„Glaube ist nicht Wissen und Beweis“

EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus im Interview mit „Cicero“

Annette Kurschus ist die neue Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Im Interview spricht sie über Glaubenskrisen, den Vorwurf, ihre Kirche sei eine Art Glaubensarm der Grünen, und die Rolle der Evangelischen Kirche in der Moderne. Kurschus glaubt, Gott könnte die Corona-Pandemie mit einem Fingerschnipsen beenden – und erklärt, warum er es ihrer Meinung nach dennoch nicht tut.

Annette Kurschus, Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

Annette Kurschus, Vorsitzende des Rates der EKD und Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen

Annette Kurschus ist evangelische Theologin und Pfarrerin, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und seit November 2021 Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD); also die oberste Protestantin des Landes. Aufgewachsen ist sie im hessischen Obersuhl und im Siegerland. Ihr Vater war Pfarrer und zeit seines Lebens politisch engagiert. Weil er sich dereinst unter anderem für die Ostverträge einsetzte, wurde ihm der Spitzname „roter Pfarrer“ verpasst. Auch für Kurschus gehören Glaube und Politik zusammen.

Frau Kurschus, Sie sind die Tochter eines Pfarrers, der sein Leben lang politisch engagiert war und den Spitznamen „roter Pfarrer“ hatte. Wie war es für Sie, in einem solchen Pfarrhaushalt aufzuwachsen? War es streng zuhause, oder ging es eher liberal zu?

Meine beiden Brüder und ich wurden in unserem Elternhaus nie zu etwas gezwungen oder gedrängt. Der christliche Glaube wurde bei uns selbstverständlich gelebt. Aber das hatte nichts mit strengen Regeln zu tun, sondern mit einem Grundvertrauen, das wir unseren Eltern abgespürt haben. Wir haben gemeinsam gebetet vor jeder Mahlzeit und abends vor dem Zubettgehen. Natürlich haben wir das als Kinder manchmal auch einfach nur mitgemacht, aus Gewohnheit. Es hat mir aber nicht geschadet – ganz im Gegenteil.

Welches Gottesbild haben Ihre Eltern Ihnen mitgegeben?

Das des liebenden Vaters, der liebenden Mutter, deren Hand ausgestreckt bleibt. Ja, das ist eine personenhafte Vorstellung von Gott – manche mögen das kindlich nennen. Aber bis heute denke ich mir Gott mit liebenden Augen, die mich freundlich anblicken. Uns wurde nie mit Gott gedroht.

Dabei war das eine Generation, die noch viel gedroht hat mit Gott, oder? In dem Sinne: Tu dies nicht, tu das nicht, der Herrgott sieht alles.

Mag sein, ich habe das bei uns zuhause nie gehört. Es gab allerdings sehr wohl das Bewusstsein: Ich trage als Christin Verantwortung mit meiner Art, wie ich an Gott glaube und an Christus, in dem Gott sich zeigte. Das habe ich früh als Kind mitbekommen: dass es eben nicht beliebig ist, wie ich mich verhalte und wie ich mit anderen Menschen umgehe. Insofern ist da auch eine Leitlinie für mein Leben, die in gewisser Weise etwas Strenges hat. Aber nicht, weil es mir aufgezwungen wurde, sondern weil ich spürte, es hat Konsequenzen, wenn ich die biblischen Geschichten, mit denen ich großgeworden bin, ernstnehme.

Wie kann man sich dieses Großwerden mit den biblischen Geschichten vorstellen?

Ein Beispiel: Als ich irgendwann lesen und schreiben konnte, habe ich meinen Vater mit großer Vorliebe bei der Vorbereitung des Gottesdienstes unterstützt. Damals wurden etwa die Programmblätter für besondere Gottesdienste ja noch auf der Schreibmaschine geschrieben. Das war einige Jahre lang unser Ritual: Mein Vater saß an der Schreibmaschine, und ich diktierte ihm – Bibeltexte, Glaubensbekenntnisse, Gebete, Lieder aus dem Gesangbuch. „Tochter Zion – Komma – freue dich – Ausrufezeichen“ (lacht). Man kann sich heute kaum vorstellen, welchen Schatz ich dabei angesammelt habe. Ich weiß bis heute sehr viele Lieder auswendig, weil ich sie meinem Vater als kleines Kind diktierte. Wir haben überhaupt viel Musik gemacht zuhause. Wir waren, wenn man so will, ein typisches protestantisches Pfarrhaus: mit vielen Büchern, mit viel Kunst und Kultur. Das stand uns als Kindern offen – ohne jeden Zwang und ohne Druck.

Sie sind als Kind von Obersuhl ins Siegerland gezogen, das – wie Sie mir im Vorgespräch zu diesem Interview erzählten – geprägt war von der Erweckungsbewegung und von pietistischen Strömungen (Frömmigkeitsbewegungen im deutschen Protestantismus – Anm. d. Red.); wo Glaube anders gelebt wurde, als Sie es gewohnt waren. Waren dort die Zwänge stärker und der Druck größer?

Die Frömmigkeit im Siegerland hatte zunächst etwas Bedrückendes für mich. Erst sehr viel später habe ich auch die Schätze entdeckt, die darin liegen. Durch die reformierte Tradition ist dort alles sehr stark auf das Wort konzentriert. Die Kirchenräume und die Gottesdienste empfand ich als kahl und karg und streng. Außerdem habe ich im Siegerland eine Art von Glauben kennengelernt, die den Menschen nicht immer guttut, weil sie mehr einengt und belastet als befreit und aufrichtet.

Auch in der Schule? Durch die Lehrer?

In der Schule weniger, aber vor allem in den christlichen Jugendgruppen, weshalb ich dort auch nicht gerne hingegangen bin. Schon früh bekam ich manche Auseinandersetzung mit, die mein Vater als Pfarrer mit Gemeindegliedern hatte. Ich habe manche Gespräche mitgehört, in denen sich meine Eltern austauschten über die Enge des pietistischen Bibelverständnisses. Mein Vater wurde geradezu angefeindet, weil er sich – etwa in der Frage der in den 1970er-Jahren aktuellen Ostverträge - politisch engagierte. Das waren steinige Anfangsjahre. Als Kind habe ich deutlich gespürt, dass Glaube eine durchaus anspruchsvolle Sache ist; Glaube muss sich mitten im Alltag der Welt immer wieder neu bewähren.

Können Sie mir ein Beispiel nennen für diese Enge des pietistischen Bibelverständnisses?

Während der Karnevalszeit wurden in der großen Siegerlandhalle in Siegen die sogenannten „offenen Abende“ gefeiert. Da trafen sich dann „die Frommen“, während draußen „die böse Welt“ feierte. So zu denken, das fand ich immer ganz schrecklich. Unvergesslich bleibt auch eine andere Erfahrung: Ich habe im Februar Geburtstag, also auch in der Karnevalszeit. Bei uns zuhause haben wir Kinder uns leidenschaftlich gern verkleidet. Und wenn wir Kindergeburtstag feierten – und ich hatte viele große Kindergeburtstage –, dann machten wir das auch. Anschließend haben sich einige Eltern entsetzt beschwert, mit solchem „Hexenwerk“ hatten sie in einem Pfarrhaus nicht gerechnet.

Woher kommt der Glaube mancher Menschen, dass man Gott von der eigenen Frömmigkeit überzeugt, indem man spaßbefreit durchs Leben geht?

Naja, das hat es schon immer gegeben, dass Christen Abstand hielten von den Freuden der Welt, um dadurch Gott besonders nah zu sein. Es gibt eine Glaubenstradition, da ist die Hauptsache: Ich bin mit meinem Gott im Reinen. Für mich waren die Christen aber nie ein „exklusiver Verein“, in dem sich gleich und gleich gern gesellen und der sich absondert von den anderen. Im Gegenteil: Christen sind gerufen, mitten in der Welt zu leben und Gutes in die Gesellschaft einzutragen.

Sie haben zuerst kurz Medizin studiert, dann Theologie und sind schließlich Pfarrerin geworden. Warum?

Ich hatte nach dem Abitur überhaupt nicht vor, Theologie zu studieren und Pfarrerin zu werden. Zwar haben mich Glaubensthemen sehr interessiert, aber ich hatte immer auch den Gedanken im Kopf, was eigentlich passiert, wenn ich meinen Glauben verlieren sollte. Durch das ganze Theologiestudium hindurch hat mich eine Frage aus den biblischen Psalmen nicht losgelassen: „Wo ist denn nun dein Gott?“ Mir war bange vor der Situation, dass andere mich das fragen – und ich habe keine plausible Antwort darauf. Diese Furcht ließ mich lange zögern, den Pfarrberuf anzustreben. Denn Glaube ist eben nicht Wissen und Beweis.

Wie ging es dann weiter?

Mir wurde im Laufe des Studiums klar, dass Theologie für mich unmittelbar mit Menschen zu tun hat. Ich wollte das Gelernte mit anderen teilen und ins alltägliche Leben übersetzen. Als ich im Vikariat dann in der Gemeinde auf Menschen traf, die ich auf ihrem Weg des Glaubens begleiten konnte – auch dann und manchmal gerade dann, wenn ich meine eigenen Zweifel formulierte, habe ich mehr und mehr diese Furcht verloren, mir könnte der Glaube abhandenkommen. Denn es ist einfach so: Es gibt immer wieder Dürrezeiten, in denen mein Glaube wackelt und mein Reden von Gott kleinlauter wird. Das gehört dazu, und das darf so sein.

Weil der Glaube nicht abhandenkommt, wenn man ihn an andere Menschen weitergibt?

Fragen und Zweifel sind keine Feinde des Glaubens, sondern seine Geschwister. Weil das so ist, kann niemand für sich allein glauben. Wir brauchen Kirche und Gemeinde. Wenn mein eigener Glaube schwächelt, sind andere da, die glauben für mich mit. Oder wenn ich mich gerade schwertue mit dem Beten, tun es andere für mich. Diese Gewissheit bedeutet mir viel.

Nun sind Sie ja in einer ganz besonderen Zeit EKD-Ratsvorsitzende geworden, nämlich in Pandemie- Zeiten. Wo sehen Sie denn die zentrale Aufgabe der Evangelischen Kirche in Zeiten wie diesen?

Wir stehen mit einer anderen Haltung in der Welt als Menschen, die ohne Gottvertrauen leben. Von dem, was gerade in unserer Gesellschaft passiert, sind wir in der Kirche ganz genauso betroffen. Von den Ängsten, Befürchtungen, Einschränkungen und von allem, was so elend dünnhäutig macht. Doch es macht einen Unterschied, ob ich getrieben von Sorge und Furcht entscheide und handle – oder beflügelt und gezogen von der Verheißung Gottes. Gott hat versprochen: „Ich habe Gutes mit euch vor, ihr werdet nicht untergehen, ich führe die Welt zu einem guten Ziel.“ Diese Verheißung ist es, die uns Kraft und Mut gibt und der ich zutiefst vertraue. Angesichts dieser Verheißung wird manche verzweifelte Frage umso dringlicher – und manches Leid umso unbegreiflicher. Aber sie gibt zugleich einen anderen „Drive“ im Leben, sich aktiv einzusetzen.

Was meinen Sie?

Gottes Verheißung zaubert nicht die Sorgen und die Angst weg. Aber sie hilft dazu, dass Angst und Sorgen nicht der Hauptantrieb unseres Handelns sind. Da leuchtet von Gott her ein Ziel, und in seinem Licht setze ich mich hier und jetzt handfest ein. Das ist eine starke Motivation, sie geht über Menschenmögliches hinaus. Dafür braucht es Kirche in unserer Welt – und ich hoffe, dass wir in dieser Ratsperiode, die gerade erst beginnt, davon etwas deutlich machen können. Kirche ist dazu da, diese Grundhaltung erkennbar in die Gesellschaft zu tragen.

Finden Sie denn, dass die Kirche der Gemeinschaft ihrer Gläubigen genug Trost gespendet hat zuletzt und die Gläubigen auch ausreichend, sagen wir, spirituell aufgefangen hat in dieser schwierigen Zeit?

Was tröstet, empfinden Menschen sehr unterschiedlich. Wir haben – jedenfalls nach dem, was ich mitbekomme und wo ich mich selbst eingesetzt habe – nach bestem Wissen und Gewissen unseren Auftrag und unsere Verantwortung wahrgenommen. Und zwar aus der Mitte des christlichen Glaubens heraus. Wir waren hörbar da mit der Botschaft, die nicht von uns kommt, sondern von der wir zuallererst selber leben. Wir haben die Nähe gesucht zu den besonders Verletzlichen, zu Kranken und Sterbenden. Bei der Gestaltung unserer Gottesdienste haben wir uns an den Schwächsten in unserer Gesellschaft orientiert und entsprechend Rücksicht genommen. Das stand zeitweise im Widerspruch zu dem starken Bedürfnis vieler Menschen, zusammenzukommen und gerade in dieser verstörenden Zeit gemeinsam an einem Ort zu singen und zu beten. Diese Art von Trost mussten wir vernünftigerweise schuldig bleiben. Schweren Herzens. Doch in der ersten Zeit der Pandemie hätte ich es fahrlässig gefunden, wenn wir die Türen weit geöffnet hätten und alle hätten kommen können, egal, welche Virusvariante da tobt: Das wäre nicht Gottvertrauen gewesen, sondern eine Art, Gott zu versuchen.

Ich habe mich dennoch gefragt: Was wiegt eigentlich schwerer, wenn wir von der Kirche und ihrem Umgang mit dieser Pandemie sprechen? Das spirituelle Wohl der Gläubigen oder ihr weltliches Wohl? Ich hatte das Gefühl, dass sich die christlichen Kirchen ganz stark auf das weltliche Wohl konzentrierten, und nicht so sehr auf das spirituelle.

Naja, aber was ist ein „spirituelles Wohl“, das Gesundheit und Leben anderer wissentlich gefährdet?! Wir hätten in Kauf genommen, dass Menschen in unseren Gottesdiensten beim gemeinsamen Singen und Beten sich selbst oder andere  infizieren.

Aber hat Jesus nicht gesagt, man solle ihm die Kranken, die Lahmen und überhaupt alle bringen? Stattdessen hat die Kirche in der Corona-Pandemie Menschen vom Gottesdienst ausgeschlossen, weil sie ungeimpft waren. Das leuchtet mir nicht ein, also sozusagen die religiöse Logik dahinter.

Wir haben nicht ausgeschlossen. Wir haben Regeln vereinbart und Empfehlungen gegeben, um für alle einen Gottesdienstbesuch so „sicher“ wie möglich zu machen. Eine Regel, die Jesus selber gegeben hat, lautet: Nehmt Rücksicht auf die Schwächsten.

Das heißt in der Praxis?

Wir bieten in allen Regionen eine Vielzahl von Gottesdienstformen an, so dass jeder Mensch – ob geimpft oder ungeimpft, ob getestet oder nicht – in räumlicher Nähe die Möglichkeit hat, einen Gottesdienst zu besuchen. Open-Air-Gottesdienste zum Beispiel, Gottesdienste in großen Hallen oder Stadien oder gut durchlüfteten Scheunen – oder Gottesdienste in digitaler Form. Nicht zu vergessen die vielen Gottesdienste in Rundfunk und Fernsehen. Die allermeisten Gemeinden waren hoch fantasievoll unterwegs, um eben gerade nicht auszuschließen.

Fakt ist aber auch, dass Menschen in den vergangenen zwei Jahren alleine sterben mussten oder sich nur im kleinen Kreis Trost bei einer Beerdigung spenden konnten. Wie bewerten Sie das denn?

Da sage ich zuallererst sehr selbstkritisch: Ich selbst wäre im Rückblick gern von Anfang an deutlicher und stärker dafür eingetreten, dass Menschen in diesen Grenzsituationen des Lebens nicht allein bleiben. Und zwar hätte ich gern darauf gedrungen, nicht nur Seelsorgerinnen und Seelsorgern Zutritt zu gewähren, sondern auch den nächsten Angehörigen. Wer stirbt, wünscht sich den Sohn oder die Tochter, die Eltern, die Ehefrau oder den Partner an seinem Bett. Hier waren wir – so schätze ich es im Rückblick ein – womöglich zu vorsichtig. Im Nachhinein bereue ich, nicht lauter gesagt zu haben: „Wir müssen sofort alles tun, um verantwortliche Ausnahmeregelungen zu schaffen.“ Inzwischen ist das ja Gott sei Dank längst viel besser geregelt. Wir haben gelernt.

Annette Kurschus

Ein Kernauftrag der Kirche ist, den Menschen die Angst zu nehmen. Durch Gottvertrauen oder das Wissen, da steckt vielleicht ein größerer Plan dahinter.

Nein, das ist nicht unser Auftrag. „In der Welt habt ihr Angst“, sagt Jesus sehr nüchtern und realistisch. Es wäre ein Vorgaukeln falscher Sicherheit, wenn wir behaupteten, unsere Kirchen seien gefahrenfreie Räume – weil da, wo Gott ist, kein Virus droht. Immer wieder wird die Erwartung geäußert, die Kirche müsse doch eine „Erklärung“ für die Pandemie haben. Aber unsere Aufgabe ist es nicht, Gottes Absichten zu „erklären“. Ebenso wenig können wir behaupten, Gott habe mit der Pandemie nichts zu tun. Gott, dem wir vertrauen, bleibt immer auch Geheimnis. Das Virus ist Teil seiner Schöpfung. Glaube heißt, sich solchen schwer begreiflichen Widersprüchen zu stellen und Kirche als eine Gemeinschaft  zu leben, in der sie benannt und ernstgenommen werden. Wir glauben an Gott, der das Ganze in seinen Händen hält, und zurzeit wird uns deutlicher denn je, wie wenig wir ihn verstehen und „begreifen“. Aber wir haben die Möglichkeit, uns an ihn zu wenden, ihn zu fragen, ihn zu bitten, ihn zu bestürmen mit unseren Nöten und Klagen, ihn bei seinem eigenen Versprechen zu behaften, ihn zu löchern mit unseren Zweifeln. Das alles ist nicht nichts. Es verändert uns und hilft, Hoffnung zu behalten.

Ist es Ihnen in den vergangen zwei Jahren denn ausreichend gelungen, all diese Widersprüche, all das, was Sie gerade gesagt haben, gut genug nach außen zu kommunizieren? Haben Sie ausreichend Gesprächsangebote gemacht?

In unseren Gemeinden und Kirchenkreisen haben sich Menschen intensiv und unermüdlich eingesetzt, und sie tun es weiterhin mit außergewöhnlichen Ideen. Jede Menge neuer Angebote sind entstanden für Gemeindemitglieder und für Menschen, die in besonderer Weise auf der Suche sind. Ich frage mich gleichwohl, woher der Eindruck kommt, Kirche sei nicht sichtbar und nicht hörbar genug gewesen. Vielleicht haben wir nicht das „geliefert“, was erwartet wurde?

Was ist denn Ihre Theorie, warum Gott nicht mit dem Finger schnipst und diese Pandemie beendet? Irgendeinen Erklärungsansatz werden Sie ja haben. Wenn nicht Sie, wer dann?

Ich glaube, dass Gott die Erde ins Leben gerufen und den ungeheuren Prozess der Evolution in Gang gesetzt hat. Gott wollte nicht Gott sein ohne den Menschen. Er wollte den Menschen als verantwortliches Gegenüber. Er hat ihn mit Freiheit ausgestattet und ihm die Erde anvertraut – mit dem ausdrücklichen Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren. Diesem Auftrag stellen wir uns bis heute – in aller Freiheit, mit den gottgegebenen Möglichkeiten der Vernunft und des Verstandes. Auch mit allen Abgründen, die in uns sind, und mit den vielen Möglichkeiten, schuldig zu werden und unser menschliches Maß zu verlieren. Gott wird uns nicht im Stich lassen, das hat er verheißen. Und: Er greift nicht jedes Mal sichtbar ein, wenn wir keinen guten Weg wissen oder uns verrennen.

Wir haben uns gerade gefragt, warum die Kirche mit ihrer Botschaft vielleicht nicht durchgedrungen ist in der Corona-Pandemie. These: Sie dringt deshalb nicht durch, weil sich viele Menschen mittlerweile weltlichen Problemen verschrieben haben, denen sie sich allerdings mit religiösem Eifer widmen.

Sie meinen, so eine Art von Ersatzreligionen?

Ja. Fridays for Future und der Kampf gegen den Klimawandel, sozusagen als Substitut für die evangelische Kirche und den Glauben.

Menschen brauchen etwas, woran sie sich festmachen und wofür sie leidenschaftlich einstehen. Viele suchen nach Orientierung, nach einer Art Koordinatensystem in ihrem Leben. Manche finden das in der Klimapolitik, andere im Sport oder in der Ernährung, wieder andere in allerlei Selbstoptimierungsmethoden. In all solchen „Ersatzreligionen“ bin in der Regel ich selbst das Subjekt.

Ich habe die Sache in der Hand, auf meine Anstrengung kommt es an. Der Clou des christlichen Glaubens liegt aber gerade darin, dass sich der Dreh- und Angelpunkt außerhalb meiner selbst befindet: in Christus. Von ihm her gewinnt mein Leben Grund und Ziel – nicht aus meinem eigenen Können oder Nichtkönnen. Das Entscheidende – nämlich mein Wert und meine Würde – liegt nicht in meiner Hand, und das ist mein Glück. Mich selbst aus der Hand geben: Ich vermute, das ist es, was den Glauben so schwierig macht – erst recht in diesen  Zeiten.

Hat die evangelische Kirche denn das Problem, dass sie sich zu sehr auf die weltlichen Themen eingelassen hat? Auf so etwas wie den Klimawandel, auf die Flüchtlingspolitik, also zu politisch geworden ist?

In den Themen, die Sie ansprechen, ist unser Einsatz vom Evangelium her gefordert. Da dürfen wir nicht nachlassen. Wir können allerdings noch stärker darin werden, unseren spezifisch christlichen Zugang zu diesen Themen deutlich zu machen. Dass uns der Klimawandel aufs Höchste alarmiert, verbindet uns mit Greta Thunberg und Fridays for Future. Als Christen gehören wir meines Erachtens an die Spitze dieser Bewegung – in der tiefen Überzeugung, dass nicht wir die Welt retten müssen, weil Gott selbst  sie gerettet hat. Die Erde ist uns anvertraut, und sie hat Zukunft: Deshalb lohnt sich jede Mühe, kein noch so kleiner Schritt wird vergeblich sein. Es ist unsere Pflicht, uns für die Menschen in anderen Regionen der Erde einzusetzen, die jetzt schon unter den Folgen des Klimawandels leiden – obwohl sie am wenigsten dazu beigetragen haben. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Und dass wir eine besondere Verantwortung für die Fremden und Flüchtlinge bei uns haben, das lernen wir ebenfalls unmittelbar aus der Bibel.

Finden Sie es eigentlich ungerecht, wenn böse Zungen behaupten, so ein evangelischer Kirchentag sei wie ein Parteitag der Grünen?

Dieses Vorurteil wird nicht wahrer, je öfter man es äußert. Christlicher Glaube ist parteiisch für die Armen und Schwachen in der Gesellschaft, christlicher Glaube ergreift klar und unverhandelbar Partei für den Schutz des Lebens. Aber er ist dabei überhaupt nicht parteipolitisch gebunden. Dass gewisse Themen, zu denen wir uns klar positionieren, eher in den Programmen grüner oder linker Parteien auftauchen, mag sein. Bei anderen Themen ist es wieder anders. Das hat inhaltliche Gründe, keine parteipolitischen.

Glauben Sie denn, dass es der Kirche nochmal gelingen wird, den großen Turnaround zu schaffen? Dass irgendwann wieder mehr Leute zur Kirche hin- als von ihr weggehen?

Ich bin da ganz zuversichtlich. Ja, es stimmt, zurzeit treten auffällig viele Menschen aus der Kirche aus. Das hat manchmal sehr pragmatische und oberflächliche Gründe. Dann heißt es zum Beispiel: „Ich habe auf meinem ersten Gehaltszettel festgestellt, die Kirchensteuer ist ein Betrag, den ich in meiner gegenwärtigen Lebenssituation gut für etwas anderes gebrauchen kann.“ Ein junger Mensch, der so entscheidet, ist nicht zwangsläufig gegen Kirche. Allerdings – soviel Redlichkeit muss sein – findet er Kirche offenbar auch gerade nicht so wichtig, dass er sie mit seinem Steuerbeitrag unterstützen will.

Das muss uns zu denken geben. Umgekehrt: Auch Menschen, die selber nicht zur Kirche gehören, finden wichtig, dass es Kirche gibt. Insofern ist da durchaus „Potential“. Dass wir zahlenmäßig drastisch weniger werden, hängt zu einem großen Teil allerdings auch mit allgemeinen demografischen Entwicklungen zusammen, auf die wir keinen Einfluss haben.

Wenn das Potential da ist, geht es letztendlich wohl um Angebot und Nachfrage. Welches Angebot wollen Sie den Menschen machen?

Wir wollen einen erkennbar eigenen Ton in die Gesellschaft eintragen und eine deutlich eigene Perspektive. Einen Ton und eine Perspektive, die über unsere begrenzten menschlichen Möglichkeiten hinausweisen. Damit halten wir eine Hoffnung wach, deren Grund unabhängig ist von dem, was uns gelingt oder missglückt. Solche Hoffnung braucht unsere Gesellschaft. Wir versuchen und bieten an, das Leben im Licht dieser Hoffnung zu gestalten. Mutig und stark und bereit, etwas zu wagen.

Muss sich die Evangelische Kirche dafür verändern?

Reformen und Transformation gehören zum Wesen der evangelischen Kirche. Unsere Kirche muss stets beweglich und im Wandel sein, wenn sie ihrem Auftrag treu bleiben will. Manchmal löst Neues das Alte ab, öfter bleibt Traditionelles und Bewährtes neben dem Fremden und Ungewohnten bestehen. Einiges hat seine Zeit und vergeht auch wieder, anderes bleibt ein kostbares Gut und wird nie vergangen sein. Auf diese Weise ist Transformation ein anstrengendes und hoch anspruchsvolles Geschehen. Unser Anliegen ist, den Wandel aktiv und bewusst zu gestalten. Richtig Wumms ist zum Beispiel bei allen Themen rund um die Digitalisierung drin. Da haben wir neue Formen der Kommunikation hinzugewonnen, die – wie alle Formen – mächtigen Einfluss auf die Inhalte haben. Diese Formen werden bleiben, wir lernen immer besser, sie konstruktiv zu nutzen. Das wird nicht einfach, aber es liegen große Chancen und ungeahnte Möglichkeiten darin.

Da sind Sie natürlich gezwungen, die Gläubigen dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden.

Ja, und das können wir ganz furchtfrei angehen. Säße Jesus hier, würde er wohl nicht sagen, das sei alles schädlicher Humbug. Ich stelle mir vor, er wäre da sehr offen und würde uns raten, sämtliche Wege der Kommunikation zu nutzen, um die Liebe Gottes unter die Menschen zu bringen. Die analoge Begegnung wird durch digitale Angebote ergänzt, aber nicht abgelöst. Wir brauchen beides, und das wird immer so sein. Es ist eine hochinteressante und lebendige Zeit, in der wir gerade leben.

Würde sich Jesus heute bei Twitter, Instagram und bei Facebook anmelden, um die Menschen zu erreichen?

Ob er es selber tun würde, weiß ich nicht. Aber er würde sicherlich sagen: „Die Leute, die das können und Lust dazu haben und fit darin sind, sollten das unbedingt machen.“

Das Gespräch führte Ben Krischke.


Hinweis der Redaktion: Cicero traf Kurschus im Januar in Hannover, bevor neue Erkenntnisse über die Missbrauchsvorwürfe in der Katholischen Kirche publik wurden. Auch die Evangelische Kirche arbeitet derzeit solche Vorwürfe in den eigenen Reihen auf, beziehungsweise lässt sie von unabhängiger Stelle aufarbeiten. Aufgrund der Komplexität des Themas und weil ein entsprechender Abschlussbericht voraussichtlich erst 2023 kommen wird, hat der Autor entschieden, das Thema an dieser Stelle auszuklammern. Über die Missbrauchsvorwürfe in der Evangelischen Kirche werden wir gesondert berichten. Am Rande des Interviews sagte Annette Kurschus hierzu unter anderem: „Wir werden alles tun, um das Unrecht, das bei uns verübt wurde, schonungslos und lückenlos aufzuarbeiten.“

Das Interview mit der EKD-Ratsvorsitzenden, Annette Kurschus, mit „Cicero“ am 14. Februar 2022 als PDF-Datei