Sonne, Sand und Seelsorge: Ein Besuch beim Inselpastor von Wangerooge

Wangerooge (epd). Die Koffer sind verladen, alle Passagiere an Bord. Langsam zuckelt die Inselbahn unter rhythmischen Rollgeräuschen durch die Salzwiesen von Wangerooge, vom Hafen geht es Richtung Ortskern. Der Wind füllt die Waggons mit Seeduft aus der Lagune. Mal riecht es modrig, dann wieder frisch, bald süßlich, würzig und natürlich salzig. Wer seinen Urlaub auf der Ostfriesischen Insel verbringen will, muss diesen Weg nehmen: nach der Fährfahrt vom Festland 15 Minuten auf der Schmalspurbahn mitten durch die Vogelkolonien der Salzwiesen voller Gänse, Kiebitze und Austernfischer, deren laute „Biik“-Rufe allgegenwärtig sind.

Die Vögel lassen sich nicht stören von der Bahn, die mehrfach am Tag an ihren Nestern vorbeirollt. Es ist das wichtigste Verkehrsmittel auf der autofreien Insel, an Spitzentagen mit bis zu 1.500 Reisenden in jeder Richtung. Wenn der Zug am Bahnhof hält und die Passagiere aussteigen, löst dieser Moment jedes Mal einen „Südsturm“ aus, wie die Insulaner sagen: Hunderte Reisende, die unter dem Rattern ihrer Rollkoffer - klack-klack-klack-klack - auf den Beton-Pflastersteinen der zentralen Zedeliusstraße in Richtung Unterkünfte und Strand im Norden der Insel ziehen und im Schnitt eine gute Woche bleiben.

„Eine richtige Explosion der Besucherzahlen im Sommer haben wir nicht, das verteilt sich immer mehr über das Jahr“, sagt der evangelische Inselpastor Jan Janssen (62), silbergrauer Bart, Lachfältchen in den Augenwinkeln. „Aber jetzt zur Hochsaison gibt es schon einen Peak.“

Etwas mehr als 1.000 Einwohner hat die Insel, zur evangelischen Kirchengemeinde gehören etwa 400. „Wenn die Urlauberinnen und Urlauber kommen, bedeutet das für uns gerade, dass wöchentlich die Bevölkerung einer Kleinstadt dazukommt und wechselt, etwa 8.000 Menschen“, verdeutlicht der frühere Oldenburger Bischof und ehemalige Seemannspastor. Seit 2021 ist er auf Wangerooge, aufgewachsen ist er 30 Kilometer von der Insel entfernt in Sengwarden bei Wilhelmshaven.

In der Hochsaison sind alle gefordert, Gastronomen, Beherbergungsbetriebe - und auch die Kirchengemeinde mit ihren Angeboten für die Urlaubsseelsorge. Ein Kraftakt, unter anderem wegen des Personalmangels vielerorts und einem Mangel an preiswertem Wohnraum für Angestellte. Klar ist: Die östlichste der bewohnten Ostfriesischen Inseln lebt genauso wie ihre westlichen Nachbarn vom Tourismus, laut Kurdirektion im vergangenen Jahr mit rund 880.000 Übernachtungen und mehr als 115.000 Gästen.

Inselpastor Jan Janssen an der Strandpromenade am Ortskern von Wangerooge (Foto vom 12.07.2025). Der gebuertige Niedersachse wurde 2021 zum Gemeindepastor auf Wangerooge gewaehlt. Wangerooge gehoert als einzige der Ostfriesischen Inseln zum Gebiet der Eva

Thalasso, Naturerlebnisse am Strand, im Watt und in den Dünen, Veranstaltungen mit kulturellem Fokus: „In den Sommerferien wird nochmal eine Schippe draufgelegt“, beschreibt es Pastorin Antje Wachtmann, Tourismus-Referentin der hannoverschen Landeskirche. „Spirituelle Angebote, der Abendsegen, kleine Auszeiten am Tag - das sind für viele Menschen Kraftquellen, die im Urlaub gerne wahrgenommen werden.“ Die Sonntagsgottesdienste auf den Inseln beispielsweise seien oft so gut besucht wie auf dem Festland sonst nur zu Weihnachten.

Ein Klassiker sind die „Gute-Nacht-Geschichten“. Dazu versammeln sich auf Wangerooge in den Sommerwochen werktäglich ab 18 Uhr meist drei Dutzend Kinder, Eltern und Großeltern in der Nikolaikirche - im Wohnzimmer der Insel, wie die Einheimischen sagen. Mit Sitzkissen kuscheln sich die Kinder im Schneidersitz vor den Altar. Diesmal will Kurpastor Carsten Marx die Geschichte vom Bären als Himmelsmaler erzählen. Bevor es richtig losgeht, fragt er, wer denn heute am Strand gewesen sei. Viele Finger gehen nach oben. Er sei einer Krabbe begegnet, erzählt ein Junge. „Und einer Feuerqualle, die kann stechen.“

Die Geschichten seien ein willkommener Tagesabschluss, „mit Ruhe, nicht nur für die Kinder, auch für mich“, schwärmt Insel-Urlauber Björn Knölke, der mit seiner Familie gekommen ist. Und auch Marx hat Spaß. „Ich liebe das, dieser direkte Draht zu den Kindern, Eltern und Großeltern“, sagt der Theologe, der aus dem österreichischen Großpetersdorf südlich von Wien an die Küste gereist ist. Genauso wie Lektorinnen und andere Ehrenamtliche unterstützt er Inselpastor Jan Janssen im Sommer, schon zum zehnten Mal.

Der Deal: ein Mix aus Arbeit und Urlaub. Marx gestaltet Gottesdienste, Vorträge und Aktionen wie die Gute-Nacht-Geschichten und hat dafür im Pfarrhaus direkt neben der Kirche für sich, seine Frau und drei Kinder eine Wohnung frei. Nach Marx folgen weitere Kolleginnen und Kollegen.

Ähnlich läuft es mit dem Projekt „Musik gegen Koje“, das sich Jan Janssen mangels eigener fest angestellter Kirchenmusiker in der Gemeinde ausgedacht hat und das nun schon im dritten Jahr funktioniert. Vom Festland kommen Musikerinnen und Musiker, gestalten kleine Konzertabende, wirken im Gottesdienst mit oder auch bei Taufen, Trauerfeiern und Hochzeiten der Insulaner, die trotz der Mehrarbeit in den Sommerwochen nicht verschoben werden. „Wir genießen ein Publikum, das bunt gemischt von überall her in die Kirche kommt“, sagt Musikerin Karola Schmelz-Höpfner, die mit ihrem Mann Christian für ein paar Tage im Pfarrhaus eingezogen ist.

Gottesdienste und die Musik - das sind auf der Insel absolute Publikumsmagneten. Das Duo Schmelz-Höpfner aus dem oldenburgischen Ganderkesee hat unter anderem Songs von den „Fab Four“ mitgebracht, mit denen sie einen Abend gestalten: 60 Minuten „The Beatles meet the Bible“, Lieder verbunden mit Bibeltexten. „A hard Day's night“ zum Beispiel. Dazu liest Jan Janssen aus den Prediger-Texten: „Genieß das Leben mit der Frau, die du liebst.“

Bei „Yesterday“ singen fast alle in der voll besetzten Kirche laut mit. Manche schließen dabei die Augen, andere wippen zum Takt mit den Füßen. Dann, zum Ende, „Let it be“. Das Publikum erhebt sich aus den Kirchenbänken, Zugabe-Rufe und anhaltender Applaus. Karola Schmelz-Höpfner freut sich über den Beifall und ermutigt die Gäste: „Klatschen ist wie mit den Händen 'Amen' sagen.“ Schließlich, zum Runterkommen, leise Gitarrenklänge, das „Good Night“ von Paul McCartney und John Lennon: „Now it's time to say good night - Good night, sleep tight.“

Eine Stunde mit den Beatles, das ist fast die Ausnahme. Es sei die zeitlich begrenzte Form, die Miniatur, die bei den Gästen gefragt sei, sagt Jan Janssen. „Die Zeit im Urlaub ist kostbar“, weiß der Inselpastor und gestaltet passende Angebote. Ein Beispiel dafür sind seine Abendandachten unter dem Titel „Eine Handvoll Augenblicke“, 60 Einladungen bis Anfang September, jeweils für 15 Minuten.

Die Entdeckungsreisen durch die Nikolaikirche und die Gute-Nacht-Geschichten sind nach gut 30 Minuten zu Ende. Auch der Gottesdienst am Sonntag hat zeitlich ein klares Format. Selbst wenn er wie dieses Mal vom Ehepaar Schmelz-Höpfner mit Beatles-Songs bereichert wird.

Das sei großartig gewesen, schwärmt beim Tee nach dem Gottesdienst im Gemeindezentrum Alexia Dubourg, die gerade als Praktikantin im Nationalparkhaus arbeitet. „Die Leute hatten alle ein Lächeln im Gesicht“, meint die 25-jährige Studentin. Vielleicht hat das auch etwas mit dem letzten Lied zu tun, einem echten Ohrwurm: „Here comes the sun.“ Bei der Heimreise im Waggon der Inselbahn auf dem Weg durch die Salzwiesen Richtung Hafen klingen Melodie und Text noch lange nach: „Here comes the sun, and I say it's all right.“