Predigt vor der Sondersitzung des Deutschen Bundestages am 27. Februar 2022 in Berlin

Prälat Dr. Martin Dutzmann, Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union

Johannes 14, 27

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt: Jesus Christus. 

Liebe Schwestern und Brüder,

das Unvorstellbare ist geschehen. Nach dem Überfall Russlands auf das Nachbarland Ukraine herrscht wieder Krieg in Europa. Sirenen heulen, Raketen schlagen ein, Häuser werden in Trümmer gelegt, Menschen suchen Schutz in U-Bahnschächten und Kellern, andere versuchen hektisch das Land zu verlassen. Unzählige Tränen werden geweint. Tränen der Angst und des Schmerzes, der Trauer und der Wut.

Es herrscht wieder Krieg in Europa. Viele haben versucht, das Unvorstellbare abzuwenden, sind tausende von Kilometern gereist, haben Gespräche geführt, nächtelang telefoniert, fieberhaft diplomatische Lösungen für den Konflikt gesucht – und wurden enttäuscht, abgewiesen, belogen und betrogen. Die Panzer rollen trotz aller Friedensbemühungen.


Es herrscht wieder Krieg in Europa. Wir alle – ob mit oder ohne politische Verantwortung – sind verstört. Als wir vor acht Jahren miterlebten, wie die Halbinsel Krim von Russland annektiert wurde, haben wir das für eine bedauerliche Ausnahme gehalten. Wir haben uns trotzdem darauf verlassen, dass alle Staaten Europas die Unverletzlichkeit rechtmäßiger Staatsgrenzen achten. Auch haben wir weiterhin geglaubt, dass das Völkerrecht allenthalben respektiert würde. Wenn wir über Krieg sprachen, dann meinten wir ein längst vergangenes oder ein weit entferntes Geschehen. Eine bewaffnete Auseinandersetzung an der Ostgrenze der Europäischen Union war uns unvorstellbar.

Nun sind wir hier. Haben uns als Christen vor Gott versammelt und rufen zu ihm: „Kyrie eleison! Herr, erbarme dich! Christe eleison, Christe, erbarme dich!“ 

Wir sind nicht die ersten, die in ihrer Not zu Gott schreien und nicht die ersten, die Christus ihre Angst und ihre Trauer zu Füßen legen. Das tun schon seine Jüngerinnen und Jünger. Als Jesus sie wissen lässt, dass er einen Leidensweg gehen und am Ende sterben muss, sind sie erschrocken, traurig und unruhig. Sie sind mit dem Unvorstellbaren konfrontiert. So haben sie sich ihren Weg mit ihm nicht vorgestellt. Alles haben sie für ihn verlassen, ihre Familien, ihre Berufe, ihre Freudinnen und Freunde, und nun verlässt er sie! Die Jüngerinnen und Jünger haben Angst. Angst, allein zu bleiben. Angst, die Orientierung zu verlieren, wenn Jesus ihnen nicht mehr den Weg weist. Angst, angegriffen und womöglich getötet zu werden, wenn Jesus sich nicht mehr schützend vor sie stellt. 

Jesus nimmt sich Zeit für eine lange Trostrede. Darin heißt es, nachzulesen im Evangelium nach Johannes, Kapitel14, Vers 27: „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“ Wir hören diese Trostworte Jesu an seine Nachfolgerinnen und Nachfolger auch als Ermutigung für uns in diesen verstörenden Tagen.

„Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.“ sagt Jesus. Das ist mehr als ein Friedenswunsch, so kostbar auch dieser bereits ist.  Jesus wünscht uns nicht nur Frieden, er gibt ihn uns. Sein Vater, so sagt er in seiner Abschiedsrede, sendet uns nämlich in seinem Namen den Tröster, den Heiligen Geist. So sind wir nicht allein und nicht schutzlos, auch wenn Jesus nicht mehr leibhaftig unter uns ist. „Meinen Frieden gebe ich euch.“ Wir haben seinen Frieden, auch wenn die Welt um uns herumtobt und der Boden unter unseren Füßen bebt. 

Doch von welcher Art ist der Friede, den Jesus uns gibt?

„Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt.“, fährt Jesus fort. Der Friede, den die Welt gibt, ist nämlich stets gefährdet und brüchig. Irgendwie haben wir das immer schon gewusst. Wir wissen ja, wie friedlos wir selbst oft sind und andere sind es auch. Und wir haben schon manchen Konflikt erlebt – in der Familie, mit den Nachbarn, mit Kollegen. Seit der vergangenen Woche aber wird uns auf brutalst mögliche Weise und unmissverständlich vor Augen geführt, wie fragil der von Menschen bewirkte Friede ist. Binnen Stunden waren Friedensabkommen und internationale Vereinbarungen das Papier nicht mehr wert, auf das sie einmal geschrieben wurden. 

Wie kommt das? Warum ist der Friede der Welt so gefährdet und so brüchig? Die Bibel antwortet auf ihren ersten Seiten: Weil wir Sünderinnen und Sünder sind. Weil wir Menschen sind, die sich von Gott getrennt haben. Nachdem das erste Menschenpaar, das ja für uns alle steht, hochmütig und gierig Gottes Willen missachtet und vom verbotenen Baum gegessen hat, kommt es zwischen seinen Kindern zu Mord und Totschlag. Kain erschlägt seinen Bruder Abel.

„Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt.“  sagt Jesus – und gibt uns seinen Geist. In seinem Geist aber gibt er sich selbst. In seinem Geist ist er mitten unter uns. „Christus ist unser Friede“, heißt es in einem der Briefe des Neuen Testaments. Verlässlich ist dieser Friede und jeden Morgen neu. Der Friede, den Jesus uns gibt und der er selbst ist, ist unverbrüchlich. Kein Mensch kann ihn zunichtemachen, niemand ihn durch ein noch so infames Tun in Frage stellen. Deshalb tröstet Jesus seine Nachfolgerinnen und Nachfolger und auch uns.

„Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“ Verlasst euch darauf, dass ich an eurer Seite bin. Dass nichts und niemand euch von meiner Liebe trennen kann. Dass ihr in meinen Augen unendlich kostbare Geschöpfe Gottes seid – trotz eures Hochmuts, eurer Gier, eurer Friedlosigkeit, kurzum: trotz eurer Sünde. Ich liebe euch ohne Wenn und Aber. Deshalb kann Friede in eure Herzen einziehen, deshalb könnt ihr unerschrocken und furchtlos sein, auch wenn gerade schreckliche Dinge um euch herum geschehen und die Welt zum Fürchten ist.

Als Schriftlesung haben wir vorhin die Seligpreisungen aus dem Matthäusevangelium gehört. Bestimmt ist uns der Satz von den Friedensstiftern heute besonders zu Herzen gegangen: „Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Friedensstifter sollen wir sein und Friedensstifterinnen. Als solche, deren Friede Christus ist, sind wir dazu geradezu prädestiniert.  

Sie werden, liebe Schwestern und Brüder, gleich erst in den Fraktionen und dann im Plenum des Bundestages darüber debattieren, wie in dem Krieg Russlands gegen die Ukraine Frieden gestiftet werden kann. Vermutlich werden Sie heute keine schnelle und vor allem keine einfache Lösung finden. Dennoch werden Sie zum Frieden beitragen, wenn Sie dabeibleiben, dass auf militärische Gewalt nur um äußersten Notfall mit militärischer Gewalt geantwortet werden soll. Sie werden zum Frieden beitragen, wenn Sie gleichwohl die Gewalt nicht einfach hinnehmen, sondern eine wirksame Antwort finden – auch wenn diese Antwort uns allen Einschränkungen und Verzicht auferlegen mag. Und Sie werden zum Frieden beitragen, wenn Sie mithelfen, dass die vom Krieg gezeichneten Menschen einen Ort finden, an dem sie sicher sind.

Gott segne Ihre heutigen Beratungen und gebe, dass sie dem Frieden dienen.

Sein Friede, der höher ist als es unser Denken begreifen kann, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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