Geistliches Wort im Friedensgebet

Präses Annette Kurschus, Vorsitzende des Rates der EKD

Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

Regelmäßig, liebe Gemeinde, erklingt er im Gottesdienst der Ostkirche: der Gesang der Seligpreisungen, den wir eben hörten. Für die große Mehrheit unserer christlichen Geschwister in der Ukraine und ihren orthodox geprägten Nachbarländern, in Russland und Belarus und anderswo, sind die Seligpreisungen mit diesen Klängen verbunden. Und im selben Gesang verbinden sie sich obendrein mit den Worten, die jener Mann an Jesus richtet, der neben ihm gekreuzigt wird:

Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!
 
So haben es die Seligpreisungen in diesem Gesang unmittelbar mit der Passionsgeschichte zu tun. Auch mit der aktuellen Passionsgeschichte, die für Europa – insbesondere für die Menschen in der Ukraine – in diesem Jahr bereits am 24. Februar begonnen hat. 

Wir denken an den Schmerz und das Leid der Opfer dieses entsetzlichen Krieges. Vielleicht könnte es ihr Satz sein, dieser biblische Satz, herausgestöhnt in Todesangst und Todesnot:  Gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst! Für dieses Stoßgebet muss man kein besonders frommer Mensch sein.

In der Bibel ist es sogar ein „Übeltäter“, der so fleht. Ein Übeltäter, der für Jesus in seiner Todesstunde zum Wohltäter wird. Diese Wandlung des Übeltäters zum Wohltäter ist eine der bewegendsten Szenen der Passionsgeschichte, ein Licht in Todesschwärze, eine Begegnung voller Menschlichkeit, Versöhnung und Liebe. Dieser Mann wird Jesus zum Nächsten und verteidigt ihn vor dem Hohn des Spötters auf der anderen Seite. Seinen letzten Atem verwendet er dazu, dem Unschuldigen mit der Dornenkrone ein wahrer Leidensgenosse zu sein. Er vertraut sein Heil der Fürbitte des geschundenen Mannes neben sich an. Er traut dessen Gedenken etwas zu. Dieser Übeltäter, der zum Wohltäter wird, gehört gewiss zu denen, die Jesus seligpreist: als solche, die nichts haben und alles von Gott erwarten. 

Gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst, bittet er. Und Jesus antwortet: Wahrlich, heute wirst du mit mir im Paradies sein. Das sind im Lukasevangelium die letzten Worte, die der sterbende Jesus an einen anderen Menschen richtet. 

Vielleicht ist der Ruf des barmherzigen und sanftmütigen Übeltäters deshalb in der Liturgie der Ostkirche mit den Seligpreisungen verbunden: Sie öffnen ein Fenster zum Reich Gottes, zu jenem Paradies, in dem kein Leid, kein Geschrei und kein Schmerz mehr sein wird. Das Chaos dieser Zeit wird dort vergangen sein. 

Die Seligpreisungen, diese Sätze, die nicht von dieser Welt sind: Wir brauchen sie als Gegengift gegen die Lügen und Parolen der kalten Macht. Wir brauchen das Versprechen, dass die Trauernden und Leidtragenden getröstet werden. Wir brauchen die Seligpreisungen, um an dieser Welt, wie sie ist, nicht zu verzweifeln: Die Verheißung, dass nicht die Rauen, sondern die Sanften die Erde besitzen werden. Dass nicht die Kriegstreiber, sondern die Friedensstifter Gottes Kinder sind. Dass nicht die Mitläufer, sondern die Verfolgten das Himmelreich erlangen.

Wir brauchen diese Worte. Und wir brauchen Menschen, die diesen Worten Hand und Fuß, Herz und Sinn, Stimme und Gesicht geben. Und das, liebe Brüder und Schwestern, ist oft eine unselige Sache. Denn es war nie billig. Es war immer teuer, die Seligpreisungen zu leben. Der Übeltäter neben Jesus hat seine letzte Lebenskraft dafür gegeben. 

Die mutigen Priester des Moskauer Patriarchats, die sich in einer Unterschriftenaktion und der dazugehörigen Erklärung gegen den Krieg und die Position Ihrer Kirchenleitung äußerten – diese Friedensstifter, diese Kinder Gottes, riskieren viel und begeben sich in Gefahr. 

Die Organisation Memorial, Menschen, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit – sie arbeiten gegen das Vergessen der Verbrechen der stalinistischen Vergangenheit. Noch gehen sie leer aus, werden verboten und geächtet. Doch ihnen ist verheißen, dass sie satt werden sollen. 

Die vielen Menschen, die jetzt Hände reichen und Geflüchteten Zuflucht geben, Hilfsgüter transportieren, Hilfspläne schmieden – selig sind sie, diese Barmherzigen.

In einem der Lieder, die wir seit Ausbruch des Krieges oft singen, heißt es: „Und mach aus uns ein Zeichen dafür, dass Friede siegt.“ Diese vielen Seligpreisungs-Menschen: Jeder und jede von ihnen ist ein lebendiges Zeichen, dass Friede siegt. 

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.


 

Ökumenischer Gottesdienst im Berliner Dom - Friedensgebet für die Ukraine mit Kirchenvertreter aus der Ukraine und Russland sowie ökumenischen Partnern aus Deutschland