Europa als Wertegemeischaft - Seine christlichen Grundlagen Gestern, Heute, Morgen

Wolfgang Huber

Berlin, Bayerische Landesvertretung

I. Die Frage nach den christlichen Anteilen Europas

Im Jahr 1799 brachte Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, in Jena einen Text zu Papier, der alsbald erhebliche Kontroversen auslöste. Sechsundzwanzig Jahre war der Autor erst alt, der schon zwei Jahre später starb. Vor allem Goethes Einspruch verhinderte zunächst die Veröffentlichung des Essays über "Die Christenheit oder Europa".. Dabei handelt es sich um den ersten Text in deutscher Sprache, der eine umfassende Vision einer europäischen Gemeinschaft entwirft. Die Grundlage der europäischen Einheit sieht Novalis in der Religion. Sie oder genauer: das Christentum verbürgt die Einheit Europas. "Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte. Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs." Wenn Europa auf dem Christentum als seinem Fundament ruhte, dann musste freilich die Abkehr von ihm den gesamten Bau erschüttern.

Novalis bleibt freilich nicht dabei stehen, den Abfall von den christlichen Wurzeln der europäischen Einheit zu beklagen. Er sieht aus den Wirren, die insbesondere durch die Französische Revolution ausgelöst wurden, eine religiöse Erneuerung emporwachsen - wenn die Menschen sie nur ergreifen: Der Krieg "wird nie aufhören, wenn man nicht den Palmzweig ergreift, den allein eine geistliche Macht darreichen kann. Es wird so lange Blut über Europa strömen, bis die Nationen ihren furchtbaren Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise herumtreibt. ... Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedensstiftendes Amt installiren." Und noch herausfordernder heißt es: "Die andern Welttheile warten auf Europas Versöhnung und Auferstehung, um sich anzuschließen und Mitbürger des Himmelsreichs zu werden."

Ist das eine kühne Vision oder ein romantischer Traum? Die Züge der rückwärtsgewandten Beschwörung sind nicht zu übersehen. Welche Epoche der Vergangenheit ist es wohl, die Novalis mit den "schönen glänzenden Zeiten" meint? Romantisch wird hier das Mittelalter als ein christliches Zeitalter überhöht; seine durchaus unchristlichen Züge werden verdrängt. Wann immer eine vergangene Form der Verbindung von Christentum und Europa einfach zum Maßstab des Künftigen gemacht wird, hat man es mit einer solchen Idealisierung der Vergangenheit zu tun.

An die Vision des Novalis lässt sich schon wegen ihrer rückwärtsgewandten Romantik nicht anknüpfen. Sie ist uns aber auch aus einem anderen Grunde fremd. Das Christentum ist längst kein europäischer Besitz mehr, der von hier aus - dank "Europas Versöhnung und Auferstehung" - in die anderen Weltteile exportiert werden könnte. Manche halten vielmehr - in einer freilich überzogenen Betrachtungsweise - "Die Christenheit oder Europa" heute schon für einen Gegensatz. Wahr ist, dass die Christenheit sich heute in anderen Kontinenten, in Nord- und Lateinamerika, im Pazifik, in Asien und Afrika fruchtbarer als in Europa entfaltet und Zuwächse zu verzeichnen hat. Europa dagegen hat sich zu erheblichen Teilen vom Christentum abgewandt. Die Frage nach Gott ist einem Teil der Europäer "gründlich ausgetrieben" worden; andere haben ihr von sich aus den Abschied gegeben. In vielen anderen Teilen der Welt erleben wir gegenwärtig eine Abkehr von der Säkularisierung, eine "Desäkularisierung" also, wie Peter L. Berger das genannt hat; in Europa dagegen setzt sich die Säkularisierung noch immer fort. Mit übertriebenem Selbstbewusstsein über die christlichen Wurzeln Europas zu sprechen, besteht auch dann kein Grund, wenn man die Situation zwischen Tschechien und den Niederlanden, Deutschland eingeschlossen, nicht als paradigmatisch für ganz Europa ansieht.

Bei aller Nüchternheit besteht aber auch kein Anlass, die nach wie vor vorhandene Prägekraft des Christentums in Europa zu leugnen. Von den 720 Millionen Menschen in Europa sind immerhin mehr als 500 Millionen Christinnen und Christen. Dieser Tatsache wird man nicht gerecht, wenn man in einem allgemeinen Lamento über die Säkularisierung erklärt, das Christentum sei in Europa ganz oder doch beinahe tot, seine geistige Substanz sei in Europa entkernt. Nicht nur in der Vergangenheit haben Christenmenschen sich in Europa für Werte eingesetzt, die diesen Kontinent geprägt haben: für die Erkenntnis der Natur als Schöpfung, für die Würde des Menschen, für die Ehre Gottes. Auch durch viele Irrtümer sind sie dabei gegangen und haben Schuld auf sich geladen: in der Ausbeutung der Natur, in der Gewalt gegen andere Menschen, in der Leugnung Gottes. Aber das Christentum war es, das selbst die Maßstäbe setzte, an denen solche Irrwege aufgedeckt wurden. Das Christentum ist nicht nur verflochten in eine Geschichte der Schuld; es ist auch die Quelle von Schulderkenntnis und Neubeginn.

An keinem Thema lässt sich das eindrücklicher zeigen als an der Vorstellung von der unantastbaren Menschenwürde und den aus ihr abgeleiteten Menschenrechten. Gewiss: Diese Einsicht musste in der Neuzeit in erheblichem Umfang gegen die Kirchen durchgesetzt werden; doch zugleich kann man nicht davon absehen, dass sie sich christlichen Quellen verdankt. Denn in ihr drückt sich eine Vorstellung von der menschlichen Person aus, deren Würde deshalb unantastbar ist, weil sie in der Gottebenbildlichkeit ihren Ursprung hat.

Die Europäische Union steht heute vor der doppelten Aufgabe der Erweiterung und Vertiefung zugleich. Mit der Erweiterung, die zu den langrfristigen Auswirkungen der Wende von 1989 gehört, ist eine schon längst überfällige Ostverschiebung unserer Wahrnehmung verbunden, Sie wird uns lehren, auch die Bedeutung des Christentums mit anderen Augen zu sehen. Die Rolle des Katholizismus ist in Polen eine andere als beispielsweise in Frankreich, die Bedeutung der östlichen Orthodoxie ist uns in West- und Mitteleuropa ohnehin weitgehend unbekannt. Die Forderung nach einer Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses aber nötigt dazu, nach der kulturellen und religiösen Verankerung dieses Prozesses zu fragen. Gewiss wird man sich eine solche Verankerung nur so vorstellen können, dass sie dem europäischen Pluralismus und damit auch der Verschiedenheit kultureller Ausprägungen und religiöser Orientierungen Rechnung trägt. Das romantische Bild einer religiösen Einheitskultur, wie Novalis es gezeichnet hat und wie es auch heute immer wieder aufflackert, taugt nicht als Leitbild für die Zukunft. Doch der relativistische Werteverzicht, der sich häufig mit einem rein technokratischen Bild Europas verbindet, versagt erst recht vor der Aufgabe, eine Vertiefung der Zusammengehörigkeit in Europa zuwege zu bringen.

Ein Blick auf die gegenwärtige Lage des Christentums in Europa stimmt nüchtern; aber er veranlasst nicht zur Resignation. Er gibt vielmehr Anlass, zunächst auf Europas christliche Wurzeln zurückzuschauen, um von hier aus zu bestimmen, worin der Beitrag des Christentums zu Europa als einer Wertegemeinschaft bestehen kann.

II. Europas christliche Wurzeln

Europa ist in stärkerem Maß eine kulturelle als eine geographische Größe. Es ist in stärkerem Maß eine religiöse als eine ethnische Einheit. Geographisch würde man diese Halbinsel am westlichen Rand Asiens kaum als einen Kontinent bezeichnen können. Und ethnisch ist es durch eine außerordentliche Vielfalt bestimmt. Nur seine kulturelle und religiöse Geschichte begründet, warum wir Europa einen Kontinent nennen. Für diese kulturelle und religiöse Prägung aber sind drei Namen kennzeichnend: Athen, Rom und Jerusalem.

Den Griechen verdankt Europa den Geist der Philosophie, den Aufbruch zur Wissenschaft, die Offenheit für die Künste. Ein Erbe ist das übrigens, dessen Überlieferung zu einem erheblichen Teil dem mittelalterlichen Islam zu danken ist. Den Römern verdankt Europa die Stiftung einer Rechtsordnung, den Sinn für politische Einheit und gestaltete Herrschaft. Jerusalem schließlich verdankt Europa die Bibel, die prägende Religion, das bestimmende Bild vom Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Das Christentum ist aus dem Judentum hervorgegangen; die Bibel der Christen schließt die Hebräische Bibel ein. Jesus, Petrus und Paulus - um nur diese drei zu nennen - waren Juden. Wann immer das Christentum sich von diesen jüdischen Wurzeln emanzipieren wollte, hatte das schreckliche Folgen. Für die Zukunft hat deshalb nur ein Christentum Berechtigung, das sich seiner Herkunft aus dem Judentum bewusst ist.

Wer von den christlichen Wurzeln Europas spricht, muss sein Verhältnis zum antiken Erbe ebenso wie die jüdischen und islamischen Einwirkungen auf die europäische Entwicklung ins Auge fassen. So wenig es einen Grund gibt, das Christliche an Europa zu marginalisieren, so unbegründet ist es auch, Europa mit dem Christentum gleichzusetzen. Für keine Epoche der europäischen Geschichte ist das angemessen.

Von einer Entstehung Europas kann man eigentlich erst vom vierten Jahrhundert an sprechen. Sie ist durch eine Doppelbewegung geprägt: Auf der einen Seite wurde das Christentum als Staatsreligion des römischen Reiches anerkannt; auf der anderen Seite löste sich das römische Reich selbst auf. In dem geschichtlichen Augenblick, in dem sich ein christliches Europa bildete, differenzierte es sich sogleich in das spannungsvolle Gegeneinander zwischen Byzanz und Rom, zwischen Morgenland und Abendland, zwischen Orient und Okzident.

Die östliche Christenheit, ihrerseits bis in Kernfragen des christlichen Bekenntnisses von tiefen Spannungen durchzogen, entwickelte ein Verhältnis zur Welt, welches man als Symphonie, als Zusammenklang von Himmel und Erde wie von geistlicher und weltlicher Herrschaft deuten kann. Der Caesaropapismus gilt deshalb als die charakteristisch byzantinische Gestaltungsform des Verhältnisses von Staat und Kirche. Dass der Glaube gleichwohl dieser Welt auch immer fremd gegenübertritt, wurde im Gegenüber von Welt und Wüste symbolisiert. Für dieses Gegenüber stehen jene eindrucksvoll heiligen Gestalten, die sich aus der Welt in die Wüste gerufen wussten.

Im Westen nahm das Verhältnis von Glaube und Welt, von Kirche und Staat eine andere Gestalt an. Früh schon entwickelte sich ein Bewusstsein für die Differenz beider Größen. In der Lehre von den zwei Schwertern fand sie einen sinnenfälligen Ausdruck. Weltliche und geistliche Herrschaft traten sich in einer grundsätzlichen Eigenständigkeit gegenüber, die den Stoff für große Konflikte in sich trug. Zugleich enthielt dieses Denkmodell eine frühe Vorbedingung für den modernen Verfassungsstaat in sich. Er beruht bis zum heutigen Tag auf der Unterscheidung zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft. Auch im Westen kannte man - wie im Osten - heilige Personen, in denen sich eine göttliche Berufung exemplarisch zeigte. Doch anders als im Osten wollten sie zumeist in dieser Welt zeigen, dass sie nicht von dieser Welt waren. Nicht Weltflucht, sondern Weltgestaltung war das vorherrschende Programm, sei es in der Leitung der Kirche, im politischen Amt, in der Pflege von Wissenschaft und Kunst oder in der Verantwortung für Handel und Wandel.

Europa war schon gespalten, als Karl der Große seinem westlichen Teil eine neue politische Gestalt gab, was ihm den Titel "Vater Europas" eintrug. Er schuf den politischen Rahmen dafür, dass zwischen dem 9. und dem 11. Jahrhundert auch die Länder nördlich des Limes, die bis dahin noch nicht christianisiert waren, das Christentum annahmen. Auch wenn wir die Umstände, unter denen das geschah, als problematisch empfinden, können wir doch die Augen nicht davor verschließen, dass es kein europäisches Land gibt, das nicht mindestens vor einem Jahrtausend zum Christentum übergetreten ist. Diese Bindung an das Christentum stellt ganz unausweichlich einen wichtigen Bestandteil der europäischen Identität dar. Das Gesicht Europas ist durch das Christentum mitgeprägt. Der Kontinent ist überzogen von Marksteinen christlicher Präsenz, von Kirchen und Klöstern, Schulen und Hospitälern, Wegkreuzen und Kapellen. Der Rhythmus der Zeit trägt eine christliche Gestalt, von der Siebentagewoche, die mit dem Tag der Auferstehung ihren Anfang nimmt, bis zum liturgischen Kalender, der den Jahreslauf bestimmt. Und vor allem: Das Bild vom Menschen ist von hier aus geprägt: das Bild von der menschlichen Person, die aus dem Gegenüber zu Gott ihre unantastbare Würde empfängt.

Aber der christliche Glaube verband sich von Anfang an mit den unterschiedlichen regionalen Kulturen Europas. Er wurde eingebettet in die Lebenswelten der - lateinischen oder keltischen, germanischen oder slawischen - Völker, die zusammen Europa bildeten. Im Westen entstand, wie Peter Brown gesagt hat, "ein Mosaik benachbarter, aber getrennter ‚Mikro-Christenheiten'".

Die mittelalterliche Entwicklung der westlichen Christenheit war aber auch durch die beständige Spannung zwischen einer sich hierarchisch verfestigenden Kirche und sich dagegen auflehnenden Erneuerungsbewegungen bestimmt. Was Petrus Waldus oder Jan Hus bereits versuchten, gewann in der Reformation des 16. Jahrhunderts dann weltgeschichtliche Bedeutung. Dabei hatte es die Reformation des 16. Jahrhunderts auch der politischen Konstellation zu verdanken, dass sie nicht wie die Erneuerungsbewegungen des Mittelalters als Ketzerei niedergeschlagen wurde. Die Figurenkonstellation im Berliner Dom, in der die Reformatoren zusammen mit evangelischen Fürsten des 16. Jahrhunderts die Kuppel rahmen, zeichnet insofern ein durchaus realistisches Bild.

Als die "Protestanten" auf dem Reichstag in Speyer sich einem Mehrheitsbeschluss der Reichsstände in Fragen des Glaubens widersetzten, fügten sie zur abendländischen Unterscheidung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt einen weiteren Baustein für die Entstehung des modernen Verfassungsstaats hinzu. Sie verlangten die Anerkennung von Gewissensfreiheit und die Selbstbeschränkung der politischen Autorität in Fragen der Religion. Sie ebneten damit den Weg zur Aufklärung ebenso wie zur Anerkennung von religiöser Pluralität.

Dieser Weg wurde freilich - insbesondere in Deutschland - auf sehr eigene Weise gegangen. Für die einzelnen Territorien galt nun die Bestimmungsmacht des Landesherrn über die Konfessionszugehörigkeit seiner Untertanen. Im Reich insgesamt herrschte dagegen konfessionelle Parität. Wie wenig tragfähig dieses Konzept war, zeigte sich in den Konfessionskriegen der nachreformatorischen Zeit. Sie nötigten zu einer Neukonstruktion eines europäischen Friedens, der nicht unmittelbar auf der Religion beruhte, sondern auch dann Bestand haben sollte, wenn man annähme, dass es Gott nicht gäbe. Insofern nötigte die Unversöhnlichkeit der konfessionell bestimmten Kriegsparteien selbst zu einer Friedensordnung, die auch gegen die Konfessionen durchgesetzt werden konnte.

Daran muss man sich immer wieder erinnern, wenn die These vertreten wird, der Frieden zwischen den Völkern setze den Frieden zwischen den Konfessionen und Religionen voraus: "kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden".. Gegebenenfalls muss der Frieden - Gott sei's geklagt - auch gegen Konfessionen und Religionen durchgesetzt werden. Auch das gehört zu den Lehren der europäischen Entwicklung. Die Kirchen selbst müssen ein Interesse daran haben, dass der Rechtsfrieden gegen diejenigen behauptet wird, die ihn gefährden - und sei es unter Inanspruchnahme religiöser Motive. Nordirland ist dafür ebenso ein aktuelles Beispiel wie der Balkan. Gerade die europäische Erfahrung spricht dafür, die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft und den weltlichen Charakter der Rechtsordnung deutlich voneinander zu unterscheiden.

Die geschilderten Entwicklungen des konfessionellen Zeitalters brachten es mit sich, dass sich im 17. und 18. Jahrhundert immer weitere Lebensbereiche der konfessionellen Prägung entzogen. Das galt nicht nur für die Politik und die ihr dienende Rechtswissenschaft, sondern auch für die Philosophie, die Geschichtswissenschaft und die Naturwissenschaften. Schon in dieser Zeit verlor die Theologie in Europa das Monopol auf die Deutung von Welt und Mensch. Seitdem muss sie ihre eigenen Deutungen argumentativ - und das heißt auch: möglichst prägnant - in den Diskurs mit anderen Deutungen einbringen - es sei denn, sie zieht sich in eine Sonderwelt zurück, in der sie ihr Eigenes pflegt, ohne sich der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Interpretationen zu stellen.

Von der prägenden Bedeutung des Christentums für Europa zu sprechen, bedeutet zugleich, die europäische Pluralität anzuerkennen. Denn das Christentum hat auf seine Weise zu dieser Pluralität beigetragen. Die Toleranz gegenüber Glaubensfremden, zuerst in protestantischen Staaten gewährleistet, war dazu ein wichtiger Schritt. Dabei meinte Toleranz zunächst nur praktizierte Duldung. Minderheiten wurden aufgenommen, ohne dass deren Anwesenheit an der Grundorientierung der Mehrheit etwas änderte. Bestimmte Abweichungen von den herrschenden Prinzipien wurden hingenommen, die für die Gesellschaft im Ganzen gleichwohl in Geltung blieben. Auch die preußische Toleranz des 17. und 18. Jahrhunderts bedeutete keine aktive Bejahung eines konfessionellen oder gar eines - die Juden einschließenden - religiösen Pluralismus. Man war noch weit entfernt von einer bewussten Anerkennung des andern in seinem Anderssein. Der Übergang zur vollen Religionsfreiheit stand noch bevor.

Er vollzog sich erst in dem Augenblick, in dem die staatsbürgerlichen Rechte sich von der Religionszugehörigkeit lösten. Diese "Bresche", wie René Rémond sich ausdrückt, wurde in der Französischen Revolution geschlagen. "Niemand darf wegen seiner Ansichten, selbst religiöser Art, bedrängt werden ..." heißt es erstaunlich zurückhaltend in der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789. Aber die Einsicht, dass Unterschiede des religiösen Bekenntnisses keine staatsbürgerliche Benachteiligung zur Folge haben dürfen, war weitreichend. Diese Entkoppelung setzte sich schrittweise in ganz Europa durch. Erst der Ausschluss der Juden von der Staatsbürgerschaft im Deutschland der Nazizeit - aber auch im Frankreich der Vichy-Regierung - war eine tragische Abweichung von dem nun errungenen Prinzip. Wer immer heute von Europa als Wertegemeinschaft spricht, wird gerade deshalb dieses Prinzip zu den Werten zählen, hinter die Europa nicht wieder zurückgehen kann. So wie durch die Reformation die Gewissensfreiheit zu einem europäischen Grundwert wurde, so durch die Französische Revolution die staatsbürgerliche Gleichheit. Es gibt jedenfalls in meinen Augen keinen Zugang zum Wertekonsens Europas an diesen beiden Weichenstellungen vorbei.

Die Kirchen haben die Unabhängigkeit des Staatsbürgerrechts von der Religionszugehörigkeit nicht selbst durchgesetzt. Auch deshalb hat dieser epochale Wandel sich in einem Säkularisierungsschub Ausdruck verschafft, der zwei Jahrhunderte - das 19. wie das 20. Jahrhundert - prägte. Nicht nur in überwiegend protestantischen Gegenden - mit ihrer traditionell geringeren Kirchenbindung - , sondern auch in katholischen Regionen löste sich das Deutungsmonopol der Kirchen ebenso auf wie ihr direkter Zugriff auf die Lebensorientierung der einzelnen. Die heiligen Zeiten werden entweiht. Der Rhythmus der Woche wie des Jahres wird profanisiert. Die religiöse Grundierung des Alltags schwindet. Atheistischer Humanismus wie atheistisches Ressentiment werden zu verbreiteten Haltungen. Glaubensfeindliche Ideologien bestimmten die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts - Nationalsozialismus und Kommunismus; ihre auf unterschiedliche Weise kollektivistischen Bilder vom Menschen liegen hoffentlich auf Dauer hinter uns.

Inzwischen überlagern sich Säkularisierung und religiöse Pluralität. Die Wanderungsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten zu einer verstärkten Präsenz nichtchristlicher Religionen in Europa, allen voran des Islam. Dass Religionsfreiheit auch die Freiheit der Andersglaubenden ist, wird - vor allem angesichts der Anwesenheit von 10 Millionen Muslimen in Europa - zu einer täglichen Erfahrung.

Doch alle Ambivalenzen, die mit dem Säkularisierungsprozess verbunden sind, ändern nichts an der epochalen Bedeutung des Übergangs zu gleichen Bürgerrechten, die von der Religionszugehörigkeit unabhängig sind. Einem Staat, der diesen Grundsatz leugnete, würden wir heute vorhalten, dass er gegen die europäische Werteordnung verstößt. Europa als Wertegemeinschaft ist durch eine Vorstellung vom Verfassungsstaat geprägt, der die gleiche Würde jedes Menschen und ebenso die Gleichheit vor dem Gesetz unabhängig von der Religionszugehörigkeit respektiert. Denn das gehört zur Unbedingtheit der Menschenwürde. So sehr diese sich einem christlichen Impuls verdankt, so sehr kann sie rechtlich nur in einem säkularen Verfassungsstaat gesichert werden.

Dabei gehört es zur Tragik der europäischen Entwicklung, dass diese Einsicht in Frankreich in einer antiklerikalen, ja antichristlichen Frontstellung durchgesetzt wurde. Dies gab der Säkularisierung der Verfassungsordnung eine laizistische Schlagseite, die noch in die heutigen Überlegungen zur Verfassung Europas hineinwirkt. Die Verwechslung einer Säkularisierung der Verfassungsordnung mit einer laizistischen Gestalt des gesellschaftlichen Lebens ist heute sehr verbreitet. Viele sehen in den anstehenden europäischen Entwicklungen die Möglichkeit oder sogar den Zwang, das Religionsverfassungsrecht für ganz Europa laizistisch umzugestalten. Unter der Überschrift einer "Trennung von Staat und Kirche" soll die Teilhabe der Religionsgemeinschaften am öffentlichen Raum reduziert oder sogar beseitigt werden. Manche verstehen unter Laizismus auch ein gesellschaftliches Klima, das durch Gleichgültigkeit gegenüber der Prägekraft und der Orientierungsbedeutung der Religionen überhaupt bestimmt ist.

Dass solche Tendenzen nicht zwangsläufig sind, kann man sich am Vergleich mit den Vereinigten Staaten von Amerika klarmachen. Die Säkularisierung der Verfassungsordnung wurde auch dort vollzogen. Die Verfassungsklausel, nach welcher es kein "Establishment" zwischen Staat und Kirche geben darf, ist unmittelbar mit der Gewährleistung der Religionsfreiheit verknüpft. Die staatsbürgerlichen Rechte sind nicht an die Religionszugehörigkeit gebunden. Trotzdem vollzieht sich in den Vereinigten Staaten von Amerika kein gesellschaftlicher Säkularisierungsprozess, den man mit dem europäischen auf eine Stufe stellen könnte. Religion im Sinn der wahrgenommenen und gestalteten Gottesbeziehung hat dort eine weit höhere Bedeutung. Die aktive Teilhabe am Leben der Gemeinden, den Gottesdienstbesuch eingeschlossen, geht über die europäischen Verhältnisse weit hinaus. Wachsende Kirchen sind nicht nur auf dem lateinamerikanischen, sondern auch auf dem nordamerikanischen Kontinent zu beobachten. In weit stärkerem Maß wird der Glaube als Halt im Leben und im Sterben, als Orientierung im Wandel in Anspruch genommen. Sowohl die evangelischen und orthodoxen als auch die römisch-katholische Kirche in den USA haben unter diesen Bedingungen erkannt, dass gerade eine vom Staat unabhängige Kirche einen Beitrag zur geistigen Orientierung und zu den moralischen Grundlagen des Gemeinwesens leisten kann.

Gewiss lassen sich amerikanische Verhältnisse nicht einfach auf den europäischen Kontinent übertragen. Aber auch hier können die Kirchen ihren Ort in der Zivilgesellschaft neu wahrnehmen und die bleibende Bedeutung christlicher Überzeugungen und christlicher Lebensorientierung in den Dialog der Gesellschaft einbringen. Die Rolle der Kirchen ist dann freilich weder in der Fortsetzung des Staatskirchentums noch in der Position von Toynbees "schöpferischer Minderheit" zu sehen. Nur indem sie die Glaubensgewissheit in den eigenen Reihen stärken und zum missionarischen Wirken nach außen bereit sind, werden die Kirchen ihren Ort in der Zivilgesellschaft wahrnehmen und einen Beitrag zum europäischen Wertebewusstsein leisten. Ob sie das in Übereinstimmung oder in Dissonanz tun, wird für das Gewicht dieses Beitrags erhebliche Bedeutung haben.

Nicht nur in einem solchen Kalkül, sondern vor allem in der ihnen aufgetragenen Botschaft selbst ist die ökumenische Zusammenarbeit der Kirchen begründet. Die Differenzen zwischen den Kirchen behalten in dieser Zusammenarbeit ihr Gewicht. Doch das, was sie verbindet, hat die größere Bedeutung. Dafür, dass sie zugleich zeigen wollen, warum sie auf je eigene Weise Kirche sind, hat gerade das vergangene Jahr bemerkenswerte Beispiele geliefert. Auch auf absehbare Zeit wird die Ökumene nicht die Gestalt einer organisatorischen Einheit annehmen; sie wird sich auch nicht unter dem römischen Bischof als gemeinsamem Sprecher der Christenheit versammeln. Sie wird vielmehr den Charakter einer - hoffentlich - versöhnten Verschiedenheit tragen.

III. Europa als Wertegemeinschaft

Von Europa als Wertegemeinschaft war in der jüngsten Vergangenheit wiederholt die Rede. Der EU-Vertrag hat dieser Diskussion dadurch Nahrung gegeben, dass er ausdrücklich bestimmt: "Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedsstaaten gemeinsam." Die Charta der Grundrechte für Europa hat der Debatte zusätzlichen Auftrieb gegeben; sie verweist in ihrem ersten Satz auf "gemeinsame Werte" als Grundlage einer friedlichen Zukunft wie einer engeren Union.

Solche Hinweise verdeutlichen, dass die Identität Europas nicht allein durch wirtschaftliche Interessen definiert und auch nicht allein durch politische Institutionen verbürgt werden kann. Die Frage nach den tragenden Kräften Europas ist auch nicht durch den Hinweis auf die Pluralität der regional verwurzelten Kulturen in Europa zureichend beantwortet. Denn es geht gerade um die Frage, wie diese unterschiedlichen Kulturen sich miteinander verbinden und aufeinander beziehen können. Mit der europäischen Pluralität kann nicht das gleichgültige Nebeneinander unterschiedlicher Weltanschauungen gemeint sein. Denn das würde faktisch die Rücknahme der geistigen Orientierung in den Bereich des Privaten und die Preisgabe des öffentlichen Raums an einen nichtssagenden Relativismus bedeuten.

Worum es geht, lässt sich freilich auch nicht durch die Formel vom "christlichen Abendland" beschreiben. Ihr wohnt die Entgegensetzung von Orient und Okzident, von Rom und Byzanz inne; sie ist insofern mit der Ostverschiebung unserer Wahrnehmung unvereinbar, die in der gegenwärtigen Entwicklungsphase Europas unausweichlich ist. Es muss, um das aktuellste Beispiel zu nennen, gelingen, auch Makedonien in den europäischen Wertekonsens einzubeziehen, statt es aus einem abendländischen Europabild auszugrenzen. Die Rede vom Abendland ist zusätzlich durch Oswald Spenglers Diagnose vom "Untergang des Abendlands" verbraucht. Vor allem aber unterstellt die Rede vom christlichen Abendland der europäischen Wertegemeinschaft eine Homogenität, die so nie gegeben war; auch für die Zukunft ist mit ihr nicht zu rechnen.

Noch einmal muss man betonen, dass Europa als Wertegemeinschaft sich einer Mehrzahl von Einflüssen verdankt. Mit den Worten von Kardinal Walter Kasper gesagt: "Antiker Humanismus, neuzeitliche Aufklärung und nicht zuletzt das Christentum in seiner byzantinisch/slawisch-orthodoxen, in seiner lateinisch-katholischen wie in seiner reformatorischen Ausprägung haben sich in das geistige und kulturelle Gesicht Europas unauslöschlich eingeprägt."

So plural diese christlichen wie nichtchristlichen Traditionen sind: im Blick auf das Bild vom Menschen treffen sie in wichtigen Grundelementen zusammen. Gemeinsam haben sie ein Bild vom Menschen hervorgebracht, für das Individualität und Sozialität, Freiheit und Verantwortung in gleicher Weise kennzeichnend sind. Wer sich auf dieses Bild eines seiner selbst bewussten, auf die Gemeinschaft mit anderen angelegten, für Gott offenen Menschen beruft, rückt freilich auch die Kontroversen in den Blick, die sich an dieses Bild heften. Nur durch diese Kontroversen hindurch, nicht an ihnen vorbei kann sich dieses Bild festigen. Dafür sind die Debatten, die von aktuellen Entwicklungen in den Lebenswissenschaften ausgehen, ein eindrückliches Beispiel.

Ist schon alles Notwendige gesagt - so muss man beispielsweise fragen - , wenn die Menschenwürde an die Fähigkeit zur Selbstachtung gebunden wird? Gewiss kann man in der Selbstachtung die herausragende Fähigkeit sehen, die den Menschen vom Tier unterscheidet; aber die Unbedingtheit der menschlichen Würde verlangt gerade, dass die Achtung, die wir einem anderen Menschen entgegenbringen, unabhängig davon ist, ob dieser andere zur Selbstachtung fähig ist und von dieser Fähigkeit Gebrauch macht. Zum Gedanken einer unbedingten Menschenwürde gehört eine Kultur der Anerkennung, die nicht bestimmte Entwicklungsstadien des menschlichen Lebens oder bestimmte Gruppen - Kranke oder Alte beispielsweise - von dieser Anerkennung ausschließt.

Nicht eine Leitkultur braucht Europa, sondern die Verständigung auf eine Kultur der Anerkennung, die auf dem Respekt vor der unantastbaren Würde der menschlichen Person beruht. Nichts gefährdet in meinen Augen diese Kultur der Anerkennung mehr als eine sich ausbreitende Tendenz, die Rede von der Menschenwürde zur bloßen Leerformel zu erklären. Gewiss darf man das Menschenwürdeargument nicht uferlos verwenden, indem man jede Einzelfrage unmittelbar auf die Menschenwürde zurückführt. Die Warnung vor "Uferlosigkeit" darf dagegen nicht dazu missbraucht werden, bestimmte Menschen und Menschengruppen oder auch bestimmte Entwicklungsstufen menschlichen Lebens einfach aus dem Geltungsbereich der Menschenwürde auszuschließen. Nicht nur für die Fragen von Präimplantationsdiagnostik oder "therapeutischem Klonen", sondern auch für die Frage des Schwangerschaftsabbruchs hätte ein solcher Ansatz schwerwiegende Folgen. Der Eingriff zur Beendigung einer Schwangerschaft würde dann nicht mehr als rechtswidrig, wenn auch unter bestimmten Bedingungen als straffrei, sondern als schlechterdings erlaubt und damit als zusätzliche Methode der Familien- oder eher der Geburtenplanung gelten.

Mit einer Kultur der Anerkennung ist eine solche Entwicklung nicht zu vereinbaren. Denn eine Kultur der Anerkennung macht den achtsamen Umgang mit dem werdenden Leben auch dann zur Pflicht, wenn dieses denselben Schutz und dieselbe Fürsorge - trotz der Pränatalmedizin - noch nicht erlangen kann, der dem geborenen Leben zukommt. Solche Stufen wachsender Fürsorgemöglichkeiten können nicht im Sinn ontologischer Trennungen verstanden werden. Dafür kann man auch nicht die Unterscheidung zwischen Mensch und Person in Anspruch nehmen, wie sie sich in der Charta der Grundrechte für Europa findet. Denn jeder Mensch ist darauf angelegt, Person zu sein; die Personrechte dürfen deshalb nicht von Voraussetzungen abhängig gemacht werden, deren Definition dem Staat, den Eltern oder wem auch sonst überlassen wird. Die Stärke des Personbegriffs würde damit gerade verspielt. Denn sie besteht darin, dass der Mensch als Person niemals bloß als Sache, als Mittel zu einem Zweck behandelt werden darf. Auf allen Entwicklungsstufen und in allen Lebenssituationen wird und ist er ein Jemand, nicht nur ein Etwas. Niemand hat deshalb ein Recht, ihn aus einem Jemand zu einem Etwas zu machen.

Die Unbedingtheit der Menschenwürde zeigt sich schließlich daran, dass die Rechtsgemeinschaft sich nicht damit abfindet, wenn ein Mensch rechtlos gemacht wird. Solche Rechtlosigkeit ist auch heute häufig politisch verursacht; deshalb stellt die Rechtsordnung politisch Verfolgte und Flüchtlinge unter besonderen Schutz. Die Frage nach den Standards eines gemeinsamen europäischen Asylrechts ist deshalb von erheblichem Gewicht. Rechtlos werden Menschen aber auch, wenn sie von einzelnen oder Gruppen verächtlich gemacht werden und Gewalt erleiden, ohne ausreichenden Schutz zu finden. Der gemeinsame Widerstand gegen Denkweisen, die Minderheiten diskriminieren und Fremde ausgrenzen, die Gewalt verharmlosen oder selbst ausüben, ist deshalb eine wichtige Dimension einer europäischen Wertegemeinschaft.

Die Unbedingtheit der Menschenwürde ist der eine, die Verbindung von Individualität und Sozialität ist der andere Eckpfeiler eines gemeinsamen Menschenbilds, ohne das von Europa als einer Wertegemeinschaft nicht die Rede sein kann. Der Staat hat es nicht in der Hand, dass Menschen sich auf verbindliche Lebensformen einlassen. Aber die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die er schafft, können das gemeinsame Leben in verbindlichen Lebensformen fördern oder erschweren. Deshalb verdienen Ehe und Familie nach wie vor die besondere Förderung des Staates. Aber auch für andere Verantwortungsgemeinschaften muss es einen angemessenen Rechtsrahmen geben.

Freiheit und Verantwortung miteinander zu verbinden, ist darüber hinaus die Grundidee der Demokratie. Nachdem mit dem Ende der kommunistischen Diktaturen in Europa auch das kollektivistische Menschenbild ein Ende gefunden hat, besteht die große Aufgabe darin, ein Menschenbild zu entwickeln und zu fördern, das Freiheit und Verantwortung in ihrem Zusammenhang sieht. Daraus, dass der Kollektivismus hinter uns liegt, folgt keineswegs zwangsläufig, dass nun einem isolierten Individualismus das Feld zu überlassen sei. Denn eine Freiheitsauffassung, für welche das Wesen der Freiheit in ihrem willkürlichen Gebrauch besteht, löst sich nicht nur aus der Verbindung mit einem christlichen Begriff der Freiheit, sondern aus der europäischen Tradition überhaupt. Auch die Aufklärung beispielsweise bekennt sich dazu, dass der vernünftige Gebrauch der Freiheit dem gemeinsamen Leben mit anderen nicht entgegensteht. Gerade in ihrer Freiheit ist die einzelne Person auf ihr Zusammensein mit anderen angelegt. Deshalb hebt die Vorstellung von der Autonomie der freien und selbstbestimmten Person die Verantwortung für das gemeinsame Leben nicht auf, sondern begründet sie. In diesem Sinn erwächst die Verantwortung aus der Freiheit.

Der Umgang mit dem Wahlrecht ist für diesen Gedanken ein anschauliches Beispiel. Obwohl eine Wahlverweigerung aller Bürgerinnen und Bürger die Demokratie obsolet machen würde, verzichten die allermeisten Staaten aus gutem Grund darauf, das Wahlrecht mit einer Wahlpflicht zu verbinden. Denn damit würden sie dem Gedanken widersprechen, dass die Verantwortung für das gemeinsame Leben aus Freiheit wahrgenommen wird. In diesem sehr praktischen Sinn ist der Verfassungsstaat auf Voraussetzungen angewiesen, die er selbst nicht garantieren kann. Die Bereitschaft zur Verantwortung aus Freiheit kann er nicht selbst hervorbringen. Sie muss sich aus anderen Quellen speisen.

Von einer Wertegemeinschaft kann schließlich nur die Rede sein, wenn Verantwortung für Frieden, Gerechtigkeit und Naturbewahrung in den eigenen Grenzen wie über die eigenen Grenzen hinaus praktiziert wird. Europa kann es sich im Innern nicht leisten, mit einer wachsenden Kluft zwischen Reich und Arm zu leben. Politische Integration - insbesondere auch der Staaten in Mittel- und Osteuropa, die sich auf den Beitritt zur Europäischen Union vorbereiten - heißt deshalb auch, an der Vergleichbarkeit der Lebensbedingungen im größeren Europa zu arbeiten. Dass die Dynamik der Wirtschaft nicht spaltend wirkt, die überwundenen Gräben in Europa wieder vertieft, die sozialen Ungleichheiten verschärft - das ist eine Aufgabe, die jeden Einsatz verdient. Alles Bemühen um einen Konsens über europäische Werte verpufft, wenn sich in Mittel- und Osteuropa der Eindruck durchsetzt, dass es doch einzig und allein auf die Durchsetzung wirtschaftlicher Machtinteressen ankommt. Gerade für die europäischen Übergangsgesellschaften ist die Frage von großer Bedeutung, ob denn eine europäische Wertorientierung auf den faktischen Gang der europäischen Entwicklung einen erkennbaren Einfluss hat; sie werden nämlich andernfalls zu der Einschätzung kommen, das Bemühen um europäische Werte sei ein folgenloses Alibiunternehmen. Ob die Bändigung der Marktwirtschaft in sozialer wie ökologischer Hinsicht gelingt, ist deshalb für die politische Kultur des größer werdenden Europa von ganz außerordentlicher Bedeutung. Das Zutrauen zu einer solchen Bändigung und die Bereitschaft zu demokratischer Mitverantwortung stehen miteinander in unmittelbarer Wechselwirkung.

Europa kann sich aber auch nach außen nicht als eine Insel der Reichen abschotten, sondern muss dazu beitragen, dass die ärmeren Regionen der Erde faire Chancen erhalten. Es muss nicht nur im Innern einen Umgang mit den natürlichen Ressourcen praktizieren, der mit dem Gebot der Nachhaltigkeit vereinbar ist; es muss den eigenen Ressourcenverbrauch auch daran messen, welche ökologischen Folgen ein vergleichbarer Ressourcenverbrauch in anderen Weltgegenden nach sich zieht.

Eine Kultur der Anerkennung wie eine Balance zwischen Freiheit und Verantwortung sind auf eine Erneuerung der Kräfte angewiesen, die Europas Identität in der Geschichte auf je neue Weise geprägt haben: auf den Geist von Wissenschaft und Kunst, auf die Herrschaft des Rechts, auf die Quellen der Religion. Mir liegt der Gedanke fern, dass die Religion allein für eine solche europäische Identität maßgeblich ist. Aber genauso fern liegt mir die Vorstellung, dass diese Identität ohne die Quellen der Religion auskommt. Auch für Europa gilt Tocquevilles Satz: "Der Despotismus kommt ohne Glauben aus, die Freiheit nicht."

Deshalb verdient die Frage unsere Aufmerksamkeit, wie das werdende Europa mit den Quellen des Glaubens umgeht. Dabei beschäftigt mich nicht so sehr die Frage, ob die am 7. Dezember 2000 proklamierte Charta der Grundrechte für Europa den Gottesbezug ausdrücklich zur Sprache bringt. So wünschenswert das wäre, so sehr muss man respektieren, dass der Konvent unter Roman Herzogs Vorsitz dem Pluralismus in Europa an dieser Stelle Tribut gezollt und nur von dem "geistig-religiösen und sittlichen Erbe" der Europäischen Union gesprochen hat. Wichtiger ist die Frage, ob die Religionsfreiheit nicht nur in individueller, sondern auch in korporativer Hinsicht sowie nicht nur in ihrer negativen, sondern auch in ihrer positiven Bedeutung gewürdigt wird. Hier kann man nicht bestreiten, dass in den Beratungen über die Grundrechtecharta wirkliche Fortschritte erzielt wurden. Ausdrücklich heißt es nun: "Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen." In diesen Zusammenhang gehört auch die Erklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam, die feststellt: "Die Europäische Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Die Europäische Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise." Schließlich hat auch die Richtlinie vom 27. November 2000 über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen Rechnung getragen und abweichend von früheren Entwürfen eingeräumt, dass für die Kirchen die Religionszugehörigkeit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine wesentliche berufliche Anforderung darstellt.

Es ist keineswegs selbstverständlich, dass Europa sich seiner religiösen und kulturellen Wurzeln erinnert und seine spirituellen und ethischen Quellen erneuert. Doch dass alle Zeichen dagegen stünden, stimmt nicht. Es liegt vielmehr an uns allen, dass Europa sich nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft versteht, sondern sich zur Wertegemeinschaft entwickelt. Wir brauchen nicht dem Missverständnis Vorschub zu leisten, als drehe sich in Europa alles um das Kapital und seine Verzinsung. Es ist auch nicht unausweichlich, dass Europa einfach mit dem Euro gleichgesetzt wird. Für die Arbeit an der religiösen und kulturellen Identität Europas ist es nicht zu spät. Aber diese Aufgabe muss angepackt werden - so wie die Europa der griechischen Sage den Stier bei den Hörnern nahm. Ob die europäische Idee für unsere Breiten, wie manche sagen, die "letzte Utopie" sei - wer kann das wissen? Aber geschichtliche Gnade hat uns die Möglichkeit eröffnet, dass das größere Europa nicht Utopie bleibt, sondern Wirklichkeit wird.