Kurschus: Deutsch-polnische Beziehungen sind „unerlässlicher Beitrag zur Versöhnung in Europa“

Die stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende und westfälische Präses predigt beim Friedensgottesdienst in Warschau

Bielefeld/Warschau (epd). Die stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW), Annette Kurschus, predigt beim deutsch-polnischen Friedensgottesdienst am 31. August in Warschau. Zu Polen hat die EKD-Beauftragte für die deutsch-polnische Beziehungen zahlreiche biografische Bezüge. Im Interview spricht sie über die Herausforderungen für das deutsch-polnisches Verhältnis nach dem Zweiten Weltkrieg, den Beitrag der Kirchen zur Versöhnung beider Länder und die Bedeutung der „Ostdenkschrift“ der EKD von 1965.

Portrait von Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und stellvertretende Ratsvorsitzende der EKD

Die intensive Pflege deutsch-polnischer Beziehungen erlebt die stellvertretende Ratsvorsitzende der EKD und westfälische Präses Annette Kurschus als einen unerlässlichen Beitrag zur Versöhnung in Europa. Sie ist die Beauftragte des Rates der EKD für deutsch-polnische Beziehungen, die der Theologin „ein echtes Herzensanliegen“ sind.

Welches sind die wichtigsten Herausforderungen für ein versöhntes deutsch-polnisches Verhältnis nach dem Zweiten Weltkrieg?

Kurschus: Als erstes gilt es, einander aufmerksam zuzuhören. Nur so nehmen wir einander wirklich ernst und gewinnen eine Ahnung davon, was die Menschen auf der jeweils anderen Seite bewegt. Dies ist die wichtigste Voraussetzung für gegenseitiges Verstehen und versöhnende Schritte aufeinander zu. In langen Gesprächen habe ich gelernt, wie tief in Polen die Erfahrung sitzt, zwischen mächtigen Nachbarn eingezwängt und über Jahrzehnte ohne staatliche Selbstständigkeit gewesen zu sein. Nach dem Ersten Weltkrieg war diese für kurze Zeit wiederhergestellt, dann ging sie durch die Terrorherrschaft Nazi-Deutschlands, später durch die Einverleibung seitens der UdSSR erneut verloren.

Diese Erfahrung prägt bis heute bewusst oder unbewusst das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland und der Europäischen Union. Das müssen wir uns immer wieder klarmachen.

...und als zweites?

Kurschus: In einem zweiten Schritt wird es darauf ankommen, die zurückliegenden Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte wirklich gemeinsam zu betrachten und gemeinsam zu erzählen: Aus der je eigenen Perspektive, im Hören auf die Perspektive des anderen. Hier ist schon viel geschehen, vor allem die Kirchen haben dazu wesentlich beigetragen. Und: Es gibt noch viel zu tun, wie die aktuelle politische Lage zeigt. Was an wechselseitigem Verständnis bereits wachsen konnte, bleibt ein kostbares und zerbrechliches Gut. Es bedarf der weiteren sorgfältigen Pflege durch kontinuierliche Begegnungen und Gespräche.

Was ist für eine gemeinsame Zukunft wichtig?

Kurschus: Schließlich braucht es neben dem gemeinsamen Erinnern an das, was war, den gemeinsamen Blick nach vorn. Es liegen Aufgaben vor uns, die wir nur gemeinsam angehen können: Etwa die Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte; die Sorge um Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit in der EU; der konsequente Einsatz für weltweite Klimagerechtigkeit; ein abgestimmtes Agieren im Blick auf Migration.

Wie bewerten Sie die sogenannte „Ostdenkschrift“ der EKD von 1965?

Kurschus: Die „Ostdenkschrift“ der EKD war und bleibt in ihrem Mut, die Dinge klar und differenziert beim Namen zu nennen, ein wichtiger Meilenstein in den deutsch-polnischen Beziehungen. Sie bezeichnet die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten als „schweres Unrecht“ und kritisiert den schwierigen Integrationsprozess im Westen. Zugleich macht sie kein Hehl daraus, dass die Ursache für die Vertreibung der von Deutschland begonnene Zweite Weltkrieg war. Hieraus ergibt sich laut Denkschrift, dass „die Bereitschaft, Folgen der Schuld zu tragen und Wiedergutmachung für begangenes Unrecht zu leisten, ein wichtiger Bestandteil deutscher Politik und gegenüber unseren östlichen Nachbarn sein muss“.

Schließlich wirft das Papier den Blick nach vorn auf eine „anzustrebende internationale Friedensordnung“ und stellt klar: Diese „ist ohne Wahrheit und Gerechtigkeit, ohne Berücksichtigung berechtigter Interessen und ohne den Willen zum Neuanfang auf der Grundlage der Versöhnung nicht denkbar“. Auf diese Weise führt die „Ostdenkschrift“ Versöhnung als leitende Kategorie in die Politik ein und schlägt damit einen neuen Grundton für die zukünftige Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland an. Das kann gar nicht hoch genug gewürdigt werden.

Was beeindruckt Sie heute noch an dem Dokument?

Kurschus: Mich fasziniert immer wieder, wie sorgfältig die Ostdenkschrift argumentiert. Ein Beispiel: Wo sie sich dafür ausspricht, „einen Ausgleich zu suchen, der eine neue Ordnung zwischen Deutschen und Polen herstellt“, fällt der seelsorglich sensible wie politisch kluge Satz: „Damit wird nicht gerechtfertigt, was in der Vergangenheit geschehen ist, aber das friedliche Zusammenleben beider Völker für die Zukunft ermöglicht.“

Was können heute die Kirchen in Deutschland und Polen zur Versöhnung der beiden Länder beitragen?

Kurschus: Als praktische Konsequenz aus der Ostdenkschrift haben 1974 die Evangelische Kirche in Deutschland und der Polnische Ökumenische Rat den Deutsch-Polnischen Kontaktausschuss gegründet, dem ich angehöre. Wir treffen uns regelmäßig und koordinieren die zahlreichen Begegnungen, Kontakte und Partnerschaften, die sich in den vergangenen Jahrzehnten zwischen unseren Kirchen entwickelt haben. Ein besonderes Anliegen ist uns dabei, junge Menschen in den Austausch miteinander zu bringen.

Was sind für Sie besondere kirchliche Projekte?

Kurschus: Die EKD und der Polnische Ökumenische Rat tragen den Ansatz der deutsch-polnischen Versöhnung weiter nach Osten. Seit 1995 gibt es das Projekt „Versöhnung in Europa – Aufgabe der Kirchen in Belarus, in der Ukraine, in Polen und Deutschland“. Im Rahmen dieses Projektes kommen einmal im Jahr Vertreter evangelischer, römisch-katholischer, orthodoxer und griechisch-katholischer Kirchen zusammen, um ein aktuelles Thema der Versöhnung zu diskutieren – etwa das Thema „Migration“.

Im vergangenen Jahr haben deutsche und polnische Kirchen zusammen einen ökumenischen Klimapilgerweg organisiert: Von Bonn, dem Ort der 23. Weltklimakonferenz, nach Kattowitz, wo 2018 die 24. Weltklimakonferenz stattfand. Hier nehmen wir gemeinsam Verantwortung wahr für ein Thema, das der ganzen Welt auf den Nägeln brennt.

Welche Bedeutung hat für Sie persönlich die Beauftragung der EKD für die deutsch-polnischen Beziehungen?

Kurschus: Neben der politischen Verantwortung, die ich persönlich sehr ernst nehme, gibt es bei mir auch einen starken biografischen Bezug: Die Familie meines Vaters hat ihre Wurzeln im ehemaligen Königsberg, lebte einige Jahre in Masuren, wo mein Vater zur Schule ging, und flüchtete im Januar 1945 über Dänemark in den Westen Deutschlands. Deutsch-polnische Kontakte ziehen sich durch meine Familie; die intensive Pflege deutsch-polnischer Beziehungen erlebe ich als einen unerlässlichen Beitrag zur Versöhnung in Europa. Mit der Beauftragung trage ich also in gewisser Weise ein Erbe weiter, das mir ein echtes Herzensanliegen ist.

Interview: Holger Spierig (epd)