Chancen und Risiken der Mediengesellschaft

3. Medien und Kommunikation in anthropologischer Perspektive

Die neuen Medien entwickeln sich im Spannungsfeld zwischen technischer Machbarkeit und ökonomischen Notwendigkeiten, rechtlichen Rahmenbedingungen und ethischen Maximen. Die dargestellten Wertekollisionen zeigen, um welch komplexe Wirklichkeit es geht. Die ethische Aufgabe besteht darin, die Chancen und Risiken zu gewichten und mit den anthropologischen Voraussetzungen eines christlichen Menschenbildes sowie mit den Zielen eines sozialen Gemeinwesens zu verbinden.

Das Bild vom Menschen ist dadurch bestimmt, daß er zu freier Entscheidung fähig und zu verantwortlicher Selbstbestimmung herausgefordert ist. Dieses Menschenbild, das für unser politisches, ökonomisches und rechtliches System grundlegend ist, hat seine Wurzeln in der Herkunftsgeschichte der europäischen Kultur. Zwar können aus dem christlichen Menschenbild nicht direkt ökonomische, technische oder politische Handlungsanweisungen abgeleitet werden. Es hat aber eine Schutzfunktion, weil es durch die Begriffe der Freiheit, der Würde und der Selbstbestimmung einen ethischen Mindeststandard aufzeigt, der in jedem Falle gewahrt bleiben muß, bevor über konkrete Einzelentscheidungen und Handlungsstrategien diskutiert wird.

Nach christlichem Verständnis hängt das, was der Mensch ist und werden kann, entscheidend von den Beziehungen ab, in denen er lebt. Diese anthropologische Grundaussage begegnet erstmals im biblischen Schöpfungsbericht, in dem die Gottebenbildlichkeit als jenes entscheidende Merkmal genannt wird, das den Menschen erst zum Menschen macht (Gen 1,26 f.). Die Gottebenbildlichkeit des Menschen beruht aber nicht auf der Ausstattung mit bestimmten Fähigkeiten wie der Vernunft, der Sprache oder der Geistbegabung, sondern unabhängig davon in der konstitutiven Beziehung zu Gott. Sie bildet die vertikale Beziehungslinie, die für die Identität des Menschen grundlegend ist. Der Mensch muß darauf vertrauen können, daß er von Gott selbst in dieser Welt gewollt ist und ein fundamentales Lebensrecht hat. Freilich ist, wie die Erzäahlungen vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies (Gen 2ff) zeigen, die Beziehung des Menschen zu seinem Ursprung gestört. Die Zuversicht, daß er von Gott gewollt wird, kommt dem Menschen immer wieder abhanden. Er ist angewiesen auf die jeweils neue Vergewisserung, wie sie in der Zueignung des Christusgeschehens wirksam wird.

Die menschliche Identität wird jedoch auch durch die menschlichen Beziehungen herangebildet. Die zweite Beziehungslinie verläuft deshalb horizontal. Auf ihr ereignen sich alle Formen der Kommunikation, die der Mensch zu seinen Mitmenschen, zur Natur, zur Gesellschaft - also zur Welt - unterhält. Kurz: Der Mensch ist ein Wesen, das in Beziehungen lebt und Verantwortung erlernt. Das bedeutet: Die Richtung und das Ziel der Persönlichkeitsentwicklung entscheiden sich an den Werten, an denen ein Mensch sich orientiert; ebenso an den Vorbildern, mit denen er sich identifiziert und denen er nacheifert. Dieses dynamische Beziehungselement, in dem auch Gruppen, Institutionen und Organisationen ihren Platz haben, stellt auch den Kern dessen dar, was heute als "Kommunikation" bezeichnet wird. Durch Kommunikation - von der persönlichen, zwischenmenschlichen Begegnung bis hin zu den über technische Medien vermittelten Formen - werden Beziehungen und Verbindungen aufgebaut und kommen Prozesse in Gang, die auf die Beteiligten wieder zurückwirken. Personwerdung und Kommunikation sind unauflöslich verknüpft. Vor diesem Hintergrund wurde auf der vierten Vollversammlung des "Ökumenischen Rates der Kirchen" in Uppsala (1968) erklärt: "Kommunikation ist die Substanz des Lebens. Durch sie werden wir, was wir sind, in unserem körperlichen wie in unserem geistigen Leben. Kommunikation ist auch die Art, in der Gott sich dem Menschen zu erkennen gibt, und in der der Mensch antwortet" (414). In dem Medienpastoralschreiben "Communio et Progressio" heißt es: "Ihrer ganzen Natur nach zielt die soziale Kommunikation darauf ab, daß die Menschen durch die Vielfalt ihrer Beziehungen einen tieferen Sinn für Gemeinschaft entwickeln. ... Nach christlicher Glaubensauffassung ist die Verbundenheit und die Gemeinschaft der Menschen - das oberste Ziel jeder Kommunikation - ursprünglich verwurzelt und gleichsam vorgebildet im höchsten Geheimnis der ewigen Gemeinschaft in Gott zwischen dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, die ein einziges göttliches Leben haben" (Nr. 8).

Die Bedeutung der Kommunikation ergibt sich aus der Grundverfassung des Menschseins. Der Mensch ist mehr als nur ein Naturwesen. Das Beziehungsgeflecht, in dem jeder Mensch sein Leben führen muß, ist uns nur in geringem Maße von Natur aus vorgegeben. Jedes Kind hat Vater und Mutter, ein bestimmtes Geschlecht; jeder muß Nahrung aufnehmen. Aber schon diese elementarsten Beziehungen müssen gestaltet werden. Die Tatsache, daß jeder Vater und Mutter hat, führt noch nicht automatisch zu einer bestimmten Gestalt der Beziehung zu ihnen. Ebensowenig gibt das Vorhandensein der Sexualität schon automatisch vor, wie diese gelebt und gestaltet wird. Neben den Beziehungen zur Umwelt muß jeder Mensch immer in eine Beziehung zu sich selbst treten, d.h. jene vielfältigen Beziehungen, die das Leben ausmachen, gestalten.

Mit der Vermehrung der Kommunikationsmöglichkeiten steigen die Chancen aber auch die Risiken zu umfassender Persönlichkeitsbildung und zur Entwicklung ethischer Grundüberzeugungen, die den Anforderungen einer globaler werdenden Kultur standhalten.

Die neuen Kommunikationsmöglichkeiten können den Informationshorizont des einzelnen in bisher noch nicht dagewesener Weise erweitern und so die Urteilsbildung im ethischen und politischen Bereich auf ein breiteres Fundament stellen. Die Möglichkeit, visuell oder auditiv verfügbare Vorbildgestalten, Meinungen und Ideen jederzeit abrufen und per Knopfdruck oder Mausklick austauschen zu können, kann die Bildung fester Grundüberzeugungen aber auch beeinträchtigen. Die Kommunikationsstruktur künstlicher Welten ist von anderer Art als die herkömmlichen Kommunikationsformen im personalen Bereich. Sie kann die Vorläufigkeit, die jederzeitige Widerrufbarkeit und damit im letzten die Unverbindlichkeit klarer Positionen zu ethischen, weltanschaulichen und religiösen Fragen suggerieren. Auch in diesem Phänomen zeigen sich die Ambivalenzen der Mediengesellschaft und die Notwendigkeit einer verantwortlichen und an der Zielvorstellung einer menschenwürdigen Kommunikation ausgerichteten Gestaltung der neuen Informations- und Kommunikationstechniken.

3.1 Kommunikation und Lebensdeutung

Wer verantwortlich handeln will, muß sich um die Voraussetzungen und Bedingungen seines Handelns Gedanken machen. Deshalb begleitet den Menschen ständig die Notwendigkeit, sich selbst, seine Herkunft und die Welt, in der er sich vorfindet, zu interpretieren. Mit dem Selbst- und Weltverständnis, das sich in diesem Deutungsprozeß herausbildet, werden die Weichen gestellt für die Art und Weise, wie Menschen ihr Leben führen. Menschliches Wahrnehmungsvermögen, die Möglichkeiten, sich zu seiner Umgebung, zu Personen und Dingen in Beziehung zu setzen, sind vielfältig. Jeder muß wählen, entscheiden, einordnen. Der menschliche Geist ist prinzipiell offen für alles. Deshalb muß er sich in einer fundamentalen Option auf die Zielperspektive eines umfassend gelingenden Lebens ausrichten. Diese Interpretations- und Gestaltungsaufgabe ist nie abschließbar. Sie braucht Vergebung und Ermutigung zum Neuanfang. Diese nicht auflösbare Spannung von Forderung und Scheitern, Vergebung und Neuanfang ist die innere Spannung, die das Leben in Bewegung erhält. Lebensdeutung und Lebensgestaltung sind aufs engste verschränkt. Den Selbst- und Weltbildern, die im Prozeß der Bildung entwickelt werden müssen, kommt eine mindestens ebenso große Bedeutung zu wie der Tatsache, daß auch der menschliche Körper Bedürfnisse hat. Altern läßt sich zum Beispiel als biologischer Prozeß beschreiben. Damit ist aber noch keine Orientierung dafür gegeben, wie jemand mit dieser Tatsache umgehen soll. Der Prozeß des Alterns kann gedeutet werden als Nachlassen wichtiger Lebenskräfte, als Nutzloswerden oder als Prozeß des Reifens an Erfahrung und Urteilskraft. Je nachdem, mit welchen Leitvorstellungen in einer Kultur die Bilder vom alten Menschen inhaltlich gefüllt werden, entwickeln sich Bewertungsmuster und Handlungsmaximen.

Die christliche Tradition war und ist ein Medium solcher Lebensinterpretation und -gestaltung. In ihrer Sprache, ihren Bildern, Symbolen und Riten werden die elementaren Sachverhalte des Lebens dargestellt, in einen Gesamthorizont eingeordnet und so eine bestimmte Orientierung in der zunächst chaotisch erscheinenden Mannigfaltigkeit des Lebens angebahnt.

In der Sprache der christlichen Tradition wurde die beschriebene Grundstruktur menschlichen Lebens unter den Leitbegriffen Geist, Person und Glauben entfaltet. Der Mensch findet durch seine Natur noch nicht automatisch den Weg vorgezeichnet, auf dem sein Leben gelingen kann. Dies kommt zum Ausdruck in der alten Lehre, daß der Mensch nicht nur Natur ist, sondern immer auch ein geistiges Wesen, offen für Sinndimensionen, die über die materielle und sichtbare Welt hinausreichen. Nach christlichem Verständnis bildet und definiert sich das Menschsein dadurch, daß der Mensch aus mehr lebt als nur aus der Beziehung auf die vorhandene, sinnlich wahrnehmbare Welt aus Personen und Dingen. Deswegen kann er auch eine Unabhängigkeit und Freiheit gegenüber dieser Welt entwickeln, von der her er sein Leben ganz anders gestalten kann als andere Lebewesen, die in ihre Umwelt eingebunden sind.

Die Rede von der Würde des Menschen bezeichnet die Tatsache, daß der Mensch im Vorhandenen nicht aufgeht, in keiner innerweltlichen Beziehung sein Wert umfassend definiert werden kann. Der Wert eines Menschen kann weder durch seine Eigenschaften noch durch seine Taten begründet werden. Seine unverlierbare Würde gewinnt der Mensch aus der freien Zuwendung Gottes. Die Fähigkeit zum Überschreiten der vor Augen liegenden innerweltlichen Zusammenhänge findet für Christen ihren Ausdruck in der auch im Versagen tragenden Gottesbeziehung. Von dieser in Christus begründeten Beziehung her soll das menschliche Leben interpretiert und verstanden werden. Für die menschliche Freiheit kann aus dieser Beziehung ein Maß für eine ihr entsprechende Lebensform gewonnen werden. Glauben läßt sich in dieser Perspektive verstehen als eine Form und Kraft der Stellungnahme zu den Grunddimensionen unseres Lebens, die sich am Willen Gottes als dem Inbegriff des Guten und des gelingenden Lebens orientiert.

Für die ethische Orientierung bedeutet dies: Zwar können Christen von keinem menschlichen Handeln die umfassende Verwirklichung des Guten, die Schaffung eines neuen Menschen erwarten. Aber sie sind schon durch den Schöpfungsauftrag Gottes dazu berufen, ihrerseits schöpferisch tätig zu werden, d.h. alles Handeln, alle Techniken und alle Formen des Zusammenlebens und der Kommunikation zu stärken, durch die ein gelingendes Leben für alle Geschöpfe befördert werden kann.

Auf dem Weg, auf dem Menschen die ihnen gegebene Freiheit gestalten, spielen die Deutungsbilder des Menschlichen eine große Rolle: wie der Mensch ist und wie er sein sollte. Sie stellen die Weichen dafür, zu welchen Lebensformen und zu welchem Handeln sich Menschen entschließen. Wo Lebensorientierung einseitig durch Bilder erfolgt, in denen die dreifache Verwiesenheit auf die Lebenswelt, auf die Transzendenz, auf Gott, und auf den Mitmenschen entweder ausgeblendet oder verkürzt dargestellt wird, ist solches gelingendes Leben gefährdet. Weder ist der Mensch ein Wesen, das ausschließlich geistige, hochkulturelle Bedürfnisse hat, noch sind Aggression und Sexualität allein die lebensbestimmenden Faktoren. Weder ausschließlich Schönheit und Freude, noch allein Leiden und Schmerz machen das Leben aus. Die Kraft, es zu führen, erwächst aus der Vielgestaltigkeit der Lebensbezüge. Vom christlichen Menschenverständnis aus ergibt sich deshalb das Interesse daran, daß die orientierenden Bilder für das Leben dessen spannungs- und konfliktreiche Vieldimensionalität nicht reduktionistisch darstellen.

3.2 Kommunikation als geistiges Geschehen

In der Tradition der Philosophie wie auch der Theologie wurden die Phänomene, die heute unter dem Stichwort Kommunikation angesprochen werden, lange unter dem Begriff des Geistes behandelt. "Geist" bezeichnet jene über die materielle Welt hinausgehende Dimension, in der der Mensch die Vielfalt der Beziehungen, in denen er lebt, wahrnimmt, deutet, zu ihnen Stellung nimmt und die Kraft finden muß, seinem Leben eine eigene Gestalt zu geben. Die Würde und zugleich die Gefährdung des menschlichen Lebens liegen nach christlichem Verständnis in eben jener Struktur beschlossen. Der Mensch ist in seiner Gottebenbildlichkeit dazu berufen, in Freiheit sein Leben selbst zu gestalten und seinen Lebensweg selbst zu bestimmen. Darum kann menschliches Leben nicht nur gelingen, sondern auch mißlingen. Menschen können ihre Freiheit zur Gestaltung eines humanen Zusammenlebens gebrauchen. Sie sind aber auch dazu fähig, mit ihrer Vernunft und ihrem Können Lebensmöglichkeiten zu zerstören. Die Verwirklichung der gegensätzlichen Möglichkeiten, die auch die Medien- und Kommunikationstechniken bieten, ist wiederum eingebunden in einen komplexen Zusammenhang von Technik, Recht, ökonomischen Strukturen, Bildung und politischem Willen. Das Wissen um diese Ambivalenz menschlicher Existenz gehört zum Erfahrungsschatz christlicher Lebensinterpretation und Lebensführung.

Mit der Erweiterung von Freiheitsräumen und Gestaltungsmöglichkeiten steigt zugleich die Anforderung zum verantwortlichen Gebrauch der Freiheit. Die rasche Veränderung der Medien stellt eine enorme Erweiterung der Spielräume für menschliches Handeln dar. Sie eröffnet deshalb auch bisher unbekannte Möglichkeiten des Mißbrauchs und radikalisiert so das Verantwortungsproblem.

Als verantwortlich läßt sich jener Gebrauch der Freiheit bezeichnen, der die Voraussetzungen eines Lebens in Freiheit für alle Menschen nicht zerstört, sondern stärkt und zudem die eigenen Begabungen entfaltet sowie im Prozeß der Kommunikation die Würde des anderen wahrt.

Solch ein verantwortlicher Gebrauch der Freiheit ist ebenfalls nicht naturgegeben. Er stellt zum einen eine permanente Bildungsaufgabe dar, zum anderen müssen politisch und rechtlich die Voraussetzungen für ein Mediensystem geschaffen werden, in dem ein solcher Gebrauch der Freiheit verwirklicht werden kann. Dabei sind solche Gestaltungsformen zu bevorzugen, die selbst dem Charakter der Freiheit und Würde entsprechen. Dies geschieht, wenn mit der Fähigkeit des Menschen zu vernünftiger Selbstbestimmung und damit zur Selbstverpflichtung aus Einsicht gerechnet wird, wie sie in der christlichen Tradition mit der Vorstellung ausgelegt wurde, daß der Mensch Ebenbild Gottes ist.

Die Aussage, daß die Beziehungen über das Zentrum des Personseins entscheiden, in denen Menschen ihr Leben deuten und gestalten, läßt sich auch so formulieren: Kommunikation ist diejenige Dimension des Geistes, in der wir uns über die biologische Verfassung und Naturgebundenheit unseres Lebens herausheben. Sie hat eine grundlegende Funktion für die Entwicklung unseres Selbst- und Weltverständnisses.

3.3 Kommunikation und Vertrauen

Kommunikation in allen ihren Formen ist der Austausch, in dem Menschen Anerkennung oder Widerspruch erfahren. In solchen Prozessen wird die persönliche Identität bestätigt oder in Frage gestellt. Das Gefühl von Wert und Bedeutung der eigenen Existenz entwickelt sich in und durch diesen kommunikativen Austausch.

Je mehr es dabei um Lebensthemen geht, desto schärfer zeigt sich: Alle Kommunikation setzt - wenn auch in unterschiedlichen Graden - Vertrauen voraus. Ein Mensch wird nur dann in eine Beziehung zu einem anderen treten, sich innerlich öffnen, wenn er das Gefühl hat, das Gegenüber nimmt ihn ernst, mißbraucht das Mitgeteilte nicht. Umgekehrt gilt: Mißbrauchtes Vertrauen zerstört Kommunikation. Wer ständig nicht richtig informiert, dem wird kein Glauben mehr geschenkt. Über Kommunikationsprozesse können Vertrauen und Lebensgewißheit bestärkt oder zerstört werden. Wer z.B. glaubt, daß durch bestimmte Kommunikationsformen sein eigenes Leben Schaden nimmt, wird sich ihnen im Normalfall nicht mehr anvertrauen. In ihrer Gesamtheit benötigen Kommunikationsstrukturen das Vertrauen, daß die Teilhabe an ihnen zumindest nicht schadet.

Vertrauen spielt dabei nicht nur in direkten zwischenmenschlichen Beziehungen eine Rolle. Je mehr Menschen in ihrer individuellen Lebensführung abhängig werden von Systemen, die sie durch eigenes Handeln kaum noch beeinflussen können, um so mehr müssen sie darauf vertrauen, daß das Ganze des Systems in Ordnung ist. Das gilt z.B. von der Nahrungsmittelversorgung, von medizinischen Einrichtungen, aber auch von den Systemen der Massenkommunikation. Wir können keines dieser Systeme mehr selbst steuern oder auf ihre Verläßlichkeit überprüfen. Wir verlassen uns darauf, daß unsere Angewiesenheit auf sie unserem Leben nützt und ihm nicht schadet. Solches Vertrauen, daß das Ganze im großen und ganzen verläßlich ist, ist eine Voraussetzung für die Akzeptanz und Funktionsfähigkeit eines Systems. Die Akteure in einem solchen System müssen deshalb ein Interesse daran haben, durch ihr eigenes Handeln mit dazu beizutragen, daß das Ganze des Systems vertrauenswürdig bleibt, weil dies eine Grundlage für die eigenen Arbeitsmöglichkeiten bildet.

Die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit wird durch die neuen Medien verschärft. Alle über Medien vermittelten Darstellungen sind das Ergebnis eines Prozesses, in dem aus einer Vielzahl von Aspekten ausgewählt wurde. Die Grenze zwischen Täuschung und Perspektivität ist nicht leicht zu ziehen. Die neuen Techniken eröffnen in bisher unbekannter Weise Manipulationsmöglichkeiten und ermöglichen das Verwischen der Grenzen zwischen Fiktion und Realität. Deshalb ist eine ausgeprägte Sensibilität für die damit verbundenen Gefahren besonders bei den Medienschaffenden aber auch bei den Mediennutzenden notwendig.

Das ethische Urteil wird um so schwieriger, je geringer die Chancen des einzelnen sind, sich über die prägende Wirkung von Kommunikation klar zu werden, wenn er sich z.B. medialen Kommunikationsvorgängen gleichsam "blind" ausgesetzt sieht. Es entspricht der Achtung der Würde des Menschen, solche "blinde Abhängigkeit" soweit wie möglich zu verringern durch Aufklärung, Information und Offenlegung über Arbeits- und Wirkungsweise von Medien. Eine verantwortliche Gestaltung von Kommunikationsverhältnissen wird diese "inneren" Wirkungen mit in den Blick nehmen.

3.4 Kommunikation als Schnittpunkt von Individualität und Sozialität

Über Kommunikationsstrukturen werden Interpretations- und Gestaltungsmöglichkeiten für menschliches Leben erschlossen oder verschlossen. Deshalb wurde in der christlichen Tradition sehr aufmerksam wahrgenommen, in welchen Kommunikationsverhältnissen der Mensch steht bzw. was seine lebensentscheidenden Selbst- und Weltbilder prägt. Dabei wurde ein Akzent auf die eigene Verantwortung für die Gestaltung der Beziehungen, in denen Menschen leben, gelegt. Der Selbstachtung der eigenen Würde entspricht es, solchen persönlichen und gesellschaftlichen Problemlösungsstrategien einen hohen Stellenwert einzuräumen, die mit der Eigenverantwortung des Individuums rechnen. Solche Kompetenz muß aber erst erlernt werden. Es ist ein ethisches Anliegen, die Voraussetzungen zu schaffen, die das Individuum in den Stand versetzen, eigenverantwortlich sein Leben zu gestalten.

Auch wenn niemand die Aufgabe der Lebensdeutung an andere delegieren kann, so gilt andererseits auch: Kein Mensch lebt für sich allein. Niemand ist in der Lage, die Muster für seine Lebensdeutung völlig allein zu entwickeln. Sie werden geprägt von der Gemeinschaft und der Kultur, in denen Menschen leben, von den Traditionen, in denen sie stehen, und den Zukunftsvisionen, die Menschen miteinander teilen. Sie sind das Ergebnis von Bildungsprozessen, die ihre Wurzeln in der jeweiligen kulturellen Herkunftsgeschichte haben.

Auf diese beiden Pole von Individualität und Sozialität ist auch die christliche Sicht des Menschen gerichtet: Einerseits ist jeder Mensch ein unverwechselbares, einzigartiges Individuum mit eigener Würde. In der christlichen Sprachtradition formuliert: Die Würde des Menschen liegt in seinem Charakter als Geschöpf. Er ist wesentlich definiert durch die Beziehung zu Gott. Er wird angesprochen als Gottes Ebenbild. Freiheit und Würde verdanken sich nach diesem Verständnis nicht einem staatlichen Hoheitsakt oder einer politischen Entscheidung. Sie sind vielmehr die Voraussetzung allen menschlichen Handelns.

Diese in der Schöpfung begründete Gottesbeziehung ist nach christlichem Verständnis andererseits für alle Menschen konstitutiv. Sie reserviert keine Sonderstellung für den Christen, sondern kommt allen Menschen unterschiedslos zu. Mit dem Gedanken der Würde ist die Vorstellung von der Gleichrangigkeit der Menschen verbunden. So sehr die Individualität jedes einzelnen Menschen geachtet werden soll, so sehr wird der Mensch gleichzeitig als ein soziales Wesen gesehen, das dazu bestimmt ist, in der Gemeinschaft der Menschen sein Leben zu führen. Es ist deshalb ein Grundanliegen der christlichen Tradition, die Teilhabe aller Menschen an den lebenswichtigen Gütern zu fördern. Da die Kommunikationsmöglichkeiten heute über die Qualität von Leben mitentscheiden, ist es notwendig, eine Kommunikationsordnung anzustreben, die solche Teilhabe aller ermöglicht.

In den Leitbegriffen der christlichen Soziallehre "Freiheit" und "Sozialität" kommt diese zweipolige Orientierung ebenso zum Ausdruck wie im Verständnis von Freiheit als "kommunikativer Freiheit", wie es im Zentrum der neueren sozialethischen Debatten steht. Das Verständnis von Freiheit und Würde, wie es für die abendländische Kultur grundlegend geworden ist, hat sich in einem historischen Prozeß herausgebildet, in dem die Bedeutung dieses Grundwertes vor allem mit Hilfe des Rechts immer weiter entfaltet wurde. Die Institution des Rechts dient der Sicherung und Stärkung individueller Freiheiten.

Das Freiheitsideal wurde konkretisiert als Recht auf Selbstbestimmung. Das umfaßt zwei Aspekte: die Abwehr von Fremdbestimmung (Abwehrrechte) und das Recht auf Anteilhabe und Mitbestimmung (Anspruchsrechte). Der Leitbegriff der Freiheit findet seine Konkretion im Gedanken von der Würde des Menschen wie er in Art. 1 GG als Grundrecht formuliert ist. Das ethische Gebot, das aus diesem Zuspruch der Würde resultiert, lautet: Der Mensch soll seine Kultur, die Verhältnisse und die Institutionen, in denen er lebt, so gestalten, daß blinde Abhängigkeit vermindert und die Chancen einer freien Selbstbestimmung aller gestärkt werden. Die Freiheitsverwirklichung des einen findet ihre Grenze dort, wo sie die Freiheit des anderen verletzt.

Diese freiheitsschützenden Rechtsgarantien konnten bisher weitgehend nur im Rahmen nationalstaatlicher Rechtssysteme durchgesetzt werden. Die modernen Massenmedien überschreiten nationale Grenzen. Eine wirksame Durchsetzung dieser Rechte ist aus diesem Grund mit nationalstaatlicher Politik nur sehr begrenzt möglich. Die Medienentwicklung wird so zu einer Herausforderung für die Entwicklung eines international wirksamen Rechts zum Schutz dieser individuellen Freiheitsrechte, also zum Schutz der Würde des Menschen.

Mit diesen Grundüberlegungen wird keine konkrete Einzelentscheidung vorweggenommen. Sie dienen vielmehr dazu, Grenzlinien zu markieren, die nicht überschritten werden dürfen, wenn das christliche Menschenbild in seinem Kernbestand nicht gefährdet und der Weg der mit ihm verbundenen Freiheits- und Emanzipationsgeschichte nicht verlassen werden soll.

3.5 Kommunikation und kulturelle Herkunft

So individuell menschliche Selbst- und Weltbilder einerseits sind, so sehr sind sie doch zugleich Ausdruck der Gemeinschaft und Kultur. An allen Medien läßt sich diese Zweipoligkeit von Individuum und Gemeinschaft feststellen. Auch wenn Menschen sich in gemeinsamer Sprache verständigen, so verwendet und hört doch jeder dasselbe Wort individuell. Jedes Bild, auch wenn es etwas auf ganz eigensinnige Weise zum Ausdruck bringt, lebt immer auch aus einem gemeinschaftlich geteilten Motivzusammenhang. Die Pflege der gemeinsamen Kultur und die Förderung individueller Lebensmöglichkeiten sind deshalb eng verschränkt. Kommunikation ist immer in eine Herkunftsgeschichte und in eine Kultur verwoben.

Jede Form öffentlicher Kommunikation kann deshalb daraufhin befragt werden, ob sie dazu beiträgt, die sie ermöglichenden Voraussetzungen zu erhalten und zu fördern, oder ob sie sie untergräbt und zerstört. Das gilt in besonderer Weise für die Freiheitsrechte, die in einem mühsamen Kampf um das Recht auf Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit erstritten wurden. Sie bilden heute die Grundlage für die modernen Medien.

Diese Voraussetzungen für eine offene Kommunikation im Geist der Freiheit und unter Achtung der Würde eines jeden Menschen ermöglichten wesentlich den Aufbau der parlamentarischen Demokratie. Diese Staatsform ist in ihrer Existenz angewiesen auf vielseitig informierte Bürgerinnen und Bürger und auf eine freie Meinungsbildung. Stärke und Entwicklungskraft der parlamentarischen Demokratie ergeben sich auch daraus, daß eine Vielzahl von konkurrierenden Überzeugungen öffentlich mitgeteilt werden kann. Deshalb haben die Massenmedien eine hohe Bedeutung für den Erhalt einer demokratischen Gesellschaft. Die Sicherung von Vielfalt und differenziertem Informationsstand bei möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern ist aus dieser Perspektive ein wichtiges ethisches Ziel.

Trotz der Zwänge, die sich aus der Steuerung des Medienbereichs über Marktmechanismen ergeben, gilt diese ethische Zielvorstellung nach wie vor und darf nicht anderen Interessen geopfert werden. Die Medien sind daraufhin zu befragen, inwieweit sie zum Erhalt ihrer eigenen Voraussetzung beitragen. Dynamische Marktwirtschaften fordern nicht nur stabile politische Rahmenbedingungen, sondern auch ein hohes Maß an Reflexität und Flexibilität der auf den Märkten Handelnden. Marktwirtschaften benötigen geeignete Bildungsangebote, die möglichst viele Menschen mit diesen Veränderungen vertraut machen. Die Aufklärungs- und Bildungsfunktion von Medien steht daher in einer Langzeitperspektive nicht im Gegensatz zu ihrer Marktorientierung. Die Marktwirtschaft bedarf der soliden, verläßlichen Information und der urteilsfähigen Bürgerinnen und Bürger. Dazu sind Institutionen notwendig, die sich der Pflege der langfristigen und übergreifenden Ziele annehmen, die über eine aktuelle Bedürfnislage hinausgehen.

Das vorrangige Interesse der Kirche an der Gestaltung der Medienentwicklung gilt nicht in erster Linie den technischen, politischen und finanziellen Fragen der Medien. Der Zugang zu diesen Aspekten erfolgt vielmehr von der Dimension der Wahrnehmungskultur und der Verantwortung aus: In welcher Weise prägen die Medien unser Selbst- und Weltverständnis? Fördern oder hemmen sie die Möglichkeiten zur Entwicklung von Lebensformen, in denen das Menschsein in all seinen Dimensionen ernstgenommen wird und verwirklicht werden kann? Dienen sie der Kommunikation von Menschen und dem gesellschaftlichen Zusammenleben? Von diesen Fragestellungen her werden dann aber ganz konkrete technische und politische, finanzielle und rechtliche Fragen relevant.

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