Religion zwischen Freiheit und Unterdrückung

Glauben der Deutschen im zaristischen Russland und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion

Die Geschichte der Russlanddeutschen war sehr wechselhaft: Zeiten der Religionsfreiheit wechselten ab mit brutaler Verfolgung und Unterdrückung. Welche Rolle spielten Religion und Glaube für die Deutschen nach ihrer Umsiedlung in das heutige Gebiet Russlands? Wie hat sich das Verhältnis dazu über die Jahrhunderte hinweg verändert? Und welchen Einfluss hatten politische Entscheidungen darauf?

Schriftzug auf einem Bethaus von Russlanddeutschen
Schriftzug auf einem russlanddeutschen Bethaus

Religionsfreiheit im zaristischen Russland unter Katharina II.

Eines der zahlreichen Privilegien, die Katharina II. den deutschen Zuwanderern Mitte des 18. Jahrhunderts zugesichert hatte, war die Religionsfreiheit.

In den ersten Dörfern, die an der Wolga gegründet wurden, gab es zunächst keine Pastoren. Die Familien hielten Hausgottesdienst, dabei wurde aus mitgebrachten Predigtbüchern die Lesepredigt vorgetragen und aus den mitgebrachten Gesangbüchern gesungen. Es wurde frei oder aus den Gebetbüchern gebetet.

Nach und nach baute man in den Dörfern sowohl eine Kirchschule als auch eine Kirche. Pastoren wurden berufen, die entweder aus der alten Heimat kamen und vielfach in den Schulen der Franckeschen Anstalten in Halle (August Hermann Francke), in Herrenhut (Nikolaus Graf von Zinzendorf) oder später auch in Basel am Vorläufer der heutigen St. Chrischona (Christian Friedrich Splitter) ausgebildet worden waren. Oder sie kamen aus Dorpat im Baltikum. Dabei sagte die Frömmigkeit der Predigerpastoren aus der alten Heimat den deutschen Kolonist:innen häufig mehr zu als das strenge Luthertum der Pfarrer aus Dorpat.

Die Dörfer schlossen sich zu großen Kirchspielen mit zum Teil bis zu 30 Predigtstätten zusammen. Kam der Pastor am Sonntag nicht zum Gottesdienst, so trug der Lehrer, der zugleich oft auch Küster und Kantor war, die Lesepredigt vor. Diesen für das geistliche Leben enorm wichtigen Küsterlehrern hat David Kufeld mit seinem Gedicht „Das Lied vom Küster Deis“ ein literarisches Denkmal gesetzt.

Predigtbuch des Wolgadeutschen Pastors Carl Blum
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts beliebt: Predigtbuch des wolgadeutschen Pastors Carl Blum

Widerruf der Privilegien im zaristischen Russland

Unter Zar Nikolaus I. wurden die Privilegien zur freien Ausübung der Religion widerrufen. Er erließ 1832 ein Dekret, mit dem die „Evangelisch-lutherische Kirche in Russland“ als Kirche minderen Rechts gegründet wurde mit zwei Bischofsbezirken (St. Petersburg und Moskau). 1897 gehörten 76 % der Deutschen im Zarenreich der evang.-luth. Konfession an, 3,6 % waren Reformierte. Der Pietismus spielte eine bedeutende Rolle. Es wurden auch eigene Liederbücher herausgegeben wie das Wolgagesangbuch oder das Petersburger Gesangbuch. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert waren auch die Predigtbücher des Wolgadeutschen Pastors Carl Blum im Umlauf.

Im Zuge einer Reform der Rechte der deutschen Kolonien im Jahr 1871, die diese mit der russischen Bevölkerung gleichstellen sollte, wurden weitere der einhundert Jahre zuvor zugesagten Privilegien zur Religionsfreiheit zurückgenommen und auch das kirchliche Leben erschwert. Das traf vor allem die Mennoniten und Baptisten. Einige deutsche Siedlergruppen – zum Beispiel eine große Zahl von Mennoniten – hatten vor allem aus religiösen Gründen ihr Land verlassen, um in Russland ihren Glauben ungehindert leben zu können. Insbesondere konsequenter Gewaltverzicht und die Verweigerung von Kriegsdiensten war ihnen wichtig. Diese Gruppen zogen weiter nach Osten bis nach Sibirien oder auch nach Übersee.

Gleichzeitig blieben die evangelisch-lutherischen Kirchen vom Verlust ihrer Privilegien weitgehend verschont. Sie konnten sogar ein eigenes Predigerseminar in Nowosaratowka (Nähe St. Petersburg) gründen, in dem fortan die Pfarrer ausgebildet wurden.

Russlanddeutsche Christ:innen treffen sich heimlich in der Sowjetunion
Heimliche Treffen: Nach dem ersten Weltkrieg wurde das gemeindliche Leben der Russlanddeutschen in der Sowjetunion verboten

Einschränkung der Religionsfreiheit

Der Erste Weltkrieg und die Oktoberrevolution markierten dann eine tiefgreifende Veränderung im christlichen Leben der Deutschstämmigen in Russland. Der öffentliche Gebrauch der deutschen Sprache wurde untersagt. In weiten Teilen Russlands wurden auch Predigten, Amtshandlungen und Grabreden verboten, so dass nur noch liturgische Gottesdienste erlaubt waren. Das gemeindliche Leben wurde zunehmend kontrolliert und eingeschränkt. Die Weitergabe des Glaubens an die nächste Generation wurde verboten, so dass religiöse Erziehung nur noch im Geheimen in der Familie stattfinden konnte. Die Gemeinden waren dadurch zunehmend auf sich gestellt, da natürlich zuerst die Leiter der Gemeinden eingeschüchtert oder gar inhaftiert wurden. Es kehrten auch einige Geistliche ihren Gemeinden den Rücken und verließen Russland, so dass auch in solchen Gemeinden Ehrenamtliche die Leitung übernehmen mussten, in denen bis dahin das Bewusstsein des allgemeinen Priestertums noch kaum ausgeprägt war. Es wurde eine schlichte, innige Frömmigkeit gepflegt. Es wurde miteinander gesungen und gebetet. Die Fähigsten legten die Bibel aus oder trugen die Lesepredigt vor. Liturgische Vollzüge und theologische Gelehrsamkeit spielten dabei immer weniger eine Rolle.

In den 1920er Jahren trat – wenigstens an der Wolga – eine kurze Zeit der Entspannung ein. So wurde 1924 der Arbeiterkommune an der Wolga der Status einer selbstständigen Republik zuerkannt, bis unter Stalin der Abbau der deutschen Eigenständigkeit aller deutschen Kolonien begann. Für die Entwicklung der Frömmigkeit der Russlanddeutschen ist eine Erweckungsbewegung an der Wolga wichtig, die in der Mitte der 1920er Jahre zu großen Zusammenkünften von Gläubigen bei Brüderkonferenzen und Evangelisationen führte.

Schriftzug auf einer Hauswand in der Sowjetunion
Religion galt als „Opium fürs Volk“: Kyrillische Schrift auf einer Hauswand in der Sowjetunion

Stalins Säuberungen und die Zerschlagung kirchlicher Strukturen

Ab 1935 kam das Leben in den deutschen Siedlungen durch Stalins Maßnahmen völlig zum Erliegen: Küster, Lehrer, Pfarrer und andere Funktionsträger fielen den stalinistischen Säuberungen zum Opfer. Die soziale und kulturelle Infrastruktur wurde zerstört. Vereine, Schulen, Verlage, Kirchengemeinden wurden aufgelöst und alle kirchlichen Strukturen – auch die Evangelisch-lutherische Kirche in Russland mit den Bischofsbezirken, der Generalsynode und dem Predigerseminar – zerschlagen. Außerdem schüchterten die Nachrichten über die unmenschlichen Bedingungen in den Arbeitslagern wie in den Kommandanturen die Menschen so sehr ein, dass sie es nur noch insgeheim und ganz für sich wagten, ihren Glauben zu leben. Es gab fast kein schriftliches Material mehr und nur noch ganz wenige Gemeinden, so dass viele kirchliche Traditionen nicht mehr gepflegt werden konnten. Man gab sich häufig erst nach sorgfältiger Prüfung als Christ*in zu erkennen.
Trotz Vertreibung, Verfolgung, Arbeitslager und durch viel Leid und Not hindurch hat ein Teil der Russlanddeutschen an ihrem Glauben festgehalten. Als man ihnen alles nahm und sie auch ihre Bibel, ihr Gesangbuch und das Predigtbuch nicht mehr behalten durften, hielten sie sich an dem fest, was sie auswendig wussten. Manche hatten heimlich Lieder, Gebete und Predigten in einfache Schulhefte per Hand abgeschrieben. Diesen Schatz verwahrte man sorgsam und manchmal auch unter Lebensgefahr.

Russlanddeutsche Gemeinde in einem Bethaus

Schwaches Aufflammen des christlichen Lebens nach Stalins Tod

Durch der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets über die Deportation der Deutschen aus der Wolgarepublik 1941 wurden in den nächsten Jahren sämtliche Deutsche, die sich nicht im deutsch besetzten Gebiet befanden, systematisch vertrieben und deportiert. In den Jahren 1941 bis 1956 kamen rund 300.000 Russlanddeutsche ums Leben. Erst Stalins Tod 1953 und Adenauers Besuch in Moskau 1955 leiteten Veränderungen in den Lebensbedingungen für die Deutschstämmigen ein. Doch auch mit der Beendigung der Kommandantur wurde das Verbot aufrechterhalten, sich in den ehemaligen deutschen Kolonien oder auch in anderen Teilen der westlichen Sowjetunion anzusiedeln. Dies führte zur Gründung neuer Siedlungen in Kasachstan, Westsibirien und in anderen mittelasiatischen Gebieten, die auch wieder christliche Gemeinschaften ins Leben riefen (Mennoniten, Baptisten, Brüdergemeinden oder solche, die Gottesdienste nach liturgischer Ordnung feierten). Unter sehr eingeschränkten Bedingungen entfaltete sie ihr kirchliches Leben. Registrierte Gemeinden durften zwar Bethäuser einrichten und sich zum Gottesdienst versammeln, aber kirchlicher Unterricht und jegliche Form der Einflussnahme auf Kinder und Jugendliche war weiterhin verboten, so dass religiöse Erziehung in den Gemeinden auch jetzt offiziell unmöglich war und ganz der Familie überlassen blieb. Viele Deutsche aus Russland haben daher nie Kontakt zu einer christlichen Gemeinde gehabt.

Russlanddeutsche feiern im Wald Gottesdienst
Russlanddeutsche feiern einen Waldgottesdienst

Ausreise nach Deutschland

Bei der Ausreise nach Deutschland kam es immer wieder dazu, dass sich ganze Bethausgemeinden und Hauskreise in Deutschland wiederum als Gruppe ansiedelten. So beispielsweise die Gemeinde Almaty, die nach Paderborn, Gifhorn und Wolfsburg zog, oder die Gemeinde Karaganda, die sich in Bünde und Lahr/Schwarzwald ansiedelte. In diesen Gemeinden blieben die Ämterstrukturen, die Grundstrukturen der Gottesdienste, die Bibelstunde und Jugendstunden erhalten. Manche kleineren Gemeinden schlossen sich aber auch bewusst einer landeskirchlichen Gemeinde an, andere wiederum nutzten als geschlossene Gemeinschaft landeskirchliche Räumlichkeiten usw.

In den neunziger Jahren kam es in der GUS zu einer Wiederauferstehung der Evang.-luth. Kirche in Russland (ELKRAS), die inzwischen einen Erzbischof in Moskau hat und Bischöfe im Europäischen Russland und in verschiedenen Ländern außerhalb Russlands (z.B. in Kasachstan, Sibirien und im fernen Osten, aber auch in der Ukraine, in Kirgisien und Tadschikistan). Es arbeitet ein Konsistorium und ein Bischofsrat, eine Generalsynode und Synoden in den Sprengeln. Außerdem wurde das ehemalige Predigerseminar in Nowosaratowka wiederbelebt, das heute die Pastorinnen und Pastoren der ELKRAS ausbildet.

Weiterlesen in: Aussiedlerseelsorge