Gerechte Teilhabe - Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität.

Eine Denkschrift des Rates der EKD zur Armut in Deutschland, Juli 2006

Vorwort

Seit ihren Anfängen steht die christliche Kirche an der Seite der Armen. Immer wieder ist dieser Auftrag ins Bewusstsein gehoben und im praktischen Handeln bewährt worden. Er bestimmt das Engagement von Kirchen, Gemeinden, diakonischen Einrichtungen und vielen Einzelnen. Die lateinamerikanische Befreiungstheologie hat diesen biblisch begründeten Auftrag als »vorrangige Option für die Armen« überzeugend charakterisiert und unüberhörbar ins Gedächtnis gerufen In seiner allgemeinen Form sagt der damit formulierte Konsens: Armut muss, wo möglich, vermieden und dort, wo es sie dennoch gibt, gelindert werden.

Diese Grundeinsicht muss in konkretes Handeln umgesetzt werden. Die Armutsorientierung des kirchlichen und diakonischen Handelns muss sich angesichts neuer Herausforderungen verstärken. Zugleich verpflichtet die öffentliche Verantwortung der Kirche zu klaren Empfehlungen an die gesellschaftlichen, politischen und staatlichen Akteure. Diese doppelte Aufgabe bestimmte das Gemeinsame Wort des Rates der EKD und der katholischen Deutschen Bischofskonferenz »Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit« aus dem Jahr 1997. Auch die wichtigen vorangegangenen und nachfolgenden Denkschriften und Texte des Rates der EKD und der Kammer der EKD für soziale Ordnung sowie zahlreiche Stellungnahmen aus aktuellen Anlässen sind von dieser Grundorientierung bestimmt. Das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland, das die EKD unter anderem in der Nationalen Armutskonferenz und in den Beratergremien zum Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vertritt, engagiert sich in diesen Fragen kontinuierlich und kompetent.

In den Debatten über die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und über andere sozialpolitische Reformvorhaben hat die Evangelische Kirche in Deutschland immer wieder hervorgehoben, dass strukturelle Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik, die dem Ausschluss vieler Menschen aus den Möglichkeiten gesellschaftlicher Beteiligung entgegenwirken, ebenso wichtig sind wie Reformen in den staatlichen Unterstützungsleistungen, die sicherstellen, dass der Sozialstaat seiner Aufgabe nachhaltig und dauerhaft nachkommen kann. Damit, dass die vorliegende Denkschrift diese Fragen im Zusammenhang bedenkt, vertieft und konkretisiert sie bisherige sozialethische Überlegungen in einem besonders wichtigen Bereich.

Die Kammer der EKD für Soziale Ordnung ist bei ihrer Arbeit zu der Überzeugung gelangt, dass die beiden gerade genannten Themenbereiche gemeinsam bedacht werden müssen; sie hat deshalb dem Rat der EKD den Entwurf einer Denkschrift zur Armut in Deutschland vorgelegt, die auch Arbeitsmarktfragen zum Gegenstand hat. Der Rat hat sich diesen Text bei seiner Sitzung am 20. Mai 2006 zu Eigen gemacht und beschlossen, ihn als Denkschrift des Rates der EKD zu veröffentlichen.

Allen Beteiligten ist bewusst, dass für die hiermit der Öffentlichkeit vorgelegte Denkschrift schwierige Abgrenzungen vorzunehmen waren. Ausdrücklich weist die Denkschrift selber darauf hin, dass »Armut« nicht ohne »Reichtum« und »Armut in Deutschland« nicht ohne »Armut weltweit« diskutiert werden kann. Aus guten Gründen konzentriert sich die Denkschrift gleichwohl auf das Problem der Armut in Deutschland. Sie nimmt eine sorgfältige Differenzierung des Problems vor und unterzieht die bisher verwendeten Kategorien und Grenzziehungen einer präzisen Kritik.

Auch in unserem reichen Land gibt es materielle Armut, viel häufiger aber gibt es mangelnde Teilhabe in einem Bereich, der besser als »Armutsrisiko« bezeichnet wird. Den davon betroffenen Menschen ist am wirkungsvollsten mit einer Integration in den Arbeitsprozess geholfen; wichtigste Bedingungen dafür sind gute Bildung und gute Ausbildung. Für eine Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten müssen aber auch die materiellen Voraussetzungen geschaffen werden, sodass die bisher vielfach behauptete Kontroverse zwischen Verteilungsgerechtigkeit und Chancengleichheit zu Gunsten einer differenzierten Verschränkung beider Blickrichtungen überwunden wird. Ohne materielle Verteilungsgerechtigkeit läuft Chancengleichheit ins Leere. Aber ohne die Schaffung von Teilhabegerechtigkeit – insbesondere im Bildungssystem und am Arbeitsmarkt – ist der traditionelle Verteilungsstaat unvollkommen. Diese differenzierte Erkenntnis wird der Rat der EKD zum Ausgangspunkt seines weiteren Engagements in diesen Fragen machen.

Ich danke der Kammer der EKD für Soziale Ordnung für ihre gründliche und weiterführende Arbeit und bin zuversichtlich, dass diese Denkschrift sich für die weitere Diskussion als fruchtbar erweisen wird. Zugleich hoffe ich, dass diese Denkschrift mit ihren Vorschlägen zu neuen Einsichten in Staat und Gesellschaft führt und dass das Ausmaß zurückgeht, in dem es nötig ist, von »Armut« und »Armutsrisiko« in Deutschland zu sprechen.

Hannover, im Juni 2006

Bischof Dr. Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates der EKD

 

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