„Vaterunser“ mitten im Rummel

Die evangelische Circus- und Schaustellerseelsorge kümmert sich um eine große reisende Gemeinde

Riesenrad auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin
Besuche auf dem Rummel, Trauungen im Zelt, Beerdigungen, Taufen und Konfirmandenunterricht für die Kinder: Das zählt zu den Aufgaben von Torsten Heinrich, der die Seelsorge für Schausteller und Circusleute der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) leitet.

Vor der „Silbermine“ fegen die Losverkäufer Berge bunter Papierschnipsel zusammen. „Wilde Maus“, Riesenrad und Geisterbahn haben den Betrieb eingestellt und ragen regungslos in den Nachthimmel. Feierabend auf dem Bremer Freimarkt, der zu den größten und ältesten Volksfesten Deutschlands zählt. Doch nicht überall gehen die Lichter aus: In der „Schwarzwald-Christel“ füllen sich jetzt kurz vor Mitternacht die Tische, werden Bier, Wein und große Platten mit Brotzeit geordert. Nach Dienstschluss strömen die Schausteller Donnerstagnacht zum Mitternachts-Gottesdienst in die Festkneipe.

„Der Gottesdienst passt zum rustikalen Charakter des Freimarktes“, freut sich der Vorsitzende des Bremer Schaustellerverbandes, Rudolf Robrahn, über den Termin zu später Stunde. „Da wird das Unmögliche möglich gemacht – zu einer anderen Zeit könnten wir ja auch gar nicht kommen.“

„Die Menschen hier sind so herrlich direkt“

Mittlerweile hat sich die Bremer Schausteller-Pastorin Ingrid Witte zwischen Theke, improvisiertem Altar und ausgestopften Wildschwein-Köpfen an der Wand den Talar übergeworfen, das Beffchen gerichtet und die Stola mit Kirmes-Ornamenten glatt gezogen. „Herzlich willkommen, schön, dass so viele da sind“, begrüßt sie die laut schwatzende Gemeinde mit einem Lächeln.

Im Publikum sitzt auch Torsten Heinrich, der seit knapp drei Jahren als einziger Hauptamtlicher mit voller Stelle die Seelsorge für Schausteller und Circusleute der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) leitet. „Die Menschen hier sind so herrlich direkt“, schwärmt er von seiner Gemeinde, zu der bundesweit schätzungsweise rund 23.000 Schausteller, Artisten und auch Puppenspieler gehören. Genau wie sie ist der sächsische Pfarrer ständig auf Achse, hat in Bremen gerade einen Konfirmanden besucht.

Im Gottesdienst duftet es nach Mett und Zwiebeln

Zwischenzeitlich heizt der Gospelchor der Bremer Domgemeinde die Stimmung auf. In den Bänken wird geschunkelt. Zwischen Gebet, Psalm-Lesung und Ansprache klirren die Gläser, Beifall für den Chor brandet auf, es duftet nach Mett und Zwiebeln. „Für die meisten Schausteller ist die Bindung zur Kirche wichtig, Zusammenhalt und Solidarität zwischen den Familien sind groß“, sagt Heinrich. Vielleicht habe das auch mit der Mobilität zu tun und mit dem Glauben, dass es einen gebe, der immer da sei, egal, wo das Karussell gerade aufgebaut werde: „Und das ist Gott.“

Besuche auf dem Rummel, Trauungen im Zelt, Beerdigungen, Taufen und Konfirmandenunterricht für die Kinder der reisenden Gemeindemitglieder gehören zu den Aufgaben von Heinrich. In den Regionen kooperiert er mit ehren- und nebenamtlichen Kolleginnen und Kollegen, zu denen Ingrid Witte zählt. Der Rummel sei ein Geschäft, das von vielen Variablen wie Wetter, Publikumszuspruch und Technik abhängig sei und die man nicht unbedingt in der Hand habe, sagt die Bremer Dompastorin. „Da nehmen viele Schausteller häufiger als andere das Wort Gott in den Mund.“

„Lass mich bedenken mein Vorrecht...“

„Unter den Schaustellern sind die wenigsten Atheisten“, bestätigt Robrahn, der auf dem Freimarkt Fahrgeschäfte und Gastronomie betreibt. „Wir sind so erzogen worden. Und außerdem haben ja auch viele Volksfeste einen kirchlichen Ursprung“, ergänzt der Mann, der einer Bremer Schausteller-Dynastie angehört.

Die „Christel“ ist mittlerweile pickepackevoll, doch immer noch kommen Schausteller herein, die eben erst ihr Geschäft geschlossen haben. Nach Wittes launiger Predigt zur Reformation und kurz vor dem „Vaterunser“ sausen die Kellner noch einmal zu den Tischen und servieren eine neue Lage Bier. Am Ende sprechen viele mit der Pastorin das traditionelle Schaustellergebet mit, das den Schlusspunkt setzt: „Lass mich bedenken mein Vorrecht, als Schausteller Freude und Vergnügen zu bringen allen Menschen, besonders aber der Jugend, den Einsamen und denen, die vom Glück benachteiligt sind.“

Dieter Sell (epd)