Predigt zu Jeremia 29, 1.4-14

in der Baptistenkirche, Berlin-Wedding

 

Gnade sei mit euch…

 

Liebe Schwestern und Brüder,

 

wenn die Zeiten schwer sind – und diese Wochen und Monate sind für nicht wenige Menschen sehr schwer – dann kann es helfen, sich vergangener schwerer Zeiten zu erinnern und zu fragen: Was hat den Menschen damals in ihrem Leid geholfen? Was hat ihnen Kraft gegeben? Was hat sie durch die Krise getragen?

 

Lassen wir uns deshalb mitnehmen in das beginnende 6. Jahrhundert vor Christus, und zwar nach Babylon. Dorthin hat der babylonische König Nebukadnezar einen nicht unerheblichen Teil des Volkes Israel verschleppt. Zuvor hatte er Israels Hauptstadt Jerusalem einschließlich des Tempels in Schutt und Asche gelegt.

 

Unter den Exilanten in Babylon sind Älteste, Priester und Propheten, also Leute, die in Israel den Ton angegeben haben. Nun sind sie, die anderen Leitfiguren und Vorbild waren, ohne Orientierung und sehen sich mit einem Berg ungelöster Fragen und Probleme konfrontiert. Die drängendste Frage ist die nach Gott: Wie können wir Gott, wie kann Gott uns nahe sein, wo doch sein Heiligtum hunderte von Kilometern entfernt und überdies zerstört ist? Wohnt nicht der Name Gottes im Tempel in Jerusalem? Sind wir also hier in der Fremde nicht völlig verloren? Und wie sollen wir uns hier verhalten unter all den fremden Menschen mit ihren merkwürdigen Bräuchen und Ritualen? Sollen wir auf gepackten Koffern sitzen bleiben? Aber wie lange soll das dauern? Oder sollen wir uns auf dieses Land und seine Menschen einlassen? Aber können wir dann noch unsere Identität bewahren? Werden wir nicht früher oder später in dem babylonischen Volk und seiner Kultur aufgehen?

 

Drängende, existenzielle Fragen wie diese sind es, die die nach Babylon verschleppten Juden bewegen. Da erreicht sie ein Brief. Ein Brief, der den Orientierungslosen Orientierung gibt und vermutlich nicht wenige von ihnen sehr tröstet. Absender des Briefes ist der Prophet Jeremia, der jahrelang vor der Katastrophe gewarnt und zur Umkehr gerufen hat. Dabei hat er nicht mit Anklagen und Drohungen gespart. Jetzt aber ist der Ton ein anderer. Wir hören den Brief des Propheten an die Weggeführten in Babel aus dem 29. Kapitel des Jeremiabuches. Das ist der für diesen Sonntag vorgeschlagene Predigttext.

 

(Jer. 29, 1.4-14 lesen)

 

Liebe Schwestern und Brüder, auch wenn uns vieles von den gewaltsam aus Israel nach Babylon deportierten Juden unterscheidet, manches verbindet uns in dieser Zeit der Pandemie mit ihnen…

Auch uns ist unser vertrautes Leben abhandengekommen. Wie wichtig ist es den meisten von uns, anderen zu erzählen, was wir erlebten. Andere um Rat zu fragen oder ihnen Rat zu geben. Traurigkeit und Freude miteinander zu teilen. Seit Monaten ist all das nur noch eingeschränkt möglich und wir haben lernen müssen, dass das, was uns so wichtig ist, eine Gefahr für unser und anderer Leib und Leben sein kann. Zu Beginn der Pandemie hat das bekanntlich dazu geführt, dass alte und kranke Menschen aus Furcht vor Ansteckung nicht mehr besucht wurden. Viele waren tief traurig und nicht wenige sind einsam gestorben. Wird das wieder geschehen, wenn die Zahl der an Covid 19 erkrankten Menschen weiter steigt?

 

Auch unser Glaubensleben ist auf die Probe gestellt. Wir merkwürdig ist für uns alle zum Beispiel die Situation, in der wir uns gerade in diesem Augenblick und an diesem Ort befinden. Hier im Kirchraum sind wir nur ganz wenige Menschen. Ich schaue beim Predigen in die Kamera und sehe nicht, ob und wie Sie auf das reagieren, was ich sage. Und Sie schauen uns zu und sehnen sich vermutlich nach dem „richtigen“ Beisammensein, das für glaubende Menschen so unendlich wichtig ist. Wie lange wird das noch so sein? Wann endlich werden wir Gott wieder in vollem Hause vielstimmig loben und anbeten?

 

Und schließlich: Wie sollen wir uns in diesen unsicheren Zeiten verhalten? Wie vorsichtig sollen oder müssen wir um unserer und der Gesundheit anderer willen sein? Was können und wollen wir aber auch riskieren, um über aller Vorsicht nicht sozial zu verkümmern?

 

Was, liebe Schwestern und Brüder, würde der Prophet Jeremia uns wohl schreiben? Ich weiß: das ist Spekulation. Aber immerhin haben wir ja einen Brief von ihm. Einen orientierenden Brief an Orientierung suchende Menschen. Vielleicht würde Jeremia uns so schreiben:

 

„Liebe Schwestern und Brüder, die ihr gerade durch das dunkle Tal der Covid 19-Pandemie geht. Wie eure jüdischen Geschwister, die vor 2600 Jahren nach Babylon deportiert wurden, seid ihr verzagt. Ihr ahnt, dass das Leben, wie es vor der Pandemie war, nicht zurückkehren wird und wisst doch nicht, was genau kommt. Auch seid ihr unsicher, was ihr tun und was ihr lassen sollt. Gewiss, manches, wie zum Beispiel die Maskenpflicht, ist euch von der Politik vorgegeben. Aber vieles müsst ihr auch ganz allein entscheiden: Besuche ich meine alten Eltern? Muss der Kontakt zwischen Großeltern und Enkeln gänzlich unterbunden werden? Wie pflege ich meine Freundschaften? Den Israeliten habe ich damals geraten, sich auf den Ort, an dem sie gegen ihren Willen waren, einzulassen: In Babylon Häuser zu bauen, Gärten zu pflanzen, Familien zu gründen. Ich weiß, das war eine Zumutung, aber ich rate auch euch: Seid Realisten und lasst euch auf die beschwerliche Situation ein. Was das bedeutet? Nehmt die Gefahr ernst, die von dem Coronavirus für euch und alle anderen Menschen ausgeht und haltet Abstand. Dass ihr eure Liebsten nicht in die Arme schließen könnt, bedeutet ja nicht, dass ihr den Kontakt zu ihnen abbrechen müsst. Seid erfinderisch. Schreibt mal wieder einen Brief, nutzt die neuen Medien, geht zusammen spazieren, statt miteinander Kaffee zu trinken.

 

Übernehmt, liebe Schwestern und Brüder, nicht nur in eurem Nahbereich Verantwortung. Meinen Geschwistern damals habe ich geschrieben: ‚Suchet der Stadt Bestes…und betet für sie zum Herrn; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl.‘  Tut auch ihr das. Betet für die Menschen, die in dieser schweren Zeit politische Verantwortung tragen: für eure Bundeskanzlerin Angela Merkel und euren Regierenden Bürgermeister Michael Müller. Für die Mitglieder des Bundestages und des Landtages. Vergesst auch die nicht, die in der Verwaltung Verantwortung tragen und denkt ganz besonders an die Mitarbeitenden in den Gesundheitsämtern. Euer Gesundheitsminister Jens Spahn hat im Frühjahr gesagt: ‚Wir werden einander viel vergeben müssen.‘ Damit wollte er wohl zum Ausdruck bringen, dass Politiker Fehler machen – sie sind ja Menschen! – und dass diese Fehler in der Pandemie schwerwiegende Auswirkungen haben könnten. Wie wichtig ist es deshalb gerade jetzt, dass ihr für eure Politiker betet – zu Hause und im Gottesdienst.

 

Die Israeliten musste ich damals vor falschen Propheten warnen. Vor Menschen, die Lüge weissagen. Solche Leute sind jetzt auch wieder unterwegs. Menschen, die die Corona-Politik der Regierung diffamieren, die Gefahr verharmlosen und Verschwörungstheorien verbreiten. Fallt nicht auf sie herein, sondern traut der demokratisch gewählten Regierung und den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Vor allem aber – und auch das habe ich damals schon geschrieben: Vertraut auf Gott und verlasst euch darauf, dass Gott euch nicht den Krieg erklärt, sondern Gedanken des Friedens über euch hat. Ich wiederhole für euch, was ich damals schrieb: ‚Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.‘ Gott will euch nicht vernichten; er will, dass ihr lebt! Er versprach den Israeliten und verspricht es euch in gleicher Weise: ‚Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen.‘

 

Ob ihr, liebe Schwestern und Brüder, meinen Ratschlägen etwas abgewinnen könnt? Könnt ihr euch auf die Krisensituation einlassen und vorsichtig sein, zugleich Verantwortung übernehmen und  für die Regierenden beten, unterscheiden, wem zu trauen ist und wem nicht - und das alles in dem festen Glauben, dass Gott euch durch die Krise tragen wird, weil er das Leben will? Ihr würdet einen zwar nicht leichten, aber einen verheißungsvollen Weg gehen – wachsam, aber nicht panisch, hoffnungsvoll, aber nicht leichtsinnig. Shalom! Euer Jeremia.“

 

Dieser Brief, liebe Gemeinde, ist von mir erfunden. Er ist aber alles andere als frei erfunden, denn er orientiert sich an dem Brief, den Jeremia den nach Babylon verschleppten Israeliten schrieb. Vor allem aber orientiert er sich - wie jener Brief - an Gott, der nicht den Tod, sondern das Leben will.

 

Sein Friede …