Was Sie zu Syrien wissen müssen
Antworten auf wichtige Fragen

- Wie kam es zum Sturz von Baschar al-Assad?
- Wer ist Ahmad a-Scharaa?
- Was ist die HTS-Miliz?
- Wie geht es Minderheiten im neuen Syrien?
- Wie geht der Aufbau eines neuen politischen Systems voran?
- Wie steht es um die Sanktionen, die gegen Syrien verhängt wurden?
- Wie ist die Situation der Frauen in Syrien?
Wie kam es zum Sturz von Baschar al-Assad?
Am frühen Morgen des 8. Dezember 2024 verkündet das russische Außenministerium überraschend den Rücktritt des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Dieser hatte sich zuvor aus Damaskus nach Moskau abgesetzt, als Kämpfer der HTS unter Führung von Ahmad al-Scharaa die syrische Hauptstadt eingenommen hatten.
Seit Ende November war es rund um Aleppo zu einer überraschenden Eskalation der Kämpfe gekommen. HTS-Truppen und deren Verbündete rücken rasch vor und stoßen dabei auf kaum nennenswerten Widerstand seitens der syrischen Regierungstruppen. Innerhalb weniger Wochen fallen Aleppo, Hama und Homs – schließlich marschieren die Rebellen auf Damaskus.
In der Hauptstadt breitet sich unter der Bevölkerung Angst und Unsicherheit aus. Viele fragen sich: Welche Zukunft erwartet Syrien unter der Kontrolle der HTS?
Wer ist Ahmad al-Scharaa?
1982 in Riad (Saudi Arabien) geboren und in Damaskus aufgewachsen, schließt sich al- Scharaa 2003 der radikal-islamistischen al-Qaida im Irak an und kämpft dort gegen die US-Truppen. 2006-2011 gerät er in US-Gefangenschaft und schließt sich ab 2011 dem Kampf gegen die Diktatur von Baschar al-Assad an. Er gründet 2012 die al-Nusra-Front und übernimmt 2012 die Regierung der syrischen Stadt Idlib. Er verteidigt die Region erfolgreich gegen die Übernahme durch die Regierungstruppen.
In den folgenden Jahren vollzieht al-Scharaa einen Wandel, er kappt seine Verbindung zu al-Qaida. Er regiert Idlib nach strengen islamistischen Vorstellungen, wird jedoch zunehmend zu einem pragmatischen Machthaber, der für einen bescheidenen Wohlstand sorgt.
Ist Ahmad al-Scharaa ein radikaler Islamist oder hat er einen ernstgemeinten Wandel vollzogen? Das ist die Frage, die in den Tagen nach der Machtübernahme die Menschen in und außerhalb Syriens beschäftigt. Seit der Machtübernahme bemüht sich al-Scharaa um ein verlässliches, moderates Image. Er hat sein Kampfdress gegen Anzug und Krawatte getauscht. Seine Politik ist weltlich geprägt und er bemüht sich, die radikal-islamistischen Milizen, die ihn bei der Eroberung der Macht unterstützt haben, unter Kontrolle zu halten. Immer wieder sind diese in Gewalttaten gegen Minderheiten verwickelt. Dies macht viele Syrer:innen bis heute misstrauisch: Wie ernst ist es al- Scharaa mit seinem Slogan: Syrien ist für alle!
Was ist die HTS-Miliz?
Hai’at Tahrir al-Scham – Organisation zur Befreiung der Levante – wird 2017 als Zusammenschluss verschiedener islamistischer Milizen gegründet, die gemeinsam gegen die syrische Armee unter Baschar al-Assad kämpften. Ursprünglich spielen al-Qaida und die al-Nusra-Front eine wichtige Rolle in der Organisation. Aus diesem Grund wurde HTS international als Terrororganisation eingestuft und die UN hat Sanktionen gegen ihre Mitglieder verhängt. HTS werden schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen.
Um mehr syrische Milizen vereinen zu können, distanzierte sie die HTS von al-Qaida und der al-Nusra-Front. In Idlib übernimmt die HTS die Verwaltung und Regierung. Zusammen mit weiteren Milizen erobert sie 2024 in wenigen Wochen ganz Syrien und besiegt die Regierungsarmee. Anfang 2025 wird die HTS offiziell aufgelöst. Die UN-Sanktionen bleiben jedoch bestehen. Wirtschaftliche Aktivitäten mit namentlich aufgelisteten HTS-Mitgliedern sind danach verboten.
Wie geht es Minderheiten im neuen Syrien?
Syrien ist ein sehr vielfältiges Land mit vielen konfessionellen und ethnischen Gruppen. Die Regierung von Baschar al-Assad verstand es, diese Gruppen gegeneinander auszuspielen und den Hass untereinander zu schüren, um so die eigene Macht zu festigen. Sie gab sich als Beschützerin religiöser Minderheiten. In den Jahren des Krieges seit 2011 erstarkten islamistische Gruppen und bedrohen Minderheiten. So sahen viele Minderheiten – auch Christen – in der Diktatur das geringere Übel.
Entsprechend groß ist die Angst, als Baschar al-Assad ausgerechnet von der HTS gestürzt wird. Von Anfang an verkündet die neue Regierung unter Ahmad al-Scharaa, dass man Minderheiten zu schützen und deren religiöse Freiheit zu respektieren wolle. Es werden mehrere Minister unterschiedlicher Konfessionen in die neue Regierung berufen, um dies zu bekräftigen.
Trotz dieser Verlautbarungen kam es in den vergangenen Monaten zu Übergriffen:
- Massaker in der Provinz Latakia: Mindestens 1000 Zivilisten werden am 8. März 2025 bei einem Massaker in der Küstenprovinz rund um Latakia getötet. Auslöser sind Angriffe von Anhängern des gestürzten Präsidenten Baschar al-Assad auf Posten der Regierungsarmee am 6. März 2025 in Latakia und Tartus. Das Verteidigungs- und Innenministerium schlägt mit Milizen zurück – die Gewalt eskaliert. Zwei Tage später melden die Behörden, die Kontrolle wiedererlangt zu haben. Doch regierungsnahe Milizen töten in den Tagen danach gezielt alawitische Zivilist:innen, unter anderem in Banias. Die Alawiten, eine schiitische Minderheit zu der auch Assad zählt, gelten in Syrien als privilegiert. Viele einflussreiche Posten in Staat, Armee und Gesellschaft wurden unter al-Assad von Alawiten bekleidet, und immer wieder kommt es in der neuen Zeit zu Racheaktionen gegen Alawiten. Am 9. März verspricht Präsident Ahmad al-Sharaa Aufklärung, kündigt einen Untersuchungsausschuss an und ruft einen übergeordneten Ausschuss zur Wahrung des inneren Friedens ins Leben. Das Massaker führt zu einem massiven Aufschrei des Protestes gegen die Regierung unter Ahmad al-Scharaa. Es werden Zweifel laut, ob er in der Lage ist, die radikalen Milizen zu kontrollieren. Auch aus dem Ausland, beispielsweise von der US-Regierung, wird gefordert, dass al-Scharaa ausländische islamistische Kämpfer ausweisen solle.
- Angriffe auf Drusen: Am 29. April 2025 kommt es zu heftigen Kämpfen im Stadtteil Jaramana von Damaskus. Später greift die Gewalt auch auf die Stadt Suweida über. Auslöser soll eine Sprachnachricht gewesen sein, die auf Social Media geteilt wurde. Darin wird der Prophet Mohammad beleidigt. Sie wird drusischen Würdenträgern zugeschrieben. Diese bestreiten dies, möglicherweise handelt es sich dabei um eine mutwillig verbreitete Fälschung. Angriffe von Milizen, die mit den Truppen der Übergangsregierung und der aufgelösten HTS in Verbindung gebracht werden, sind die Folge. Diese richten sich insbesondere gegen Angehörige der drusischen Minderheit. Es gibt mehrere Tote und viele Verletzte. Beendet werden die Unruhen durch ein Abkommen zwischen der Regierung und den Drusen. Das Verhältnis der Drusen (rund 3 Prozent der Bevölkerung) zu den neuen Machthabern ist angespannt: Die Drusen galten als Assad-loyal und werden zudem von Israel unterstützt. Sie betrachten die neue Regierung wegen ihrer islamistischen Ausrichtung mit Misstrauen.
- Attentat in der Mar-Elias-Kirche: Am 22.Juni 2025 eröffnet ein Attentäter in der Kirche Mar Elias in Damaskus das Feuer auf Gläubige am Ende eines Gottesdienstes und zündet dann einen Sprengsatz. Er reißt 25 Personen mit sich in den Tod. Es gibt Dutzende Verletzte. Das Attentat wird der Organisation Islamischer Staat (IS) zugeschrieben. In den folgenden Tagen versammeln sich Angehörige verschiedenster Konfessionen am Tatort und trauern gemeinsam. Auch in anderen syrischen Städten und in Deutschland protestieren Syrer:innen gegen religiösen Hass.
Wie geht der Aufbau einen neuen politischen Systems in Syrien voran?
Am 13. März 2025 wird eine provisorische Verfassung verkündet. Sie ist das Ergebnis einer Konferenz am 2. März, zu der Ahmad al-Scharaa ausgewählte Persönlichkeiten eingeladen hatte. Es sind Personen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen vertreten. Die Verfassung sieht die Einsetzung einer Übergangsregierung und den Aufbau des Landes und eines neuen politischen Systems vor. Wahlen sollen nach einer Übergangszeit von fünf Jahren abgehalten werden.
Am 29. März nimmt die Übergangsregierung unter dem Übergangspräsidenten Ahmad al-Scharaa die Arbeit auf. Im Kabinett sitzen viele enge Vertraute des Präsidenten und mehrere Mitglieder der im Januar aufgelösten HTS, die nach wie vor auf der UN-Liste der Terrororganisationen geführt wird. Es wurden aber auch bekannte Experten und Angehörige von Minderheiten ernannt. Als Sozialministerin wird Hind Kabawat ernannt. Sie ist zugleich die einzige Frau und die einzige Christin im Kabinett. Zum Gesundheitsminister wird Musaab Nazal al-Ali, der zuvor als Neurochirurg in Deutschland praktizierte und den Verein der syrischen Ärzte und Apotheker in Deutschland mit aufbaute. Insgesamt ist die Regierung sehr auf den Präsidenten ausgerichtet, so wurde der Posten des Premierministers gestrichen.
Wie steht es um die Sanktionen, die gegen Syrien verhängt wurden?
Am 14. Mai 2025 gibt US-Präsident Donald Trump überraschend die Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien bekannt. Am Rande des Besuchs in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad kommt es zu einem kurzen Treffen zwischen Trump und dem syrischen Übergangspräsidenten Ahmad al-Scharaa. In vielen syrischen Städten wird die Entscheidung gefeiert. Die US-Sanktionen galten als größtes wirtschaftliches Hemmnis für Syriens Neuanfang. Die Aufhebung der Sanktionen macht den Weg frei, dass Qatar und andere Golfstaaten Syrien Hilfsgelder zur Verfügung stellen. So können erstmals seit Monaten die Gehälter der staatlichen Angestellten ausgezahlt werden.
Die Europäische Union kündigt am 20. Mai ebenfalls die Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien an. Von nun an sind Investitionen und wirtschaftliche Tätigkeit in Syrien erlaubt. Offiziell aufgehoben werden die Sanktionen am 28. Mai 2025. Allerdings gibt es eine gravierende Einschränkung: Die UN-Sanktionen bleiben weiter bestehen und es gilt als unwahrscheinlich, dass es im UN-Sicherheitsrat demnächst die notwendige Einstimmigkeit gibt, sie aufzuheben. So bleiben wirtschaftliche Kontakte zu auf der Terrorliste aufgeführten HTS-Mitgliedern verboten. Dazu gehören mehrere Minister und staatliche Stellen.
Wie ist die Situation der Frauen in Syrien?
Im In- und Ausland schauen viele sehr genau auf die Taten und Worte der neuen Regierung unter Ahmad al-Scharaa: Wie islamistisch ist er? Kann man ihm glauben, dass er sich gewandelt hat? Wie abhängig ist er von den radikalen Kämpfern, die ihn beim Kampf gegen Baschar al-Assad unterstützt haben?
Seine Haltung zu Frauen gilt da als Gradmesser. Beim ersten Besuch der Bundesaußenministerin Annalena Baerbock im Januar 2025 kommt es zum "Handshakegate": Vor laufenden Kameras verweigert al-Scharaa seiner Besucherin den Händedruck.
In seinem Kabinett ist mit Hind Kabawat eine Frau vertreten. Sie ist zugleich die einzige Christin. Im Juni verabschiedete die Regierung von Ahmad al-Scharaa eine Kleiderregelung für die Sommersaison. So ist klar geregelt, an welchen Stränden westliche Badekleidung erlaubt und wo Burkinis getragen werden. Diese Regel kann als erster Schritt zu einer Islamisierung der Kleiderordnung verstanden werden oder als Versuch, das Nebeneinander verschiedener Lebensstile zu organisieren.
Ahmad al-Scharaa ist verheiratet mit der Literaturwissenschaftlerin Latife al-Durubi. Sie haben drei Kinder. Mit Spannung wird betrachtet, welche Rolle die First Lady einnehmen wird. Latife al-Durubi scheint einen Mittelweg zu gehen: Sie grenzt sich von ihrer Vorgängerin, der mondänen Asmaa al-Assad ab, die viele Syrer:innen wegen ihrer Verschwendungssucht in schlechter Erinnerung haben. Zugleich ist Latife al-Durubi oft an der Seite ihres Mannes zu sehen und begleitete ihn auch auf seine ersten Auslandsreisen. Sie spielt also eine deutlich andere Rolle als die Ehefrauen der konservativen Golfherrscher, die zumeist nicht in der Öffentlichkeit zu sehen sind.