Impuls zu Weihnachten 2020: „Werde Mensch!“

Horst Gorski, Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD und Leiter des Amtes der VELKD

„Mach’s wie Gott, werde Mensch!“ Mit diesem berühmten Satz lässt sich die Weihnachtsbotschaft zusammenfassen. Gott ist Mensch geworden in Jesus Christus. Auf seinen Spuren sollen wir ihm nachfolgen! Das Evangelium in die Welt zu tragen, heißt: Menschlich zu sein, Menschlichkeit zu verbreiten, Nächstenliebe, Toleranz und Gerechtigkeit.

Denn im Zentrum der Weihnachtsbotschaft steht das Kind – Gott selbst mit menschlichem Antlitz. Die Botschaft hören zuallererst die, die am Rand der Gesellschaft stehen, und die ersten Gratulanten werden in der Tradition als Gruppe dargestellt, die wir heute als multikulturell bezeichnen würden. Das sind starke Bilder für Menschlichkeit, Nächstenliebe und Toleranz, die uns geprägt haben. Doch ist eigentlich so klar, dass dies der Kern des Evangeliums ist? Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es immer im Wandel war, was man zu verschiedenen Zeiten als Kern des Evangeliums verstand. Man legte auch die Heilige Schrift unterschiedlich aus, suchte immer wieder neu nach ihrer Mitte.

Bis zum Ende des Mittelalters waren Tugend, Gehorsam und Buße zentrale Begriffe christlichen Lebens. Mit dem Buchdruck und seinen Möglichkeiten, die Bibel, Flugblätter, aber auch Bücher über theologische und gesellschaftliche Themen für nahezu alle Menschen zugänglich zu machen, trat ein dynamischer Wandel der Werte ein, jetzt wurde diskutiert und gestritten! Mit der Aufklärung trat das Individuum in die Mitte der Gesellschaft. Freiheit, Verantwortung und Toleranz wurden zu zentralen Werten des Miteinanders. Auch das Verständnis des Evangeliums veränderte sich: Liebe, Toleranz, Freiheit, Übernahme von Verantwortung und offene Gesellschaft wurden nun auch zu Kennzeichen der Verwirklichung des Evangeliums in der irdischen Welt. Wie solche verschlungenen Wandlungen miteinander verbunden sind, lässt sich nicht einfach sagen. Am besten spricht man „koevolutionär“: Technische, gesellschaftliche und religiöse Entwicklungen geschehen Hand in Hand.

Es kann sein, dass jede Zeit dazu neigt, ihre Deutung des Evangeliums für die Letztgültige zu halten, so als sein man nun endlich am Gipfel der Geschichte angekommen und habe erkannt, wie das Evangelium „eigentlich“ zu verstehen ist. Aber jedes Verständnis des Evangeliums ist zeitgebunden. Die Geschichte geht weiter und wird auch über unsere Zeit und ihre Einsichten hinweggehen. Es gibt sogar schon Zeichen einer Veränderung, in der wir uns bereits befinden. Die Klimakrise, die Flucht- und Migrationsbewegungen, der global aufgestellte Terrorismus wie die internationalen Finanzmärkte haben – so unterschiedlich sie sind – eines gemeinsam: Sie werfen Fragen nach einem Kontrollmechanismus auf und wecken Ängste vor Kontrollverlust. Die Digitalisierung kann dazu als die technische Kunst gesehen werden, die diese Entwicklungen in ihrer Globalität und Geschwindigkeit erst ermöglicht. Nicht zuletzt wirft der Computer, mit dem erstmals ein Akteur an der Kommunikation teilnimmt, der „sich auf sein eigenes, von außen nicht einsehbares Gedächtnis beruft, während er sich an einer Kommunikation beteiligt, die es bis dato nur und ebenso gedächtnisgestützt mit den Bewusstseinssystemen von Menschen zu tun hatte“ (so der Soziologe Dirk Baecker), das Thema des Kontrollüberschusses bzw. Kontrollverlustes auf. 

Die Corona-Pandemie führt uns dieses Thema erstmals in einer Weise am Thema Gesundheit vor Augen, die unübersehbar tief in unser aller Leben eingreift: Die Kontrolle der Zahl der Neuinfektionen wird zum Maßstab, an dem alles Handeln auszurichten ist. Dem folgen auch die Kirchen: Alles kirchliche Leben bis zur Frage, ob Gottesdienste überhaupt in Präsenz stattfinden können und wenn ja, unter welchen Bedingungen, wird daran ausgerichtet, dass die Kontrolle über die Neuinfektionen gewährleistet sein muss. Das ist das beherrschende Thema dieses Weihnachtsfestes 2020, das mit Kreativität, Engagement und viel geistlichem Mut in den Kirchengemeinden angepackt wird.

Zugespitzt könnte man sagen: Wir feiern das Weihnachten im Jahre 1 des Zeitalters der Pandemien. Damit stehen wir mitten drin in einem gesellschaftlichen Wandel, in dem neu ausgehandelt werden muss, wie Freiheitsrechte und Lebensschutz, soziale und wirtschaftliche Interessen, Bildungschancen und auch die offene Gesellschaft mit offenen Grenzen in Europa und weltweiten Reisemöglichkeiten zueinander in eine neue Balance kommen können. Wenn die These koevolutionärer Entwicklungen richtig ist, dann wird sich mit diesem Wandel auch unser Verständnis dessen, was der Kern des Evangeliums ist, verändern. Die frohe Botschaft von der Geburt des Gottessohnes wird auf neue Bezugspunkte stoßen wie Kontrolle über ein Infektionsgeschehen, Fürsorge für verletzliche Gruppen, Sicherheit im öffentlichen Leben, Schutz der Landesgrenzen. Entscheidend wird sein, dies nicht einfach geschehen zu lassen, sondern uns als Kirchen und jede und jeder Einzelne als Christinnen und Christen daran engagiert zu beteiligen, uns einzumischen. Was bedeutet es, in dieser veränderten Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen, „Mensch“ zu sein, menschlich zu handeln?

„Mach’s wie Gott, werde Mensch!“ Es ist Gott, der in die Welt kommt. Mit unserem Handeln, mit aller Menschlichkeit und Liebe und Fürsorge werden wir immer nur einen schwachen Abglanz seines Handelns abbilden können. Deshalb können wir den Wandel mit Gelassenheit betrachten und uns mit christlicher Fröhlichkeit einmischen. Denn unser Verständnis des Evangeliums wird den Kern nie voll erfassen. Gottes Kommen in die Welt bleibt ein Geheimnis, und das ist gut so. Der gute Ausgang unseres Lebens liegt nicht in unserer, sondern in Gottes Hand. Deshalb verkündigen wir auch nach 2000 Jahren mit den Engeln von Bethlehem: „Fürchtet euch nicht, denn euch ist heute der Heiland geboren!“


Horst Gorski
Hannover, Dezember 2020