Judenchristen–jüdische Christen– »messianische Juden«

Eine Positionsbestimmung des Gemeinsamen Ausschusses »Kirche und Judentum« im Auftrag des Rates der EKD. 2017

3. Deutung des Phänomens und theologische Optionen

Wenn »messianisch-jüdische« Gemeinden und Gruppen das Gespräch oder die Kooperation mit der Evangelischen Kirchen suchen, stellt sich die Frage nach dem Status der jeweils anvisierten Begegnung und nach der Beurteilung dieser Gemeinden und Gruppen aus evangelisch-theologischer Perspektive.

Entsprechend der doppelten Identität, die »messianische Juden« für sich beanspruchen, stellt sich diese Frage in zweifacher Weise. Beide Fragen sind dabei miteinander verschränkt; die Art und Weise der Beantwortung der einen Frage hat Auswirkungen auf die der anderen.

  1. Ist der Anspruch »messianisch-jüdischer« Gruppen, im jüdisch-christlichen Dialog als »jüdische« Gesprächspartner aufzutreten, anzuerkennen?
     
  2. Sind die theologischen Positionen des »messianischen Judentums« – unbeschadet der Tatsache, dass sie in hohem Maße pluriform sind und »messianische Juden« meist (noch) keine terminologisch reflektierte Theologie ausformuliert haben – als gültiger Ausdruck des christlichen Glaubens evangelischer Prägung zu verstehen?

Zu a) Christliche Theologie muss davon Abstand nehmen, aus eigener theologischer Kompetenz heraus Aussagen zur Identitätsbestimmung von Juden oder des Judentums zu machen. Sie verzichtet darauf angesichts der innerjüdisch strittigen Frage »Wer ist ein Jude?«, aus Respekt vor den in den letzten Jahrzehnten gewonnenen Dialogpartnern, aus historischen Gründen sowie aufgrund von prinzipiellen Erwägungen der Religionstheologie.[7] Zugleich hat die Kirche keinen Anlass, »messianische Juden« aufgrund ihres Glaubens an Jesus als den Messias ihr Selbstverständnis als Juden zu bestreiten. Sie ist vielmehr darauf angewiesen, von ihren jeweiligen Gesprächspartnern von Fall zu Fall eigene (gegebenenfalls auch divergierende oder konträre)   Auskünfte dazu zu bekommen. In der Dialogperspektive kann christliche Theologie sich aber von der Religionswissenschaft über die Problematik belehren lassen, die sich aus der Sicht des traditionellen rabbinischen Judentums mit dem»messianischen Judentum« verbindet. Sie muss freilich auf ein eigenes Urteil darüber verzichten, ob oder inwieweit die theologischen Äußerungen und praktizierten gottesdienstlichen Formen des »messianischen Judentums« in der Sicht der religionsgesetzlichen Tradition (Halacha) zulässig sind und als Ausdruck authentischen jüdischen Lebens gedeutet werden können. Wohl aber kann evangelische Theologie sich an den bisherigen Erfahrungen im jüdisch-christlichen Dialog orientieren. Sie ist insbesondere gut beraten, den Gesichtspunkt der Loyalität gegenüber den bewährten jüdischen Gesprächspartnern nicht zu gering zu veranschlagen.

Zu b) Nach evangelischer Überzeugung ist die Kirche die Gemeinschaft der Glaubenden (Confessio Augustana Art. 7, Heidelberger Katechismus Frage 54 und 65, vgl. auch Leuenberger Konkordie Nr. 2; 13-16). Durch den Glauben an Jesus Christus gehört ein Mensch zur Kirche. Da dieser Glaube begründet und erhalten wird durch Wort und Sakrament, sind diese Medien des Evangeliums konstitutiv für die Kirche (CA VII und CA V); an ihnen ist nach den Reformatoren die Kirche erkennbar. Die Taufe ist der entscheidende Zugang zur christlichen Kirche und die prägende Signatur des christlichen Lebens; im Abendmahl erfährt und feiern die Glaubenden in einer gottesdienstlichen Gemeinschaft die Nähe zu Christus. Fragt man von daher, wie der im messianischen Judentum beanspruchte Glaube zu verstehen ist, ist zwar die terminologische Übereinstimmung mit den altkirchlichen Bekenntnissen nicht zu erwarten. Wo Jesus Christus Gegenstand des Vertrauens »im Leben und im Tod« ist und er in diesem Sinne als »der Herr« (vgl. Phil 2,9-11) anerkannt wird, ist dennoch anzunehmen, dass der Sachgehalt der Aussagen von Nizäa-Konstantinopel und Chalcedon anerkannt ist, sofern er nicht ausdrücklich in Abrede gestellt wird. Auch trinitätstheologisch sollte nicht nach der Übereinstimmung mit dogmatischen Formeln, sondern nach dem Stellenwert des Kreuzes für die Rede von Gott gefragt werden. Wenn sich im Kreuz das ewiggültige Wesen und die Wahrheit Gottes manifestiert, ist der Sachgehalt der trinitarischen Formeln im Zentrum bekannt.

Das Kriterium des Glaubens an das Evangelium schließt umgekehrt ein, dass andere Elemente des Kirche-Seins (von Menschen eingesetzte »Ceremonien«) für die Zugehörigkeit zu Christus nicht konstitutiv sind: Das Heil ist allein in Gottes Handeln und nicht in Voraussetzungen auf Seiten des Menschen begründet. Unter dieser Voraussetzung ist eine Orientierung des Lebensvollzuges an der Halacha im Raum der Kirche theologisch akzeptabel. Wenn Judenchristen ihr jüdisches Erbe pflegen, ist dies insofern Ausdruck ihrer christlichen Freiheit.

Im Gespräch mit Vertretern des »messianischen Judentums« können insbesondere folgende Fragen zur Sprache kommen:

  • Handelt es sich bei der Einhaltung der Halacha und des Beschneidungsgebots im Sinne von CA 7 um Adiaphora, die im Zusammenhang mit ihrer Zugehörigkeit zum Judentum stehen, aber nicht die Gottesbeziehung konstituieren?[8]
     
  • Tritt der Gehorsam gegenüber diesen Geboten unter das Vorzeichen der exklusiven Bindung des Gottesverhältnisses an den Christusglauben?
     
  • Handelt es sich um Gebote, die auch von Juden, die sich an sie gebunden wissen, nicht als verpflichtend für aus den »Völkern« stammende Christen und auch nicht als konstitutiv für das Gottesverhältnis anderer »Judenchristen« betrachtet werden?

Wenn diese Fragen bejaht werden können, ist der Toragehorsam mit dem Christsein vereinbar; eine gegenteilige Behauptung nähme dem Toragehorsam ihrerseits den Charakter des Adiaphoron.

Messianische Juden haben hier mit der theologischen (und logischen) Schwierigkeit zu kämpfen, dass die Halacha nach übereinstimmender Auslegung aller traditionellen jüdischen Rechtsgelehrten das Christusbekenntnis gerade verbietet und der Toragehorsam und das Christusbekenntnis sich demgemäß gegenseitig ausschließen.

Im Hinblick auf den Gebrauch der Sakramente ist nach den Konsequenzen der messianisch-jüdischen Deutung von ihren (wirklichen oder angenommenen) Vorbildern (Passamahl; Mikwe) her zu fragen. Führen solche Deutungen zum Wegfall konstitutiver Momente der Sakramente (Trinitarische Taufformel und Einsetzungsworte, sichtbares Zeichen, Einsetzung durch Jesus Christus) oder zur Bestreitung der Gültigkeit von Sakramenten, die diese konstitutiven Momente aufweisen?

Im Falle der Taufe ist zu beachten, dass die Verbindung mit Jesu Tod und Auferstehung die Taufe – anders als der Wiederholungsritus des Mikwe-Bades – zu einem einmaligen, nicht wiederholbaren Geschehen macht. Die Frage der Unmündigen bzw. Erwachsenentaufe ist dabei kein für Gespräche mit messianischen Juden spezifisches Thema. Im Sinne der genannten Auslegung von CA 7 ist neben der Taufe die Praxis des Mikwe-Bades als wiederholbarer Tauferinnerung für messianische Juden aber ebenso akzeptabel wie die Beschneidung von jüdisch geborenen Knaben. Ebenso kann es als Ausdruck christlicher Freiheit gelten, wenn messianische Juden ihr Abendmahl als Passamahl feiern, sofern die konstitutiven Elemente des Abendmahls christologisch bestimmt sind und es dadurch mit Mahlfeiern anderer christlicher Gemeinden verbunden bleibt.

Grundsätzlich ist auch bei den unter 3b) genannten Gesichtspunkten zu bedenken, wie sich offizielle Kontakte zwischen der Evangelischen Kirche und »messianisch-jüdischen Gemeinden« auf das Verhältnis zu den bewährten jüdischen Partnern im christlich-jüdischen Dialog auswirken würden. Dabei ist insbesondere zu überlegen, wie dem unter Umständen berechtigten Verdacht, die Kirchen wollten auf diesem Umweg die Judenmission wieder einführen, glaubwürdig begegnet werden kann. Eine Abkehr vom kirchlichen Verzicht auf Judenmission wäre aber auf Grund der christlich-theologischen Überzeugung der bleibenden Erwählung Israels nicht hinnehmbar.[9]

Solche Erwägungen zur Judenmission allein können aber hinsichtlich der nach CA 7 in Anschlag zu bringenden Kriterien für die Beurteilung »messianisch-jüdischer« Gemeinden nicht ausschlaggebend sein. Die Selbststilisierung von missionarischen Gruppen heidenchristlicher Provenienz als »jüdisch« oder der Gebrauch von Hebraismen im Zuge einer missionarischen Strategie zur Etablierung eines (vermeintlichen) Anknüpfungspunktes wird von der Evangelischen Kirche als Irreführung missbilligt.
 

Fußnoten

  1. Die Kirche hat namentlich keinen Anlass, in der – innerjüdisch (zwischen der jüdischen Orthodoxie und den Verfechtern des religionsrechtlichen Status Quo in Israel einerseits und reformjüdischen und bestimmten säkularzionistischen Positionen andererseits) umstrittenen – Streitfrage um die matrilineare oder patrilineare Definition des Judentums eine eigene Position zu formulieren.
  2. Eine Aufgabe der evangelischen Theologie bleibt die Erörterung der Frage, inwieweit unter dem Gesichtspunkt der christlich-theologischen Überzeugung von der bleibenden Erwählung Israels theologisch von Merkmalen, die die jüdische Identität begründen (Halachaobservanz, Beschneidung, Sabbat), für den Raum der Kirche als von »Adiaphora« gesprochen werden kann. Umgekehrt könnte die christliche Rede von der bleibenden Erwählung Israels von messianisch-jüdischen Kreisen in dem Sinne missverstanden werden, als seien in christlich-theologischer Hinsicht Konstellationen denkbar, in denen für Christinnen und Christen der Christusglaube legitim als Adiaphoron aufgefasst werden könnte.
  3. Vgl. dazu die Kundgebung der 12. Synode der EKD in Magdeburg vom 9. November 2016: »‘der Treue hält ewiglich.‘ (Psalm 146,6) – Eine Erklärung zu Christen und Juden als Zeugen der Treue Gottes«. Siehe den vollständigen Text am Ende dieser Broschüre.
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