Predigt am Reformationstag 2018 in der Wittenberger Schlosskirche

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Es gilt das gesprochene Wort

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist. (Galater 5, 1-6)

Liebe Gemeinde,

zur Freiheit hat uns Christus befreit! Das ist es, was Paulus uns zuruft an diesem so besonderen Tag, dem Reformationstag 2018, 501 Jahre nach der Veröffentlichung von Luthers 95 Thesen hier in Wittenberg und ein Jahr nach dem großen Reformationsjubiläumstag, auf den so viele so lange hingearbeitet hatten, ganz besonders auch hier in der Schlosskirchengemeinde, und der dann ein so wunderbarer Tag geworden ist. Zur Freiheit hat uns Christus befreit! Welche Botschaft könnte besser passen für diesen Tag!? Denn der Reformationstag ist der Tag der Freiheit!

Er ist der Tag der Freiheit von Angst in einer Zeit, in der die Sorge um die Zukunft uns zu lähmen droht. Er ist der Tag der Freiheit von all den selbstauferlegten Gesetzen, die uns heute vom echten Leben abschneiden, in einer Zeit, in der wir all den Selbstoptimierungen, den Ansprüchen, dem Erfolgsdruck, so oft vergeblich gerecht zu werden suchen. Er ist der Tag der Freiheit zur Liebe in einer Zeit, der die Algorithmen der digitalen Welt den Hass nach oben spülen, so dass er die Herzen der Menschen vergiftet und viele dadurch den falschen Eindruck gewinnen, alles würde schlechter und schlimmer werden.

In einer solchen Zeit sagt Paulus; In Christus Jesus gilt nicht Angst, nicht Druck, nicht Hass, sondern der Glaube, der aus der Liebe lebt und der durch die Liebe tätig ist. In einer solchen Zeit steht der Reformationstag für eine wahrhaft erlösende Botschaft: Du musst Dich nicht länger knechten lassen von all dem, was Dich herunterzieht: Du darfst ganz aus der Gnade leben. Du darfst ganz aus der Liebe leben. Du darfst ganz aus der Freiheit leben.

Das ist das Grundgefühl, das unser verunsichertes Land so dringend braucht. Und deswegen ist es gut, dass mehrere norddeutsche Länder diesen Tag nun zum ersten Mal auch als gesetzlichen Feiertag feiern und die Freiheit auch ganz handfest als Freiheit von der Arbeit erfahren dürfen.

Was innere und äußere Freiheit heißt, hat Martin Luther, an dessen Grab hier in der Wittenberger Schlosskirche wir heute diesen Reformationsgottesdienst feiern, nach dem 31. Oktober 1517 in vielen Predigten und Traktaten im Herzen bewegt. Von ihm gibt es keine „summa theologiae“ wie bei Thomas von Aquin oder anderen großen Lehrern der Theologie. Denn er war nie fertig. Immer wieder hat er neue Aspekte gesehen, neue Einsichten gewonnen, neue Entdeckungen gemacht.

Es gibt eine kleine Schrift aus dem März 1518, also wenige Monate nach den 95 Thesen, die wir heute leicht übersehen, die aber eine der erfolgreichsten Schriften Luthers überhaupt wurde. Es ist der „Sermon von Ablass und Gnade“, eine in 20 Thesen ausgeführte Kritik an der Ablasspraxis, die so gründlich und fundamental ausfiel, dass mit dieser Schrift nichts weniger als das Ende des Geschäftsmodells „Ablasswesen“ eingeleitet war.

Worum ging es in dieser „Predigt von Ablass und Gnade“? Uns kommen die damaligen Fragen ja in aller Regel weit entfernt vor. Im Kern aber ging es um eine Frage, die wir heute genauso kennen wie die Menschen damals: Wie kann mein Leben wieder heil und hell werden, wenn ich belastet bin von Angst, Unsicherheit und Selbstzweifel?

Die alte Weisheit der Kirche lautete, dass die Seele durch einen dreifachen Schritt wieder heilen kann: Zuerst muss der Menschen Reue über seine Situation empfinden, damals sprach man martialisch von der „Zerknirschung des Herzens“, denn nur diese Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit gerade gegenüber sich selbst kann den Zugang zur Heilung eröffnen. Ich glaube, dass verstehen wir auch heute ohne tiefere psychologische Kenntnis, dass nur die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber die Möglichkeit schafft, anders zu denken, zu leben und zu wirken.

Der nächste Schritt dieser alten seelsorgerlichen Weisheit ist das Aussprechen und Eingestehen dessen, was schwer lastet auf der Seele. Man soll von seinem Kummer, seiner inneren Not einem anderen erzählen, damit es leichter wird. Damals war die Form das Bekenntnis vor den Ohren des Priesters. Aber man kann unschwer Parallelen zur heutigen Weisheit der Psychologen finden, denn erst wenn man seine innere Last und verzweifelte Einsamkeit ausgesprochen hat – heute oft eher bei Partner und Freunden als im Beichtstuhl –, erst dann kann man so etwas wie Entlastung oder Befreiung erleben. Und tatsächlich war dies damals die Aufgabe des Priesters bei einer Beichte: „ego te absolvo – im Namen der Kirche spreche ich dich frei“ – so lauteten die Worte, die der Priester sagen sollte, wenn jene beiden Schritte getan waren.

Und erst dann und danach sollte der Priester auch noch festlegen, wie der Mensch nun nach Reue, Beichte und Freispruch ein neues Leben gestalten soll: Werke der Genugtuung sollten einen neuen Weg zum Leben eröffnen, sollten wegbringen von den schweren dunklen Wegen und Taten und helfen, helle Wege zu gehen und nicht den Beichtenden erniedrigen. Ich glaube schon, dass man diese sicherlich ideal beschriebene geistliche Weisheit der Schrittfolge auch heute noch nachempfinden kann. Und es ist keine neue Einsicht, dass viele Aspekte dieser Weisheit in heutige psychologische Beratungen eingeflossen sind.

Aber genau an dieser Stelle wurde mit dem Ablasswesen diese Weisheit der Befreiung missbraucht zu einem unlauteren Geschäftsmodell. Denn nun wurden aus der Genugtuung als Weg zur Umkehr und Heilung Strafauflagen der Kirche, von denen man sich durch den Ablass freikaufen konnte. Luther läutet mit seinem kleinen Sermon das Ende dieses Geschäftsmodell ein.

Man kann – sagt er – „aus keiner Schriftstelle begründen…, dass göttliche Gerechtigkeit überhaupt irgendeine Strafe oder Genugtuung fordert von dem Sünder außer seiner herzlichen und wahren Reue und Bekehrung“. Luther erinnert an die biblische Botschaft, dass Gott kein strafender, sondern barmherziger Gott ist, der die Bekehrung des Sünders will, nicht seine Bestrafung. Damit ist dem ganzen Ablasswesen der Boden unter den Füssen weggezogen.

Der berühmte Satz des Ablasspredigers Tetzel entpuppt sich als reine Lüge: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt!“ Denn wenn Gott uns allein aus Gnade und Güte vergibt, braucht`s keinen Pfennig mehr.

Liebe Gemeinde, kann man sich heute noch vorstellen, welch ein Aufatmen, welche Erleichterung, welch eine Befreiung durch die christliche Welt zog mit dieser kleinen Schrift? Plötzlich braucht eine ganze Generation, ein ganzer Kontinent nicht mehr Angst zu haben vor Gottes Strafen. Plötzlich ist eine Generation befreit von der Sorge um die Seelen der Vorväter und -mütter, plötzlich kann sie Zuversicht und Hoffnung haben, weil sie von Gottes Gnade und der eigenen Freiheit hört. Manchmal denke ich fast ein wenig neidisch an diese Generation, in der plötzlich die kleine Magd und der hohe Herr befreit wurden von dem mentalen Druck, der auf allen Seelen lastete. Und man kann dieses Aufatmen fast noch ein bisschen raushören, wenn man die Lieder der Befreiung heute singt, die damals nicht nur bei Luther entstanden.

Was damals galt, gilt heute genauso: Angst zu machen ist ohne Segen! Wir haben auch heute allen Grund, die Angstmacher und falschen Ablassprediger zu stellen: Niemand wird befreit dadurch, dass er andere ausgrenzt. Keine Seele springt aus irgendeinem Kasten, wenn man die Türen zuknallt und Skandalisierungen schürt. Nichts wird heiler dadurch, dass man einseitig die Schuld anderen Religionen gibt oder dass man das Schwarze vom Himmel erfindet und Gott zu einem abendländischen, nationalen, oder sonstwie verengten Gott macht. Ich glaube, wir brauchen wie damals auch heute eine Welle der Zuversicht. Wir brauchen Mutgeschichten zum Weitererzählen, nicht weil wir keine Probleme hätten, nicht weil schon alle Probleme gelöst wären, sondern weil wir uns nicht einschüchtern lassen. Und wir können mit Paulus diese innere Zuversicht und souveräne Freiheit gegenüber allen Angstpropheten klar bekennen: Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Denn in Christus Jesus gilt nicht irgendein von außen auferlegtes Gesetz, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist. Unser Bruder in Christus Martin Luther hat uns die Freiheit eines Christenmenschen so eindrucksvoll ins Stammbuch geschrieben: „Sieh so fließ aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies williges fröhliches Leben dem Nächsten umsonst zu dienen.“

Lasst uns aus dieser Freiheit eines Christenmenschen leben. Lasst uns diese Freiheit ausstrahlen. Lasst uns die Liebe ausstrahlen, die aus dieser Freiheit kommt. Und lasst uns hoffen! Lasst uns grenzenlos hoffen! Denn diese Welt liegt in Gottes Hand. Sie hat ein Ziel. Das Ziel ist nicht Verderben, sondern Heil.

Weil wir aus dieser Gewissheit leben dürfen, weil wir aus dieser Gewissheit neu werden dürfen, deswegen ist der Reformationstag, der von alledem erzählt, ein Tag der Freiheit!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herze und Sinne in Christus Jesus.

AMEN