei Dimensionen des Unterscheidens zwischen dem, was Gott tut, und dem, was Menschen tun, gegeben. Sie werden hier als andauernd aufgegebene Leitdifferenzierungen verstanden, die auf das Verhältnis der christlichen Religion zu den anderen Religionen angewandt werden. Es geht

  • um die theologische Grunddifferenzierung zwischen Gott und Mensch bzw. zwischen Gott und seiner Schöpfung, die allen Versuchen des Menschen, „wie Gott zu sein“, entgegen steht,

  • um die christologische Konkretion dieser Grunddifferenzierung, in welcher der gnädige Gott die sündigen Menschen annimmt, obgleich sie sich der Anmaßung, „wie Gott zu sein“, durch maßlose quasi-göttliche und menschenunwürdige Taten schuldig gemacht haben,

  • und um die pneumatologische Konkretion dieser Grunddifferenzierung, in welcher der Heilige Geist Menschen befähigt, dem Evangelium von der zuvorkommenden Gnade Gottes in allen Lebenszusammenhängen das erste Wort zu geben und alle menschliche Daseinsäußerungen von daher zu verstehen.

Im Vollzuge dieser Leitdifferenzierungen werden Christen sich in ihrem Leben selbst verständlich. So begegnen sie auch Menschen, die einer anderen Religion anhängen, und den religiösen Überzeugungen, die in dieser Religion wirksam sind. Was das für die Begegnung des christlichen Glaubens mit anderen Religionen, mit den Menschen, die in ihnen leben, für die Orientierung der christlichen Gemeinden und für den Umgang mit Menschen anderer Religionen in der Gesellschaft bedeutet, soll nun an den durch die Leitdifferenzierungen aufgerufenen Problemfeldern des Verhältnisses des christlichen Glaubens zu anderen Religionen ansatzweise verdeutlicht werden.

3.1  Die Religionen und das Geschöpf Gottes

Dass alle Menschen Gottes Geschöpfe sind, begründet nach christlichem Verständnis eine ursprüngliche Solidarität der Menschen untereinander.

Es gibt allerdings anthropologische Theorien, die suggerieren, Menschen seien zu dieser Solidarität mit allen Menschen gar nicht fähig. Ihre Zuneigung zu anderen beschränke sich nur auf einen bestimmten Umkreis des Volkes, der Rasse, der Erdregion, in der sie leben, und sogar des sozialen Status. Für solche Theorien scheint u. a. zu sprechen, dass Menschen andere Menschen ausgrenzen, sie aus ihrem Lebensumkreis vertreiben und ihnen fremde Lebensverhältnisse mit politischer und wirtschaftlicher Machtausübung aufdrängen.

Die Globalisierung verhilft dort, wo Menschen das Beste aus ihr machen, der universalen Solidarität zum Durchbruch. Ihre dunklen Seiten aber, die in einer rücksichtslosen wirtschaftlichen Expansion ohne ausreichende politische Rahmenbedingungen ihren Ursprung haben, widerstreiten der Solidarität und verursachen ein immer größer werdendes Ungleichgewicht zwischen Reichen und Armen dieser Welt. Betroffen sind neben Christen auch Menschen anderer Religionen. Man darf auf keinen Fall unterschätzen, was das für das durch lange Zeiten hindurch gewachsene religiöse Empfinden der Armen dieser Erde bedeutet. Dass viele von ihnen angesichts von Not und Elend und der Konflikte, die das auslöst, Zuflucht in den reichen Ländern dieser Erde suchen, ist nicht zuletzt der Grund, warum in unserer Gesellschaft so viele Menschen mit einer anderen Religion leben.

Der christliche Glaube an den allen Menschen nahen Schöpfer ist angesichts dessen zur selbstkritischen Wahrnehmung einer Entwicklung herausgefordert, die zur fortschreitenden Verarmung des größten Teils der Menschheit führt und die natürlichen Lebensgrundlagen aller Menschen auf dieser Erde zu zerstören droht. Er tritt dafür ein, dass die globalen Prozesse so gestaltet und gesteuert werden, dass sie Gottes Geschöpfen und seiner Schöpfung zugute kommen. Für sein Verhältnis zu den Menschen, die einer anderen Religion anhängen, bedeutet das: Er bringt zur Geltung, dass jeder Mensch ein undiskutierbares Recht hat, da zu sein und ein seiner Geschöpflichkeit würdiges Leben zu führen. Er begrüßt das Dasein jedes Geschöpfes Gottes und damit auch das Dasein jedes Menschen einer anderen Religion. Das ist der cantus firmus des Geistes, der vom Evangelium ausgeht und von dem sich die christlichen Gemeinden in Bezug auf den rechtlichen und politischen Umgang mit Menschen anderer Religionen in unserer Gesellschaft bestimmen lassen müssen.

Das christliche Verständnis jedes Menschen als Geschöpf Gottes begründet die Unanstastbarkeit der Menschenwürde und veranlasst Christen, sich mit anderen Religionen darüber zu verständigen, ob ihre Religion nicht auch Impulse enthält, die mit der Intention des christlichen Schöpfungsglaubens zusammenfallen und darum gemeinsam zur Geltung gebracht werden können. Dabei werden Christen Angehörige anderer Religionen fragen, ob und wie sie von ihren Voraussetzungen her die Menschenwürde und die Menschenrechte zu bejahen oder zumindest anzuerkennen vermögen. Im Verhältnis zum Judentum, in dessen biblischen Grundlagen auch der christliche Schöpfungsglaube gründet, dürfen Christen sich in dieser Hinsicht sogar einer großen Übereinstimmung gewiss sein.(2)  Auch im Verhältnis zum Islam, der wesentliche Elemente des jüdisch-christlichen Schöpfungsglaubens enthält, kann der Glaube an Gott als Schöpfer aller Menschen zu tendenziell zusammenstimmenden Stellungnahmen führen, wie die muslimische Kritik am terrorbereiten islamistischen Fundamentalismus gerade gezeigt hat. Es gibt zwar tiefgreifende Unterschiede im Verständnis des Schöpfers der Welt, die sich auf die Wirklichkeitsbeurteilung und die menschliche Lebensführung auswirken. Dennoch hat diese Grundlage muslimischen Glaubens auch in Zukunft eine wichtige Bedeutung für die Verständigung über die Würde und die Rechte jedes Menschen.

Schwieriger stellt sich ein Gespräch über den Schöpfungsglauben dagegen mit dem Buddhismus und dem Hinduismus dar, die einen solchen Glauben entweder gar nicht oder nur in stark relativierter Weise haben. Dadurch vermögen sie sich einerseits überraschenderweise für das evolutive Wirklichkeitsverständnis, wie es durch die neueren Naturwissenschaften befördert wird, zu öffnen, können das Leben der Menschen aber nicht als Leben in der Verantwortung vor dem einen Schöpfer der Welt begreifen. Dennoch begegnen in den reichen Texten und vor allem in der Frömmigkeit dieser Religionen Zeugnisse schöpfungsgemäßer Menschlichkeit und der Achtung vor der Schöpfung überhaupt. Sie können im Lichte des christlichen Glaubens durchaus als Zeichen der schöpferischen Gegenwart Gottes verstanden werden. Solche Zeichen vermögen das christliche Verständnis des Geschöpfes Gottes und des Schöpfers sogar zu vertiefen oder zu erweitern. Denn dieses Verständnis weiß sich immer von der Wirklichkeit des Schöpfers selbst unterschieden. Darum ist es dafür offen, dass seine Nähe zu allen Menschen sich auch in einer Fülle von konkreten Vollzügen menschlichen Lebens – auch des menschlichen Geisteslebens! – spiegelt.

Das theologische Interesse an Gottes Geschöpf, wie es in den Religionen mit und ohne einen expliziten Schöpfungsglauben begegnet, ist auch mit einer kritischen Aufmerksamkeit für die Selbstentstellungen des Menschen verbunden, die seiner Geschöpflichkeit widersprechen. Menschen missbrauchen ihre Freiheit zur Religion, indem sie sich selbst eine quasi-göttliche Vollmacht über andere Menschen anmaßen oder weit hinter den reichen Möglichkeiten ihrer Geschöpflichkeit zurückbleiben. Der christliche Glaube bringt im Blick auf solche Entstellungen des Menschen, die zuerst in der eigenen christlichen Religion, aber dann auch in den anderen Religionen wahrgenommen werden, ausdauernd die schöpfungstheologische Leitdifferenzierung zur Geltung, welche gleichermaßen auf die geschöpfliche Abhängigkeit des Menschen von Gott wie auf seine Selbständigkeit und auf seine Würde zielt. Menschen sollen anderen Menschen nicht zu gewalttätigen Götzen werden! Sie sollen vielmehr in den reichen Möglichkeiten ihrer Geschöpflichkeit aufblühen und sich gegenseitig zu intensiverer Selbstentfaltung verhelfen.

3.2. Die Religionen und die Wahrheit

Wahrheit ist im Verständnis des christlichen Glaubens nicht zuerst eine in Sätzen formulierte Richtigkeit. Wahrheit ist ein Ereignis, in dem das geschieht, worauf man sich schlechterdings verlassen kann. Nach christlichem Verständnis ereignet sich die Wahrheit in der Offenbarung des lebendigen, von der Sünde errettenden Gottes in Jesus Christus, der durch das Wirken des Heiligen Geistes den freimachenden Glauben schafft: Die Wahrheit rettet und heilt. Diese Wahrheit bezeugt die christliche Kirche, auch wenn sie sich auf andere Religionen bezieht. Für sie treten Christen ein, wenn sie Menschen anderer Religionen begegnen. Würden die Kirche und die Christen darauf verzichten, dann hätten sie im Grunde aufgehört, Kirche oder Christen zu sein. Denn das Zeugnis von dieser Wahrheit gehört unabdingbar zum christlichen Glauben selbst. Nur durch das Zeugnis des Glaubens kann die Christusgeschichte in der Welt bekannt gemacht werden. Nur durch das Zeugnis des Glaubens vergegenwärtigt sich die rettende Wahrheit so, dass Glaube aufs Neue entsteht.

Damit ist aber nicht nur ein Unterschied, sondern auch ein Gegensatz zu anderen Religionen gegeben. Er wird darin sichtbar, dass andere Religionen aufgrund anderer religiöser Erfahrungen Jesus Christus nicht als Ereignis der Wahrheit anzuerkennen vermögen, in dem sich die Rettung der ganzen Welt vollzogen hat und vollzieht. Die bleibend schmerzende Urform dieses Gegensatzes ist die Ablehnung Jesu Christi als entscheidendes, Menschen errettendes Ereignis der Wahrheit im Judentum. Dass es andere Religionen, sogar in der Zeit nach Christus entstandene und entstehende Religionen gibt, ist ebenfalls nicht nur ein Ausdruck begrüßenswerter religiöser Vielfalt. Hier wird vielmehr entschieden bestritten, dass der christliche Glaube aus der über die ganze Welt entscheidenden Wahrheitserfahrung hervorgeht. Darüber sollte man sich bei allem Bestreben einer Verständigung des christlichen Glaubens mit den Religionen nicht hinwegtäuschen. Wenn es aber in Jesus Christus wirklich um Wahrheit geht, dann kann der christliche Glaube auf diese Situation nicht so reagieren, dass er die Wahrheit des Christusgeschehens zu einer Teilwahrheit ermäßigt. Ein bisschen Wahrheit ist gar keine Wahrheit. Wie also geht der christliche Glaube mit dem Widerspruch der Religionen zur Wahrheitserfahrung des christlichen Glaubens um?

Die christologische Konkretion der Leitdifferenzierung weist hier den Weg, der die Kirche und die Christen davon entlastet, den Religionen einen so genannten „Absolutheitsanspruch“ der Wahrheit entgegen zu setzen. Das wäre nämlich ein Anspruch, über den die glaubenden Menschen in ihrer subjektiven Aneignung der Wahrheit verfügen und den sie mit dem Aufgebot weltlicher Mittel gegen andere Religionen und die Menschen, die ihnen anhängen, wenden. Die Geschichte der christlichen Mission ist leider reich an Vorgängen, bei denen die Wahrheit des christlichen Glaubens auf diese Weise vertreten wurde. Das wird dem Christentum bis heute zu Recht vorgehalten. Theologisch geurteilt handelt es sich bei solchen Vorgängen um eine von Menschen in Besitz und in Betrieb genommene Wahrheit und also um ein Werk von Sündern. Die Wahrheit als Ereignis aber wird niemals ein menschlicher Besitz. Sie betrifft Menschen in der freien Selbstvergegenwärtigung Gottes im Heiligen Geist. Man „hat“ sie nur, weil und insofern man von ihr ergriffen, durch sie also für Gott frei und vor Gott wahr gemacht wird. Sie lässt sich nicht erzwingen und nicht fordern, sondern nur in Freiheit realisieren. Und nur indem man im Glauben sein eigenes Meinen, Wollen, Wünschen, Fühlen und Tun von dieser frei machenden Wahrheit Gottes zu unterscheiden lernt, kann man sein Leben an ihr orientieren, von ihr her gestalten und diese Wahrheit gegenüber anderen Menschen vertreten.

In dieser Hinsicht sind Christen also in der gleichen Lage wie die Menschen mit anderen religiösen Grunderfahrungen. Sie sind selbst auf das Ereignis der Wahrheit angewiesen, das sie bezeugen. Sie werden das in der Begegnung mit anderen Religionen so klar wie möglich machen müssen. Ihre Lehre, ihre Lebensformen und ﷓ordnungen sind nicht die wahre Religion. Sie sind der Versuch, der Erfahrung der Wahrheit Gottes menschlich zu entsprechen. Christen können und wollen dementsprechend mit ihrer Religion das „Ankommen“ dieser Wahrheit bei religiös anders glaubenden Menschen nicht erzwingen. Sie wollen mit ihrer Religion keine Mauer zwischen sich und den Menschen anderer Religionen aufrichten. Sie weisen, indem sie von dieser Wahrheit reden, darauf hin, dass sie sich nur in der Freiheit Gottes ereignen kann. Ja, sie begegnen anderen Religionen in der Erwartung, dass sich dort ebenfalls in irgendeiner Weise Erfahrungen mit dieser Wahrheit finden.

Diese Erwartung impliziert wiederum auch die kritische Frage an die konkreten Erscheinungsformen anderer Religionen, ob ihre besonderen religiösen Erfahrungen sie tatsächlich zur Offenheit für das Ereignis der Wahrheit, die mit Recht Gottes Wahrheit zu heißen verdient, befähigen. Es gibt religiöse Strömungen, bei denen das wohl der Fall sein kann. Doch es gibt auch andere religiöse Strömungen, die ihre Wahrheitserfahrung definitiv an doktrinale, kultische und ethische Festlegungen gebunden haben. Im Blick auf letztere ist es sicherlich geboten, die Einsicht geltend zu machen, dass die Behauptung, Gott in Wahrheit erfahren zu haben, nicht bedeuten kann, dass Gott sich in die Verfügung von Menschen begeben habe. Das tangiert den Ereignischarakter der Wahrheit Gottes, ohne den der Gebrauch des Wortes „Gott“ im Grunde sinnlos wird. Gerade weil alle Religionen sich in irgendeiner Weise auf eine Offenbarung Gottes, des Göttlichen oder einer letzten, namenlosen Wirklichkeit berufen, kann das Problem solcher Berufung an ihrer „Kanalisierung“ in der gelebten Religion und ihren Überzeugungen verdeutlicht werden. In solcher „Kanalisierung“ ist sie nämlich – wie gerade die Irrwege des Christentums zeigen – in der Gefahr, den Ereignischarakter der Wahrheit zu verfehlen.

Die Offenheit für das Ereignen der Wahrheit kann jedoch nicht bedeuten, dass sie selbst nur noch in einer konturlosen Unbestimmtheit verstanden wird, die alles geschichtlich Konkrete abstößt. Jede Religion lebt davon, dass sie die geheimnisvollen, unzugänglichen, chaotischen oder als sinnlos erfahrenen Dimensionen der Wirklichkeit auf einen verstehbaren und in diesem Sinne konkreten Grund, der sich ihr in einer bestimmten geschichtlichen Situation erschlossen hat, zurückführt. Erst das ermöglicht es ihr, aus der erfahrenen oder erkannten Wahrheit zu leben. Das gilt für alle Religionen. Sie sind mit ihrem konkreten Verständnis der Wahrheit auf geschichtliche Grundsituationen bezogen, von denen her sich ihr Gottesverständnis oder das religiöse Grundverständnis der Wirklichkeit bildet und welche die Lebensform der je besonderen Religion prägen. Darin unterscheidet sich die christliche Religion formal nicht von anderen Religionen. Doch sie unterscheidet sich durch ihre geschichtliche Grundsituation, in der das Ereignis der Wahrheit mit der Geschichte Jesu Christi identisch ist. Auch wenn die Menschen, die diese Wahrheit geltend machen, sich aller Verfügung über sie enthalten, führt das im Verhältnis zu anderen Religionen unausweichlich in die angesprochene Gegensätzlichkeit.

Nachdem diese Gegensätzlichkeit schon viel zu lange zu schrecklichen Auseinandersetzungen und Kriegen zwischen den Religionen geführt hat, muss insbesondere die christliche Kirche heute neu lernen, mit ihr in einem Geiste umzugehen, welcher der geschichtlichen Besonderheit Jesu Christi entspricht. Das heißt: Jesus Christus ist von ihr so geltend zu machen, dass er unter keinen Umständen zu Feindschaft und tödlichem Streit treibt. Er ist derjenige Mensch, der die gnädige, unverfügbare Nähe Gottes zu allen Menschen trotz ihrer religiösen Entzweiung geschichtlich wirksam werden lässt. Seine geschichtliche Besonderheit darf gemäß der christologischen Leitdifferenzierung darum nicht zu einer bloßen Durchlaufstation auf dem Wege der Ausbildung irgendeiner menschlich-religiösen Weisheit degradiert werden. Sie ist unüberholbar, weil sie die ganze sich religiös und nichtreligiös entzweiende Menschheit in das versöhnende Licht der Nähe Gottes stellt und ihr einen gemeinsamen Horizont gibt.

Es liegt nicht in der Hand der Christenheit, den Gegensatz der Religionen mit dem so verstandenen Bezeugen der Wahrheit aus der Welt zu schaffen. Nach evangelischem Verständnis wird vielmehr, wenn es zum interreligiösen Dialog kommt, um die Wahrheit, um die Vertretbarkeit der eigenen Glaubenseinsicht und der anderen religiösen Meinung in Freiheit zu streiten sein. Dass derartige Dialoge jedoch durch irgendeine Methodik zur religiösen Entdifferenzierung führen, ist weder zu erwarten noch sinnvollerweise anzustreben. Es geht dabei jedoch um den Abbau falscher Vorstellungen von der anderen Religion, um den Versuch des Verstehens des besonderen Profils ihrer Grundlagen und ihrer Praxis und vielleicht um die Entdeckung von Dimensionen der Gemeinsamkeit.

Vergleichbares gilt hinsichtlich der Begegnung von Christen mit Menschen, die in den Gewissheiten und praktischen Gewohnheiten einer anderen Religion leben. Sie wird sich vom Grunde des christlichen Glaubens her in einem Geiste verstehensbereiter Offenheit und des Werbens um das Verstehen des christlichen Glaubens vollziehen. Sowohl bei dieser Begegnung wie in jenen Dialogen wird sich der eigene Vollzug der christologischen Leitdifferenzierung im Reden und Verhalten der Kirche und der Christen dann aber so auswirken, dass sie sich mit keinem Gegensatz zu anderen Religionen als letztem Gegensatz und mit keinem Trennenden als absoluter Grenze abfinden. Weil Jesus Christus nicht aufhört, mitten in der sündig entzweiten Welt solche Gegensätze und Grenzen mit der Sünden vergebenden Nähe Gottes zu jedem Menschen zu überbieten, geht von ihm die bleibende Ermutigung aus, das Menschenmögliche zu tun, damit sie sich nicht zu tödlich entzweienden Gegensätzen und Grenzen auswachsen.

3.3 Die Religionen und das Evangelium

Die schöpfungstheologische und die christologische Leitdifferenzierung im Hinblick auf das Verhältnis des christlichen Glaubens zu den Religionen bringen auf Grund ihrer trinitarischen Zusammengehörigkeit implizit schon die Leitdifferenzierung zur Geltung, die in der christlichen Erfahrung des Wirkens des Heiligen Geistes gegeben ist. Sie ist in ihrer Bedeutung aber eigens hervorzuheben, wenn es um Fragen des unmittelbaren Zusammenlebens von Christen, aber auch von religiös nicht Gebundenen mit Menschen anderer Religionen in unserer Gesellschaft geht. Der Heilige Geist wirkt im Hier und Heute. Deshalb kommt seine unterscheidende Kraft dem Geist zugute, in dem die Kirche und die Christen jenes Zusammenleben in ihrem eigenen Umkreis und in der Gesellschaft prägen. Sie prägen es mit dem Evangelium und nicht mit dem Gesetz.

Das heißt grundlegend: Sie machen die christliche Religion für Menschen anderer Religionen nicht zu einer Norm der Welt, der sie sich zuzuordnen oder gar unterzuordnen haben. Sie qualifizieren sie nicht als problematische Fälle, weil sie mit der vom Christentum geprägten Kultur nicht ohne weiteres zusammenstimmen. Sie propagieren ihnen gegenüber das Christentum nicht als „bessere“, aufgeklärtere Religion, welche die archaischen Muster anderer Religionsausübung hinter sich gelassen hat. Sie sehen sie vielmehr im Licht des Evangeliums, d. h. in der Klarheit der Liebe Gottes, die keinen Menschen zu irgendetwas zwingt, sondern Freiheit zum Zusammensein bejahter Geschöpfe schafft. Nur so ist auch christliche Mission verantwortbar, die ihren Sinn verfehlen würde, wenn sie die Wahrheit des Evangeliums nicht als befreiende Wahrheit zur Sprache brächte. Letztlich ist diese Art, Menschen anderer Religionen zu begegnen, also in der christlichen Gotteserkenntnis begründet.

Gott hat in Jesus Christus nicht eine dunkle, unverständliche und grausame Seite, in der er Menschen abstößt, und eine helle, verständliche, liebevolle Seite, in der er ihnen zugewandt ist. Er hat am Kreuz Jesu Christi die Situation geteilt, in der Menschen ihn seit Menschengedenken als dunkel, unverständlich und grausam erfahren. Er hat damit auch die Zerrissenheit geteilt, in der Menschen in den verschiedenen Religionen versuchen, ihre Erfahrungen des Sinnlosen und Unverständlichen auf einen verstehbaren jenseitigen Grund zurückzuführen. In der Sicht des christlichen Glaubens begegnet der sich erniedrigende Gott immer an der Seite der Menschen: bei ihnen und für sie da. Dadurch hören die Menschen anderer Religionen auf, auch wenn sie sich noch so fremdartig darstellen, Fremde für die Christen zu sein. Gott ist schon mitten unter ihnen in Gestalt des Menschenbruders, der aller Religion von Menschen mit dem Grundakt der Liebe Gottes zuvorkommt. Gott lässt sich seine Geliebten nicht durch die menschlichen Religionen wegnehmen. Das ist der Grund, warum die Christenheit ihren Glauben an Gott nicht als Gesetz gegen sie wendet, sondern sie in der Atmosphäre des Evangeliums wahrnimmt, in welcher der aller Religion zuvorkommende Gott schon bei ihnen ist.

Natürlich bedeutet das nicht, dass die konkreten Gestalten der praktischen Frömmigkeit von Menschen anderer Religionen dadurch für die Sicht des christlichen Glaubens zu unwesentlichen Äußerlichkeiten würden. Sie sind ja faktisch Ausdruck einer anderen Gotteserfahrung und eines anderen umfassenden Verständnisses der Wirklichkeit. Sie haben sich zudem mit kulturellen Kontexten, Traditionen und Institutionen verbunden, in denen der andere religiöse Glaube eine derart verfestigte weltliche Gestalt gewonnen hat, dass sich die Frage aufdrängt, inwiefern die religiöse Praxis der verschiedenen Religionen in Wahrheit Gottesverehrung zu heißen verdient.

Zur Achtung von Menschen anderer religiöser Überzeugung gehört es außerdem, ihren Überzeugungen zu widersprechen, wenn man Grund hat, sie nicht zu teilen, und es Anlass gibt, dem Ausdruck zu geben. Aber auch wenn Übereinstimmungen entdeckt und Gemeinsamkeiten wahrgenommen werden, ist es nicht geraten, sie aus dem jeweiligen religiösen Überzeugungszusammenhang zu abstrahieren und als theoretische oder praktische Übergänge zwischen den Religionen auszugeben. Auch in diesen Gemeinsamkeiten walten die konkreten Eigenarten jeder Religion kräftig, so dass Symmetrie der Religionen mit der christlichen Religion auf diese Weise schwerlich erreicht werden kann. Christen können aus diesem Grunde auch nicht guten Gewissens an der religiösen Praxis einer anderen Religion teilnehmen (z. B. Opferriten mit vollziehen, Geister und Ahnen anrufen, zu Göttern beten und vor ihnen tanzen usw.), um auf diese Weise andere religiöse Erfahrungen zu sammeln oder die zuvorkommende Liebe Gottes zu demonstrieren. Sie würden sie auf diese Weise gerade religiös zu handhaben trachten und ins Zwielicht bringen. Die Idee einer der christlichen Ökumene vergleichbaren „Ökumene der Religionen“ ist deshalb als Irrweg anzusehen.

Aber auch die schwerwiegende Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Christen mit Vertretern anderer Religionen gemeinsam beten können, muss im konkreten Fall an dem Kriterium entschieden werden, ob solches gemeinsames Beten der befreienden Wahrheit des Evangeliums von Gottes schöpferischer Nähe beim sündigen Menschen die Ehre gibt oder ob es dieser Wahrheit in den Rücken fällt. Für die Prüfung dieser Frage sind die Überlegungen hilfreich, die in der Handreichung zum Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland zum Verhältnis von christlichem und islamischem Gebet angestellt worden sind (S. 41 – 45). Dort heißt es: „Die Unterschiede im Gebetsverständnis, die mit dem unterschiedlichen Gottes- und Menschenbild begründet sind, können nicht übergangen, sondern müssen respektiert werden. Weil diese Unterschiede nicht verwischt werden dürfen, haben wir uns zu bescheiden und die Grenzen zu akzeptieren, die es uns verwehren, uns im gemeinsamen Gebet mit Muslimen vor Gott zu vereinen. Doch können wir im Sinne menschlicher Verbundenheit in einer multireligiösen Situation mit innerer Anteilnahme gleichsam nebeneinander beten“ (S. 44) .(3)

Der Glaube an den Gott, der im Menschen Jesus auch in die Welt der Religionen gekommen ist und sie einlädt, sich seine Liebe gefallen zu lassen, gibt den Christen bei der Begegnung mit Menschen anderer Religionen die Gelassenheit, nichts erzwingen zu müssen, was sich nur in Freiheit einstellen kann. Im evangelischen Geiste aber brauchen die Abgrenzungen nicht ständig das erste Wort zu führen, weil auf diese Weise die Kluft zu diesen Menschen nur gesetzlich vertieft wird. Indem Christen, Gemeinden und Kirchen mit Menschen anderer Religionen zusammenleben, kann ihnen das einerseits vielmehr Anlass sein, den evangelischen Charakter ihres Glaubens in Wort und Tat immer eindeutiger darzustellen. Andererseits gewinnen sie gerade so die Freiheit, den Menschen dieser Religionen zu verstehen zu geben, was sie an ihrer Religion erfreut und warum sie sich wünschen, dass diejenigen Momente ihrer religiösen Praxis immer stärker hervortreten, die am meisten an das Evangelium erinnern. Wenn die Begegnung mit Menschen anderer Religionen gelingt, werden Eindrücke vom Christentum und Wünsche an das Verhalten von Christen auch von der anderen Seite artikuliert werden. Dass Christen, Gemeinden und Kirchen dann dafür offen sind, dem in ihrer Selbstdarstellung, in ihrem Reden und Verhalten Rechnung zu tragen, müsste sich von den erörterten Leitdifferenzierungen her eigentlich von selbst verstehen.

Fussnoten:

(2)  Vgl. hierzu die drei Studien der EKD: Christen und Juden (I﷓III) von 1975 (I), 1991 (II) und 2000 (III); wiederabgedruckt in: Christen und Juden I﷓III, Gütersloh, 2002. Vgl. auch die Studie der LKG: Kirche und Israel – Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden, hg. von Wilhelm Hüffmeier, Leuenberger Texte 6, Frankfurt am Main, 2001.

(3)  Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland. Gestaltung der christlichen Begegnung mit Muslimen. Eine Handreichung des Rates der EKD, Gütersloh, 2000.

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