Predigt zum Sonntag Reminiszere 2023 im Berliner Dom, 5. März 2023

Prälatin Anne Gidion, Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union

Berliner Dom

Berliner Dom

Markus 12,1-12 (Luther 2017)

1 Und er fing an, zu ihnen in Gleichnissen zu reden: Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes. 2 Und er sandte, als die Zeit kam, einen Knecht zu den Weingärtnern, damit er von den Weingärtnern seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs nähme. 3 Da nahmen sie ihn, schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen fort. 4 Abermals sandte er zu ihnen einen andern Knecht; dem schlugen sie auf den Kopf und schmähten ihn. 5 Und er sandte einen andern, den töteten sie; und viele andere: die einen schlugen sie, die andern töteten sie. 6 Da hatte er noch einen, den geliebten Sohn; den sandte er als Letzten zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. 7 Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! 8 Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. 9 Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben. 10 Habt ihr denn nicht dieses Schriftwort gelesen: »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. 11 Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen[1]«? 12 Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er auf sie hin dies Gleichnis gesagt hatte. Und sie ließen ihn und gingen davon.

Gott, öffne unser Herz für Dein Wort. schenk uns ein Wort für unser Herz. Amen.

I.

Liebe Gemeinde,
wenn Menschen einander gut sind, ist Erinnern wie Atmen.

„Kraniche“, sagt der eine, und die andere seufzt und gemeinsam denken sie an den Abend am Meer auf Usedom.
„Kreta“, sagt sie beim Umsonst-Ouzo beim Apollo Grill - und die Hauptverkehrsstraße im Regen verschwimmt auch für die Freundin. Vor den inneren Augen ist der Strand vor Heraklion.

Wenn das gemeinsame Leben verkümmert, wird auch das gemeinsame Erinnern mühsam. 
„Dein fünfzigster war der schlimmste Tag in meinem Leben. Nichts vorbereitet und keine Ahnung, wer kommt,“ sagt sie.
Er hört sie gar nicht und denkt an den lustigen Abend im Hinterhof mit den vielen Freunden und Nachbarn und dem unerwartet guten Roten aus dem REWE-Angebot.


Erinnere Dich.
Erinnere Dich.
Reminiszere.
Ein herausfordernder Sonntag.
Mit ungewissem Ergebnis.

II.

In der Evangelischen Kirche in Deutschland ist dieser Sonntag ein bewusster und besonderer Gedenksonntag – jedes Jahr denken wir an eine andere Weltregion. Denken an Menschen, die verfolgt werden, weil sie an Christus glauben und dazu stehen.
Heute: Äthiopien. Weit weg einerseits – aber auch in Berlin leben äthiopische Christinnen und Christen. Einige von ihnen feiern deshalb heute mit Bischof Stäblein Gottesdienst.
Äthiopien – weit weg für uns heute, aber eine tief verwurzelte biblische Tradition.

Der Sohn von Königin Saba und König Salomo begründet einen äthiopischen Zweig der Königsfamilie. Der äthiopische Kämmerer bringt den Glauben an Christus laut Apostelgeschichte dorthin.
Wer nach Äthiopien reist, findet Klöster, Kirchenschulen, wertvolle Handschriften aus frühchristlicher Zeit, Ikonen – die unser weißes Bild der biblischen Figuren weiten. 19 Prozent der Menschen dort, sagt man, gehören zum evangelischen Glauben.

Reminiszere, erinnern wir uns: Das Christentum ist nicht in Europa entstanden.

Zur gleichen Zeit: Äthiopien, Ort verbrecherischer Kolonialgeschichte, dauernder humanitärer Katastrophen, brutaler Bürgerkriege und Kämpfe auch von Christen gegen Christen. Millionen von Menschen fliehen im eigenen Land. Kirchen und Klöster werden zerstört - Verbrechen gegen Menschlichkeit und Kultur.
Um die 80 verschiedenen ethnischen Gruppen sind dort teils im Kampf gegen den Zentralstaat, teils gegeneinander. Und außerdem sind über 18 Millionen Menschen vom Hunger bedroht – die Dürre wird schlimmer, der Weizen aus der Ukraine fehlt.

Erinnere Dich, Gott, bitte erinnere Dich. An Tigray und Tiya, an Aksum und Lalibela.
Und wir – erinnern uns bitte auch. So konkret und hilfreich wie möglich.

Reminiszere, erinnern wir uns: Geschwister in Äthiopien brauchen unsere Hilfe.

III.

Und dann kommt für diesen Sonntag noch die biblische Geschichte vom Weinberg dazu. Ein Weinberg mit Zaun und Kelterei und Pächtern, die sich kümmern sollen. Ein Knecht, der einen Anteil an der Ernte holen soll. Ein Mord, und noch ein Mord und noch einer. Berechnende brutale Weingärtner. Eskalation und kein Ende.  

Passionszeit ist Erinnerungszeit. In dem Gleichnis über die Arbeiter im Weinberg schwingt Radikalität mit. Auseinandersetzung der frühen Zeiten nach dem Tod von Jesus. Die Frage: Was ist richtig? Wie geht Nachfolge? Wie umgehen mit dem, was uns anvertraut ist? Welche Boten überhören wir lieber?

Die Markus-Erzählung ist brutal. Gewalt trifft auf Gegengewalt. Die Jesus-Figur schimmert unverhohlen durch – der Weinbergbesitzer ist Gott, sein Erbe ist Jesus, die ihn töten, sind die Juden – so kann es Markus erzählt haben wollen. Und die Wirkungsgeschichte in Erinnerung an diese Erzählung ist schrecklich, daran muss dieser Sonntag erinnern: Immer wieder sind unter Berufung auf genau diesen Text Menschen jüdischen Glaubens von Christen grausam zu Tode gebracht worden – auch mit dem trügerischen! Gefühl, Gottes Willen zu tun.

Heute ist dabei wichtig, nicht den Klischees zu verfallen. Hier schwingt viel Zeitgeschichte mit: das junge wachsende Christentum, die Polemik gegen die jüdische Welt. Der Versuch der Stärkung durch Abgrenzung. Die Weitererzählung durch die Jahrhunderte hat die Geschichte vergiftet. Hat aus dem Weinberglied von Jesaja ein Hasslied bis heute gemacht. Das braucht einen neuen Klang.

Ich glaube, es ist anders. Die Geschichte liefert ihre Durchbrechung schon mit. Die Spirale der Gewalt hört auf. Gott bringt die Pächter ja nicht um. 

Vielmehr muss sich die Christengemeinde seit damals fragen lassen: Welche Boten haben wir überhört, die uns danach fragen, wo Gottes Teil der Ernte bleibt? Welche Propheten haben wir grausam zu Tode gebracht über die Jahrhunderte? Welche überhören wir heute noch allzu gern?

Im Text selbst steckt die Gegengeschichte, die Durchbrechung der Spirale. Der Psalmvers: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Vor dem Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen.

Reminiszere, erinnern wir uns: Wenn der Bote kommt, Gottes Teil an den Früchten seines Weinbergs zu fordern, was haben wir dann heute in den Korb zu legen?

IV.

Der Mensch ist wohl das einzige Wesen, das Gutes von Bösem unterscheiden kann. Deshalb ist der Mensch zu Verantwortung fähig. Er/sie kann auch anders. Das ist Fluch und Größe zugleich.

Brutalität ist real – im Krieg in der Ukraine gilt es Täter zu nennen und Gewalt einzudämmen, so lange wie nötig. Bei den Zerstörungen und Verfolgungen in Tigray, Äthiopien, braucht es die Hilfe und Intervention durch die internationale Gemeinschaft.

Wie geht Nachfolge – haben damals die Menschen gefragt, die Gemeinden zur Zeit von Markus. Jesus war tot und ohne sein Charisma war es kalt und zugig. Wer schützt uns, haben sie gefragt. Wenn er nicht da ist. Und Markus sagt: Es kann anders sein. Anders werden. Wir können füreinander einstehen. Müssen nicht morden, um Platz zu haben zum Leben. Wir können Verantwortung für die Welt um uns herum übernehmen, einstehen für die Schwachen und gegen Brutalität, gegen eine Benutzung von Religion für den eigenen Vorteil oder Gewalttaten. Wir können die eigenen Privilegien nutzen, um das Leid anderer ins Licht zu rücken. Die Bedrängten sehen und ihnen eine Stimme geben.  

Aber sogar eine solche Haltung kann missbraucht werden. Manches laute Einsetzen für verfolgte Christinnen und Christen hat einen schalen Beigeschmack, weil es andere Religionen verdächtigt und diffamiert. Die Verfolgung anderer zu instrumentalisieren – das vergrößert den Hass.

Geschichten können Streit schlichten. Wenn sie den Streithähnen den Spiegel vorhalten. Wenn man noch nicht beim Zustand „gemeinsam in den Abgrund“ angekommen ist. Wenn es überhaupt noch die Idee gibt, der andere dürfe auch überleben.

Reminiszere, erinnern wir uns, Gott. Gedenke Deiner Barmherzigkeit. Wir brauchen Dich.

V.

Was kann man der Brutalität des Krieges in Äthiopien entgegensetzen? Was kann man der Brutalität jedes Krieges entgegensetzen aus dem Glauben an Gott?

Der Glaube verspricht: Gott ist da und an unserer Seite. Das ist die Zusage: Er ist bei uns wie auch bei den Geschwistern im Glauben.

Leid und Tod sind nicht das Ende. Am Ende schimmert Hoffnung – Gott lässt es nicht bei Leid und Tod. Selbst als sein Sohn ermordet wird.

Die Gewaltgeschichte wird unterbrochen. Es muss nicht immer so weiter gehen. Der verworfene Stein wird zum tragenden Eckstein. Böse Winzer können gute Bauleute werden. Mörder können innehalten.

Menschen sind zum Schrecklichsten fähig und zum Größten.
Denke daran, Mensch. Erinnere Dich.

Markus erzählt eine menschliche Eskalationsgeschichte, die Gott durchbricht. Erinnere Dich, Mensch: Es ist nicht zu Ende mit Gottes Barmherzigkeit. Obwohl Menschen sich grässlich verhalten. Wie die Pächter. Wie Aggressoren. Wie Konfliktparteien, die niemals aufhören, bis nicht alles und alle vernichtet sind.

Gott stellt in Frage – das klingt für mich durch das Weinberglied. Das ragt für mich in die Passion 2023. Nicht als Zustandsbeschreibung. Als Hoffnungssplitter. Es kann anders werden.

Glaube kann dazu beitragen. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz haben wir das auf einem Podium diskutiert mit einem Rabbi, einer UN-Friedensvertreter, einem katholischen Orthodoxieexperten, dem Außenminister des Vatikans und anderen. Die Veranstaltung verdeutlichte: Religion kann Konflikte verstärken, wie es beispielsweise das Moskauer Patriarchat im Krieg Russlands gegen die Ukraine tut. Wenn jedoch Religionen an einem Tisch sitzen und Kompromisse schließen und nicht mit den Konfliktparteien identisch sind, können sie neue Wege aufzeigen. Dies können sie mitunter gerade dann, wenn politisch eine Sackgasse erreicht ist. Wenn Religion umfassend verstanden wird und agiert, also Mehrheiten und Minderheiten mit einbezieht, können ihre Vertreterinnen und Vertreter maßgeblich zur friedlichen Beilegung von Konflikten beitragen.

Was braucht es also: Glauben mit Augenmaß – nicht brutal, nicht exklusiv.
Beten für die Verfolgten – für den Weg des Friedens.

Hilfe gegen Hunger – mit den Partnerinnen und Partnern vor Ort.

Stell uns in Frage, Gott, und erinnere Dich.
Und hilf uns selbst durchatmen und uns zu erinnern:

Passionszeit – Zeit für Passion, für Leidenschaft. Fürs Aufstehen gegen das Leiden.
Für pulsierendes Leben, lebendig und wahr.  

Für eine Erinnerung mit Zukunft.

An eine Liebe, die lebt.
An einen Traum, der trägt.
An ein Leben, das sich lohnt.
An den Gott, der uns liebt.
So sehr, dass er uns nicht aufgibt.
Nie.
Erinnert Euch:
Wir sind erlöst.
Heute und immer.

Amen.

Predigt im Gottesdienst zu Reminizere am Sonntag, 5. März 2023, im Berliner Dom