Predigt im Gottesdienst im Gedenken an den Völkermord an Sinti und Roma am 30. Januar 2022 im Berliner Dom

Anna-Nicole Heinrich, Präses der Synode der EKD

Berliner Dom

Es gilt das gesprochene Wort.

Friede sei mit Euch!

Liebe Gemeinde,

hören wir auf den Predigttext für diesen Sonntag aus der BasisBibel:
Er steht im 1. Brief von Johannes im zweiten Kapitel:

Basisbibel: 1. Joh 2,7-11
(7) Ihr Lieben, ich schreibe euch kein neues Gebot. Es ist das alte, das ihr von Anfang an gekannt habt. Dieses Gebot ist die Botschaft, die ihr bereits gehört habt.

(8) Und trotzdem ist es zugleich ein neues Gebot, das ich euch schreibe. Es wurde verwirklicht im Leben von Jesus und in eurem Leben. Denn die Finsternis vergeht, und das Licht der Wahrheit leuchtet schon.

(9) Wer behauptet: „Ich lebe im Licht!“, aber seinen Bruder oder seine Schwester hasst, lebt noch in der Finsternis.

(10) Wer seinen Bruder oder seine Schwester liebt, bleibt im Licht. In ihm gibt es nichts, was ihn vom Glauben abbringen kann.

(11) Aber wer seinen Bruder oder seine Schwester hasst, lebt in der Finsternis. Er irrt in der Finsternis umher und weiß nicht, wohin er geht. Denn die Finsternis hat seine Augen blind gemacht. 

„Finsternis legt sich übers Land, hat das Unheil zu uns gesandt“ – „Keine Träne kann mehr fließen, sie sind alle ausgebrannt“
„Millionen Tot“.

So singt ein Schulfreund von mir in der Oberstufe. Wir setzen uns mit den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinander, beschäftigen uns mit Erinnerungskultur – er verarbeitet das in einem Lied. Wir haben Überlebende kennen gelernt, haben Konzentrationslager besucht. Wir haben gelernt, was passiert ist. Begreifen konnten wir es nicht.

I – „Millionen tot“

Und Max, mein Mitschüler sang: „Millionen tot. Die Jahre vergehen, wir werden es nie verstehen.“ – Millionen tot.

Vor 77 Jahren ist das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit worden. In den Tagen um den 27. Januar wird immer wieder erinnert; gedacht an Leid und Schmerz, den Hass, den Wahn;

An die Millionen Opfer des Nationalsozialismus, heute hier im Besonderen an die verfolgten und ermordeten Sinti und Roma. Wir erinnern an die Zeit tiefster Finsternis. Die möglich war, weil die Vielen weggesehen haben – nein schlimmer, weil Viele es hingenommen haben; weil sie es richtig fanden; weil sie mittaten – (auch) als Christ:innen.

(11) Wer seinen Bruder oder seine Schwester hasst, lebt in der Finsternis. Er irrt in der Finsternis umher und weiß nicht, wohin er geht. Denn die Finsternis hat seine Augen blind gemacht.

Und obwohl im Johannesbrief so deutlich steht, dass das die tiefste Finsternis ist, konnte Hass um sich greifen, und hineinziehen in eine Dunkelheit, so finster, dass sie die Augen und Herzen blind machte. In der Christ:innen zu Täter:innen wurden auch gegenüber ihren Glaubensgeschwistern.

II – „Wir werden es nie verstehen“

Und Max sang: „Millionen tot. Die Jahre vergehen, wir werden es nie verstehen.“ – Wir werden es nie verstehen

Weder er noch ich, noch meine Eltern haben sie erlebt, selbst meine Großeltern sind erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren. Aber ich fühle etwas, ich fühle etwas; da ist eine „entfernte Verbindung – die mich anfasst“. Und sie lässt mich bekennen: Ich will nicht weg sehen, will meine Augen nicht verschließen. Ich möchte wissen, was geschah, möchte nachvollziehen, mich dem aussetzen, die quälenden Fragen ertragen – und merke so oft wie schwer das fällt. Ich kann nicht nachvollziehen, wie es dazu gekommen ist und kann mich nicht einfach hineinversetzen in diese Dunkelheit. Das ist eine Finsternis, die ich nie empfunden habe; Die Auseinandersetzung damit, meine gefühlte Machtlosigkeit, meine Grenzen die ich gar nicht klar benennen kann, mein angefasst sein – lähmen mich. Lassen mich verzagen.

Denn eigentlich rede ich viel einfacher und lieber vom Licht, von Hoffnungsperspektiven, von Unverzagtheit. Von kleinen Erfolgen und großen Herausforderungen. Ich möchte Probleme identifizieren, nach Lösungen suchen. Möchte Debatten führen.

(8) Die Finsternis vergeht, und das Licht der Wahrheit leuchtet schon.

Aber eigentlich ist da nur Schrecken und Schmerz – Rassismus, Diskriminierung und Hass. Nichts zum Beschönigen, nichts zum Anpacken und Loslegen, kein Weg zum Wiedergutmachen. Ich bekomme keinen Zugang durch ein unverzagtes drauf zu gehen, sondern wenn dann durch Erzählungen und Erinnerungen Anderer. Durch Zuhören, Innehalten und Denken. Erinnern und Mitfühlen.

Und dann muss ich wieder meine Ohnmacht feststellen. Muss feststellen, dass so etwas passieren konnte, in einem vom Christentum geprägtem Land! Muss verstehen, dass wir versagt haben!

(11) Wer seinen Bruder oder seine Schwester hasst, lebt in der Finsternis. Er irrt in der Finsternis umher und weiß nicht, wohin er geht.

III – „Die Jahre vergehen“

Und Max sang: „Millionen tot. Die Jahre vergehen, wir werden es nie verstehen.“ – Die Jahre vergehen

Und ich hab eigentlich die Sehnsucht, dass dieses ganze Grauen einfach nur eine kurze brutale Episode in einer sehr sehr langen Geschichte gewesen wäre. Aber nein, Antiziganismus gab es schon lange vor dem Holocaust und er blieb auch danach – es gibt ihn bis heute. Auch jetzt immer noch in grausamen und erschreckendem Maß. Die Finsternis ist nicht vergangen. Es gibt weiter Menschen die in der Finsternis umher irren. Es sind die, die für sich in Anspruch nehmen sie seien im Licht, aber ihre Nächsten hassen!

(9) Wer behauptet: „Ich lebe im Licht!“, aber seinen Bruder oder seine Schwester hasst, lebt noch in der Finsternis.

(8) Aber Das Licht der Wahrheit leuchtet schon, es wurde verwirklicht im Leben von Jesus und in eurem Leben.

Das Licht. Es ist dort wo hingesehen wird, wo der Toten gedacht wird und die Täter:innen nicht beschwiegen werden. Dort wo Wahrheit, ausgesprochen wird. Dort, wo Unrecht benannt wird. Dort, wo Menschen sich Hass entgegenstellen.

(7) Ihr Lieben, ich schreibe euch kein neues Gebot. Es ist das alte, das ihr von Anfang an gekannt habt. Dieses Gebot ist die Botschaft, die ihr bereits gehört habt.

(8) Und trotzdem ist es zugleich ein neues Gebot, das ich euch schreibe.

Es leuchtet dort, wo Umkehr versucht wird. Dort, wo die alten Gebote immer neu befolgt werden, wo geliebt wird.
Wo Überlebende ihre Geschichte erzählen. Wo Angehörigen mahnen. Wo Rituale uns einen Zugang ermöglichen. Wo Geschichten weitererzählt werden. Wo Neues entsteht. Da wird Licht. Hier ist sie, die Hoffnungsperspektive. Hier kann ich aktiv werden, mich aus meiner Ohnmacht befreien. Hier gibt es was zu tun, hier liegt Arbeit vor uns, hier können wir anpacken. Hier kann ich zusagen, dass unsere gemeinsamen Gespräche nicht abreißen werden. Das wir in Dialog bleiben und uns für Lösungen einsetzen. Das wir die alten Gebote immer neu befolgen und uns dafür stark machen, dass sich alle Menschen ins Licht stellen können, ohne mit Diskriminierung und Stigmatisierung konfrontiert zu werden.

Schluss

Die Stelle des Johannesbriefs schreibt es uns allen – für alle Zeit – ins Stammbuch: Wir müssen stets die Liebe obwalten lassen, stets die Liebe siegen lassen und niemals und schon garnicht Blindsein für das Leid unserer Geschwister.
Das Lied aus der Schulzeit endete: Darum erinnern wir daran: Nie mehr solln Millionen sterben, nie mehr Tod und Verderben, nie vergessen was mal war, und was damals geschah.
Und der Friede Gottes, der höher ist alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Die Predig zum Nachhören

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