Sterben in Würde – Beihilfe zum Suizid

Sterben in Würde – Beihilfe zum Suizid

Eine Stellungnahme des Rates der EKD

Auf seiner Sitzung am 12. und 13. Dezember 2014 hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Frage der ethischen und rechtlichen Bewertung der Beihilfe zum Suizid folgenden Beschluss gefasst:

»Die evangelische Kirche bekräftigt ihr Verständnis des menschlichen Lebens als einer Gabe Gottes. Sie tritt ein für ein Verständnis des Lebens, das seine Würde auch angesichts starker Einschränkungen und Leiden nicht verliert. Sie widerspricht der Tendenz, Leben mit Einschränkungen für nicht mehr sinnvoll zu erklären.

Der Rat bekräftigt seine Stellungnahme zum assistierten Suizid von 2008*
und unterstreicht insbesondere:

Die palliativmedizinische Versorgung von schwerkranken und sterbenden Menschen ist zu verbessern. Die ambulante und stationäre Hospizarbeit ist auszubauen.

Die Kirchen stehen vor der Herausforderung, die Seelsorge an Schwerkranken und Sterbenden zu verstärken.

Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient bedarf der Förderung und Stärkung.

Der Rat der EKD spricht sich für ein umfassendes Verbot der organisierten Beihilfe zum Suizid, gleich, ob kommerziell oder nicht-kommerziell, aus.«



*Rat der EKD (Hrsg.), »Wenn Menschen sterben wollen. Eine Orientierungshilfe zum besonderen Problem der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung « (EKD-Text 97, 2008; www.ekd.de/EKD-Texte/ekdtext_97.html). 3 Orientierungshilfe »Wenn Menschen sterben wollen« a. a. O., S. 31 f. (www.ekd.de/EKD-Texte/ekdtext_97.html)
Diesem Beschluss liegen folgende Überzeugungen zugrunde:

Nach christlicher Auffassung ist das Leben eine Gabe Gottes. Deshalb kommt dem menschlichen Leben eine Würde zu, die auch durch körperliche, geistige oder seelische Beeinträchtigungen nicht relativiert wird. Im 1. Korintherbrief heißt es, dass unser Leib »ein Tempel des Heiligen Geistes ist« und dass wir uns nicht selbst gehören (1 Kor 6,19). In der Schöpfungsgeschichte wird eindrücklich ausgesagt, dass die Menschen sich nicht sich selbst verdanken, sondern ihr Leben von Gott empfangen haben. Die Menschen dürfen sich als von Gott angesprochen wissen und sind ihm mit ihrer Existenz verantwortlich (vgl. 1 Mose 3,9 ff.). Dieses Verständnis des menschlichen Lebens als Gabe und Aufgabe soll sowohl unser Verhältnis zu anderen Menschen als auch zu uns selbst prägen. Die Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben lässt uns für eine lebensbejahende und -fördernde Ethik und Gesellschaft eintreten. Der Mensch lebt nach christlichem Verständnis in einer unaufhebbaren Spannung: Er ist einerseits ein Geschöpf Gottes und nicht  err seiner selbst: Wenn Gott den Menschen »ihren Odem nimmt, so vergehen sie und werden wieder Staub« (Ps 104,29). Zugleich hat Gott den Menschen, wie es im Psalm 8 heißt, »mit Ehre gekrönt«, also mit einer besonderen Würde ausgestattet und ihn zur Freiheit berufen (vgl. Gal 5,1). Deshalb halten wir an dem Verbot jeglicher Form organisierter Suizidbeihilfe fest – und respektieren es zugleich, wenn in einzelnen Grenzfällen ein Mensch nach seinem Gewissen für seine Person anders entscheiden zu müssen glaubt. Ein solcher Grenzfall entzieht sich einer rechtlichen Regelung.

Im Einzelnen gibt der Rat zu erwägen:

1. Definition und Ausgangslage

Unter »Beihilfe zum Suizid« wird die Mitwirkung einer Person bei der Selbsttötung einer anderen verstanden. »Diese Mitwirkung kann in der Beschaffung eines tödlichen Medikamentes bestehen oder in der Beschaffung einer Vorrichtung, die dem Suizidwilligen die Selbsttötung ermöglicht, oder in der medizinischen Begleitung und Überwachung eines Suizids. Entscheidend ist in jedem Falle, dass der letzte Schritt durch den Suizidwilligen selbst ausgeführt wird.[1]«

Derzeit ist die Diskussion um den rechtlichen Umgang mit der Beihilfe zum Suizid angesichts eines entsprechenden Gesetzesvorhabens des Bundes neu entbrannt.

In der Bevölkerung, einschließlich der Kirchenmitglieder, scheint es eine große Mehrheit zu geben, die – ohne eine präzise Vorstellung davon zu haben, wie entsprechende Regelungen genau aussehen sollten – einen assistierten Suizid bejaht. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich allerdings ein wesentlich differenzierteres Bild.

2. Klare Abgrenzung der Beihilfe zum Suizid von anderen Entscheidungssituationen am Lebensende

In der angeblich breiten Bejahung des assistierten Suizids in Umfragen werden in unangemessener Weise sehr unterschiedliche Entscheidungssituationen im Blick auf das eigene Lebensende unter den Begriff des assistierten Suizids subsumiert:

Das Recht eines Menschen, in aussichtsloser Situation, etwa wenn eine weitere Behandlung nur den unaufhaltsamen Sterbeprozess verlängert, in Freiheit den Abbruch der Behandlung zu fordern, ist unbestritten. Entsprechendes gilt, wenn Personen, denen die Vorsorgevollmacht übertragen ist, eine solche Entscheidung treffen. Derjenige, der nicht mehr weiterleben möchte, kann unter palliativer Begleitung auf Nahrung und Flüssigkeit verzichten. Mancher, der den assistierten Suizid bejaht, hat in Wahrheit eine dieser Konstellationen vor Augen. Hier ist eine deutliche Unterscheidung vonnöten.

3. Welches sind die Motive für den Wunsch zu sterben, und wie kann diesen Motiven begegnet werden?

Ein starkes Motiv für den Wunsch nach einem assistierten Suizid ist die Angst vor unerträglichen Schmerzen am Lebensende. In den meisten Fällen ist aber eine palliativ-medizinische Linderung der Schmerzen möglich. Nach allgemeiner Einschätzung ist beim Auftreten stärkster Schmerzen sogar eine palliative Sedierung ethisch vertretbar, die als nicht intendierte Nebenwirkung eine Beschleunigung des Sterbeprozesses in Kauf nimmt.

Zu den weiteren Motiven, die – neben der Sorge vor unerträglichen Schmerzen – viele Menschen zu einer Bejahung des assistierten Suizids bewegen, zählen v. a. folgende:

  • die Angst vor Einsamkeit und Isolation,
  • die Sorge, ins Heim zu müssen,
  • die Sorge, anderen Menschen zur Last zu fallen,
  • die Sorge, die eingeschränkte Lebenssituation als nicht menschenwürdig zu erleben bzw. die Einschränkungen nicht in das Selbstbild integrieren zu können.

Die angemessene Antwort auf diese nachvollziehbaren Sorgen können nur menschliche Zuwendung und eine professionelle palliativ- und schmerzlindernde ärztliche Behandlung sein. 

Erfahrungen aus der Hospizarbeit zeigen, dass der Suizidwunsch häufig erlischt, wenn die Situation so verändert werden kann, dass die Gefühle der Isolation und die Befürchtung, anderen zur Last zu fallen, an Bedeutung verlieren. Die evangelische Kirche setzt sich deshalb für einen Ausbau der Hospizarbeit ein und fordert einen verbesserten Zugang zur ambulanten und stationären Hospizarbeit. Im Blick auf die genannten Sorgen sind auch die menschliche Begleitung aus dem persönlichen Umfeld und die seelsorgliche Begleitung aus dem Raum der Kirche wichtig. Eine besondere Herausforderung stellt es dar, einem Menschen seelsorglich dabei zu helfen, Widersprüche zwischen dem eigenen Selbstbild bzw. dem Lebenskonzept und der eingeschränkten Lebenssituation zu akzeptieren und für sich anzunehmen, dass wir nicht Herr unserer selbst und unseres Lebens sind.

4. Wesentliche Probleme der Erlaubnis einer Beihilfe zum Suizid

a) Selbstbestimmung und Verantwortung vor Gott


Von den Befürwortern einer Erlaubnis des assistierten Suizids wird dieser als ein Akt von Selbstbestimmung und Autonomie verstanden und vorausgesetzt. Dabei wird häufig übersehen, dass die weitaus größte Zahl von versuchten und durchgeführten Suiziden faktisch nicht Akte von freier Selbstentscheidung darstellen, sondern aus einem (die freie Selbstbestimmung einschränkenden) Gefühl der Ausweglosigkeit oder gar aus einer Erkrankung mit depressiven Zügen heraus geschehen: Es wird angenommen, dass nur ungefähr fünf Prozent aller Suizidhandlungen wirklich von freiem Willen getragen sind.[2]

Die starke Betonung der Selbstbestimmung in der Debatte zur Sterbebegleitung ist höchst problematisch. Nach christlichem Verständnis ist die menschliche Freiheit keine absolute, von allen Bedingungen losgelöste Freiheit. Sie ist immer eine (ihrem Schöpfer) verdankte Freiheit. Die menschliche Freiheit wird dort missverstanden, wo sie ihre eigene Bedingtheit missachtet. 

Die Überzeugung, dass unser Leben verdanktes Leben ist, findet darin ihren Ausdruck, dass der Mensch die Unverfügbarkeit des Lebensendes respektiert. Der Tod ist nicht nur ein natürliches Ende und Vergehen; er führt uns nach christlicher Auffassung vor das Angesicht Gottes. Er ist zwar ein unausweichlich krisenhaftes, aber zur Reifung eines persönlichen Menschenlebens hinzugehörendes Geschehen. Martin Luther hat das so ausgedrückt: »Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert, und keiner wird für den anderen sterben, sondern jeder in eigener Person für sich mit dem Tod kämpfen. « (Martin Luther, Erste Invokavitpredigt, WA 10, 3,1).

In der Leidensgeschichte Jesu sind uns die Worte überliefert: »nicht mein, sondern dein Wille geschehe « (Lk 22,42). Mit der Vaterunser-Bitte »Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden« (Mt 6,10 a) stimmen die Betenden in diese Bitte Jesu ein. Solch Einstimmen in den Willen Gottes kann nicht »gefordert« werden. Aber gesegnet ist der Mensch, dem es gegeben ist, in Freiheit in Gottes Willen einzustimmen.

Wenn auch der Tod ein Geschehen ist, das jeden Menschen ganz persönlich betrifft und unvertretbar sein lässt, so hat die persönliche Entscheidung zum Suizid doch immer massive Konsequenzen für nahestehende Menschen. Auch die Normen und Wertvorstellungen einer Gesellschaft werden beeinflusst durch das Handeln und die Entscheidung ihrer Glieder. Eine Organisation der Beihilfe zum Suizid in Form von Vereinen oder einer abrechnungsfähigen ärztlichen Regelleistung birgt die große Gefahr einer Sogwirkung und des Aufbaus gesellschaftlichen Drucks in sich, Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen. Dies gilt insbesondere auch vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und der hohen Kosten der medizinischen und pflegerischen Versorgung am Lebensende. Solche Formen würden die Suizidhilfe zu einem »Normalfall « machen. Dieser Druck trifft gerade Menschen, die stark hilfebedürftig sind, in existentiell schwierigen Lebenssituationen und kann damit die Freiheit einer Entscheidung massiv beeinflussen. Die Ausübung von Freiheit geschieht nicht isoliert, die Folgen insbesondere für die Schwachen sind stets mit zu bedenken. 

Wer ein unbedingtes Verständnis von der Autonomie zugrunde legt, begibt sich auf eine schiefe Ebene: Dass Menschen innerhalb ganz enger Grenzen, in aussichtslos erscheinenden Grenzsituationen für sich die Möglichkeit einer Selbsttötung ergreifen möchten, ist zu respektieren. Bei einem weiten Konzept von Autonomie aber verliert jede Begrenzung der Selbsttötung ihre Plausibilität. Dann lassen sich auch aktive Sterbehilfe, die Selbsttötung von völlig Gesunden, aber Lebensmüden, und umgekehrt auch die Tötung von Personen, denen eine autonome Entscheidung nach Ansicht Dritter nicht mehr oder noch nicht möglich ist (etwa Säuglinge, Komapatienten und Schwerstbehinderte), rechtfertigen.

b) Weitere Probleme

Als spezifische Probleme der Beteiligung eines Dritten am Tode eines anderen (auch bei Beihilfe zum Suizid) sind ferner zu nennen:

Durch die Einwilligung zur Beihilfe zum Suizid macht sich ein anderer das »Lebensunwert«-Urteil eines Menschen zu Eigen und teilt dieses Urteil bzw. kommt ihm entgegen.

Zudem ist nie gänzlich auszuschließen, dass die Beihilfe zum Suizid noch andere als allein altruistische Motive verfolgt. Auch Beweisprobleme stellen sich hier: Eine etwaige Fremdbestimmung, wenn auch nur in Form stetigen oder subtilen Überredens, oder gar eine Tötung ohne oder gegen den Willen des Getöteten wird gerade im »Erfolgsfalle« kaum nachweisbar sein.

Der Versuch, ein Verbot der Suizidhilfe mit Ausnahmen für Ärzte (und möglicherweise für nahe Angehörige) rechtlich zu fixieren, birgt die Gefahr, dass die gesellschaftliche Akzeptanz wüchse: Ein Verbot mit Ausnahmen kann im allgemeinen Verständnis leicht als grundsätzliche Erlaubnis mit Voraussetzungen interpretiert werden und so die grundsätzliche Unantastbarkeit menschlichen Lebens in Frage stellen.

Zudem erscheint es kaum möglich, dem Gebot der Rechtssicherheit dergestalt nachzukommen, dass Lücken ausgeschlossen bleiben, gleichzeitig aber die Vielzahl denkbarer Fälle erfasst wird, etwa was Indikationen, Entscheidungsträger, Dokumentationspflichten etc. für eine »erlaubte« Beihilfe zum Suizid betrifft. Gerade dies wäre aber angesichts der fatalen und irreversiblen Folgen von Fehlentscheidungen zu fordern.

5. Konsequenzen für eine kirchliche Position in der Rechtsdebatte

Rechtliche Regelungen haben – gerade weil sie für alle entsprechenden Fälle gelten – eine wichtige Schutzfunktion. Zugleich wissen wir aber, dass es höchst individuelle Grenzsituationen geben kann, die rechtlich nicht bis ins Einzelne normiert werden können.

Es fällt auf, dass die Rechtslage in Europa außerordentlich unterschiedlich ist und vom uneingeschränkten Verbot der Beihilfe zum Suizid (z. B. Österreich) bis zur weitgehenden Erlaubnis (z. B. Belgien, Niederlande) bzw. Tolerierung (durch Schweigen des Gesetzgebers) (z. B. Schweiz) reicht. Das hängt damit zusammen, dass in den zugrunde liegenden Wertvorstellungen große Differenzen bestehen. Auch wenn die Disparität eigene Probleme auslöst und etwa zu einem »medizinischen Tourismus« führen kann, erschwert und verbietet die Verankerung in unterschiedlichen ethischen Überzeugungen und Kulturen eine schnelle Vereinheitlichung. Die Praxis in anderen Ländern und Kulturkreisen kann in derart existentiellen Fragen kaum als ein Argument für die eigene Positionsfindung zählen. Die Möglichkeit, die Beihilfe zum Suizid im Ausland wahrzunehmen, darf die Debatte und Entscheidung hierzulande nicht bestimmen.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen spricht sich der Rat der EKD für ein ausnahmsloses Verbot der organisierten Suizidbeihilfe aus. Auf der anderen Seite muss jedoch in der persönlichen Beziehung zwischen Arzt und Patient ein Gewissensspielraum erhalten bleiben. Zu Einzelfällen sollte das Gesetz deswegen wie bisher schweigen. »Würde man für solche Fälle allgemeine Regeln aufstellen, so hätte dies gravierende Folgen für 21 das ethische Bewusstsein insgesamt, da dadurch der Ausnahmefall zum Regelfall gemacht würde.«[3] Dies hätte Auswirkungen auf die (Rechts-)Kultur und grundlegende Wertentscheidungen im Blick auf die Unantastbarkeit menschlichen Lebens in Deutschland. Die evangelische Kirche tritt aus ihrer christlichen Überzeugung heraus ein für eine Kultur der Lebensbejahung und -förderung, zu deren Protektion im Übrigen auch der Staat durch das Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1; 2 Abs. 2 S. 1, verpflichtet ist.

Folgerungen für die Evangelische Kirche in Deutschland:

Die Evangelische Kirche in Deutschland wird, im Zusammenwirken mit ihren Gliedkirchen und der Diakonie,

  • einen Ausbau der ambulanten und stationären Hospizarbeit in ihren eigenen Einrichtungen und ggf. auch darüber hinaus durch die Bereitstellung von Mitteln und Ressourcen auf den Weg bringen;
  • Fortbildungen für Krankenhausseelsorger, ärztliches und Pflegepersonal in kirchlichen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen initiieren und organisieren;
  • weiterhin an der öffentlichen Debatte teilnehmen und für ein Verbot organisierter Suizidbeihilfe werben, etwa in Anhörungsverfahren oder in der Öffentlichkeitsarbeit.

    10. Februar 2015


Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland gehört mit Synode und Kirchenkonferenz zu den Leitungsorganen der EKD. Das 15köpfige Gremium leitet die Kirche zwischen den Synodaltagungen. Theologen und Nicht-Theologen sind im Rat gleichrangig vertreten.

Fußnoten: 

  1. A. a. O., S. 11.
  2. Kallia Gavela, Ärztlich assistierter Suizid und organisierte Sterbehilfe, Heidelberg 2013, S. 18 f. m. Fn. 78.
  3. Orientierungshilfe »Wenn Menschen sterben wollen« a. a. O., S. 31 f.
    (www.ekd.de/EKD-Texte/ekdtext_97.html)