Der Weg über die Neiße ist kurz: Zum Gottesdienst mal eben rüber

Christen aus Polen und Deutschland arbeiten im Grenzland auf vielen Ebenen zusammen

Die Grenze zwischen Deutschland und Polen ist verschwunden – zwar nicht völkerrechtlich, doch aus dem Bewusstsein vieler Menschen. Von Görlitz über Zittau, Guben, Frankfurt (Oder) bis nach Ahlbeck überqueren sie ganz selbstverständlich die frühere Demarkationslinie. Das macht auch die Begegnungen für die Gläubigen leichter. Seit Beginn der 1990er-Jahre haben sich auf vielen Ebenen vielfältige Kontakte entwickelt.

Ortsschild Guben/Gubin
Gemeinsame Vergangenheit: Das heutige Gubin war bis 1945 das Zentrum Gubens. Dann fielen die Gebiete östlich der Neiße an Polen. Inzwischen ist die Grenze vor allem in den Köpfen der Jungen praktisch nicht mehr existent.

Es ist ein ganz gewöhnlicher Sonntag. Pastorin Ina Piatkowski-Oh von der Evangelischen Kirchengemeinde Region Guben hält den 10.30 Uhr-Gottesdienst in der Klosterkirche. Die etwa 60 Besucherinnen und Besucher stehen im Kreis und nehmen am Abendmahl teil. Unter Ihnen sind Agnieszka Jacob und Henryk Krzywon. Beide wurden in Polen geboren und sind dort aufgewachsen. Doch eines unterscheidet die 37-jährige und den 72-jährigen von ihren Landsleuten: Sie gehören nicht wie über 90 Prozent der Polen der katholischen Kirche an. Beide haben die deutsche Staatsbürgerschaft und zählen statistisch zu den rund 70.000 Angehörigen der Evangelisch-Augsburgischen Kirche. Es ist die dortige Ausprägung der Lutheraner.

Agnieszka Jacob lebt auf der deutschen Seite der Neiße, in Guben. Henryk Krzywon hat sich nach einigen Jahren in Frankfurt am Main nun in Gubin niedergelassen. Die nächste evangelische Gemeinde für ihn gibt es in Zielona Gora, dem früheren Grünberg. Doch die mehr als 60 Kilometer muss er nicht zurücklegen – es reicht ein kurzer Fußmarsch über die große Stadtbrücke, die Guben und Gubin verbindet. Bis 1945 waren beide Städte eins und hießen Guben. Dann fielen die Gebiete östlich der Neiße an Polen und der Schlagbaum ging runter.

Grenzland ohne Grenze

Mit der Wende in Polen und in der DDR und der Wiedervereinigung öffnete sich die Grenze zwischen Deutschland und Polen Stück für Stück. Mit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union und zum Schengenraum 2004 hat sich das Zusammenwachsen noch beschleunigt. Inzwischen ist die Grenze vor allem in den Köpfen der Jungen praktisch nicht mehr existent. Daran, dass da etwas ist, erinnern nur noch die rot-weißen und schwarz-rot-goldenen Grenzpfähle. Und der Zoll kontrolliert von Zeit zu Zeit die Autofahrer, die aus dem polnischen Gubin kommen.

Ein Grenzland ohne Grenze – das hat viele Vorteile und erleichtert das Zusammenfinden von Menschen aus zwei Kulturkreisen: Polnische Familien arbeiten im Heimatland und erwerben Grundstücke in Deutschland. Und die polnischen Kinder besuchen die deutschen Schulen. Auch die Christen profitieren davon: Protestanten und Katholiken praktizieren Begegnungen und Austausch auf vielen Ebenen.

Vier deutsch-polnische Euroregionen

Agnieszka Jacob bestätigt: „Die Deutschen und die Polen machen viel zusammen.“ Sie muss es wissen, denn die 37-Jährige arbeitet bei einer der vier deutsch-polnischen Euroregionen, „Pro Europa Viadrina“, mit Sitz in Frankfurt an der Oder. Guben gehört zur Euroregion Spree-Neiße-Bober. Und dann sind da noch Pomerania ganz im Norden sowie in Sachsen Neiße-Nisa-Nysa.

Die Euroregionen sorgen nach Einschätzung aller Akteure dafür, dass sich die Menschen noch immer näherkommen. „Eine Grenze ist etwas Fremdes“, fasst es Armand Adamczyk, stellvertretender Geschäftsführer von Pro Europa Pomerania, zusammen. Sein Kollege Carsten Jakob, Geschäftsführer der Euroregion Spree-Neiße-Bober, zu der auch Guben als sogenannte Euromodellstadt gehört, hebt die vielen soziokulturellen Projekte hervor.

Ein größeres Projekt: Der Wiederaufbau der Gubener Stadtkirche

Davon profitiert allem Anschein nach auch der Austausch der Christen im Grenzland, vor allem im Bereich der Kirchenmusik. Gleichwohl ist in vielen Bereichen noch Luft nach oben. Beispiel Ökumene: In diesem Bereich finde die deutsch-polnische Begegnung „in erster Linie über die Geistlichen, weniger über die Gemeindemitglieder statt“, hat Pastorin Piatkowski-Oh beobachtet. Um den ökumenischen Austausch zu forcieren, würden die polnischen Pfarrer und ihre deutschen Brüder immer wieder zu kirchlichen Festen und Veranstaltungen wie dem „Kreuzweg“ einladen. Wo jedoch die Menschen erst einmal angefangen hätten, etwas Gemeinsames zu bewegen, entwickele sich vieles als Selbstläufer.

Neben vielen kleinen Aktivitäten gibt es auch einige größere Projekte. Dazu zählt auch das Bemühen um den Wiederaufbau der im Januar 1945 zerstörten Gubener Stadtkirche. Sie steht heute auf der polnischen Seite, doch im Förderverein „Stadtkirche Gubin“ engagieren sich Menschen beider Länder Hand in Hand. Vorsitzender des Vereins ist Günter Quiel. Für ihn ist der Einsatz über die Neiße hinweg das beste Zeichen dafür, „dass es nur gemeinsam geht.“ Ziel ist es, einen Ort der Kultur und Begegnung zu schaffen.

Krankenhaus für polnische und deutsche Patienten

Eine herausgehobene Stellung für Guben und Gubin beziehungsweise die Entwicklung dieses Landstrichs hat das Naemi-Wilke-Stift. Es wurde im Jahr 1878 vom Gubener Hutfabrikanten Friedrich Wilke und seiner Frau Sophie als Privatstiftung gegründet, nachdem ihre Tochter Naemi an Typhus gestorben war. Heute ist das Krankenhaus als Stiftung der Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) anerkannt und pflegt diverse Kontakte nach Polen.

Vor allem im Rahmen des EU-Programms „Interreg 5a“ versuchen die Verwaltungen, das Krankenhaus für polnische und deutsche Patienten gleichermaßen zu etablieren. Der zum Jahreswechsel ausgeschiedene langjährige Rektor Stefan Süß und sein Nachfolger Markus Müller geben die Losung „Gesundheit ohne Grenzen“ aus. Hintergrund: Gubin hat sein Krankenhaus geschlossen. Auf der anderen Seite ist das Naemi-Wilke-Stift eigentlich viel zu groß dimensioniert. Es wurde für 42.000 Einwohner ausgelegt. Inzwischen jedoch leben in der einstigen Grenzstadt nur noch knapp 20.000 Menschen.

Menschen aus zwei Ländern, zwei Kulturen und zwei Konfessionen

Das Schwierige bei der Umsetzung als grenzübergreifendes Projekt seien die unterschiedlichen Verwaltungsstrukturen und Abrechnungssysteme in Deutschland und Polen, machen der alte und neue Rektor klar. Deutschland sei beispielsweise föderalistisch, Polen zentralistisch organisiert. Bei der Umsetzung des Ziels einer grenzübergreifenden Gesundheitsversorgung soll es im Rahmen des Interreg-Programms eine wissenschaftliche Begleitung geben. Der erste Schritt zu mehr Gemeinsamkeit ist die Etablierung der Zweisprachigkeit.

So freuen sich alter und neuer Rektor, dass zum Beispiel die angebotenen Polnischkurse bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gut ankommen. Für dieses Jahr sind weitere Angebote in der Planung.

Über die Bemühungen um die Gesundheitsregion hinaus werden unter dem kirchlichen Dach schon jetzt Patienten von drüben behandelt. Wo es sprachlich hapert, helfen Menschen wie Anna Wrobel. Sie ist deutsch-polnische Gesundheitskoordinatorin des Naemi-Wilke-Stifts. Sie bezeichnet sich als „Grenzgängerin“. Wrobel lebt mit ihrer Familie in Gubin, doch die Kinder besuchen eine der Kindertagesstätten beziehungsweise Schulen in Guben. Es sei sehr spannend zu sehen, wie Menschen aus zwei Ländern, zwei Kulturen und zwei Konfessionen zusammenfinden. Was das Thema Sprache angeht, so findet Wrobel: „Wenn man betet, muss man nicht alles verstehen.“

"Oekumenisches Europa-Centrum leistet Beitrag zum Zusammenwachsen

Gut 55 Kilometer von Guben entfernt rauchen die Köpfe. Im Büro des Studien- und Gästehauses „Hedwig-von-Schlesien“ trifft sich der Vorstand des Vereins „Oekumenisches Europa-Centrum“, kurz OeC, Frankfurt/Oder. Was liegt an, wohin geht die Reise in diesem Jahr? Darüber reden an diesem Vormittag der Vereinsvorsitzende, Superintendent i. R. Christoph Bruckhoff, Justus Werdin, im Hauptberuf Osteuropa-Referent der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), Hausleiter Knut Papmahl und Manfred Schütz als Vertreter der Katholiken.

Die Ideen für das OeC reichen zurück bis ins 1991, der Verein wurde drei Jahre später gegründet. Ein Jahr später kam ein Kuratorium hinzu. Akteure und Verantwortliche habe von Anfang an die Frage umgetrieben, was Christen zum Zusammenwachsen von Deutschland und Polen beitragen könnten. Seinen Beitrag leistet das OeC seitdem auf unterschiedliche Weise – es gibt die „Frankfurter Grenzgespräche“ in der Kirche gleich an der Stadtbrücke, Frankfurts wohl bekanntestem Übergang, ökumenische Gottesdienste, Exkursionen nach Polen sowie zahlreiche gegenseitige Besuche und Begegnungen.

Zusammenleben bricht Grenzen auf

Grenzüberschreitendes ist 30 Jahre nach dem Beginn der Wende in der ehemaligen DDR ebenso wie in Guben längst zum Alltag geworden. Besucher aus dem polnischen Slubice, das bis 1945 so etwas wie die Vorstadt von Frankfurt an der Oder war, auf der deutschen Seite sind heute völlig normal. Tausende von Autos rollen jeden Tag über die Oder. Auch Fahrradfahrer und Fußgänger wandeln von hüben nach drüben. Und an der Viadrina-Universität mehren seit ihrer Wiedergründung Anfang der 1990er Jahre polnische und deutsche Studenten ihr Wissen.

Einige von ihnen leben im Studien- und Gästehaus unweit der Stadtbrücke, das sie zum Teil selbst verwalten. Einer von ihnen ist der 29-jährige Jurastudent Daniel Jurischka. Anfangs habe er, der aus einer baptistischen Gemeinde in Berlin kommt, Vorbehalte gehabt, in eine christliche Wohngemeinschaft zu ziehen.

Doch die seien schnell verflogen, im Gegenteil: „Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden. Viele meiner Freunde sind katholisch oder orthodox.“ Jurischka freut sich: „Es gibt unheimlich viel interkonfessionellen Austausch.“ Dieses Zusammenleben sorge dafür, dass Grenzen aufgebrochen würden. Alle im Haus lebenden Leute akzeptierten die Ansichten der anderen. Als Beispiel nennt Jurischka das Abendmahl. Für ihn ist diese Begegnung mit Menschen unterschiedlicher Kulturen und Konfessionen so etwas wie ein Prototyp des Zusammenlebens. „Jeder bringt das Beste von seiner Lebensweise in die Gemeinschaft ein.“

Gemeinden profitieren von den offenen Grenzen

Dass sich im Grenzland einiges tut, ist auch im südlichen Mecklenburg-Vorpommern nicht zu übersehen. Etwa in der Kirchengemeinde der Stadt Penkun. Sie pflegt ebenso seit vielen Jahren ihre Beziehungen nach Polen und nach Russland. „Sehr herzliche“ Verbindungen gibt es laut Pastor  Bernhard Riedel nach Szczecin, Kostrzyn und Słupsk. Die politische und die Kirchengemeinde profitieren von den offenen Grenzen. So kommt der Organist für Penkun aus Szczecin und die polnischen Bürger verlegen ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschland. Einer der Gründe: In Mecklenburg-Vorpommern sind die Grundstücke günstiger. So sind 50 Prozent der Kinder in der ersten Klasse der Grundschule polnisch.

Diesem Umstand trägt nach Auskunft von Riedel auch die Kirchengemeinde Rechnung: Im Gemeindebrief finden die Neubürger eine Seite in ihrer Sprache, bestückt von einer Schülerin. „Ich heiße Zosie Debowska und bin elf Jahre alt“, stellt sie sich vor: „Ich gehe in die fünfte Klasse der Regionalen Schule Penkun und werde die polnischsprachige Seite im Gemeindebrief gestalten und übersetzen.“

Riedel verhehlt aber auch nicht, dass es schwieriger geworden ist, neue Kontakte zu knüpfen. „Im Moment weht ein scharfer Wind im deutsch-polnischen Verhältnis“, sagt er. In Frankfurt an der Oder haben die Leute vom OeC ein Rezept gegen Vorbehalte seitens der polnischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS). „Die persönliche Ebene eröffnet Horizonte“, sagt Vereinschef Bruckhoff.

Ulf Buschmann (für evangelisch.de)