Predigt am 2. Sonntag nach Ostern (Misericordias Domini) in der Hauptkirche St. Michaelis zu Hamburg (Johannes 10, 11-16 [27-30])
04. Mai 2003
Predigt über Johannes 10, 11-16 (27-30)
Der gute Hirte
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Christus. Amen
LUT John 10:11 Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe. 12 Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verläßt die Schafe und flieht - und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie -, 13 denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. 14 Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, 15 wie mich mein Vater kennt, und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. 16 Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muß ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.
17 Darum liebt mich mein Vater, weil ich mein Leben lasse, daß ich's wiedernehme. 18 Niemand nimmt es von mir, sondern ich selber lasse es. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wiederzunehmen. Dies Gebot habe ich empfangen von meinem Vater. 19 Da entstand abermals Zwietracht unter den Juden wegen dieser Worte. 20 Viele unter ihnen sprachen: Er hat einen bösen Geist und ist von Sinnen; was hört ihr ihm zu? 21 Andere sprachen: Das sind nicht Worte eines Besessenen; kann denn ein böser Geist die Augen der Blinden auftun? 22 Es war damals das Fest der Tempelweihe in Jerusalem, und es war Winter. 23 Und Jesus ging umher im Tempel in der Halle Salomos. 24 Da umringten ihn die Juden und sprachen zu ihm: Wie lange hältst du uns im Ungewissen? Bist du der Christus, so sage es frei heraus. 25 Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt, und ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich tue in meines Vaters Namen, die zeugen von mir. 26 Aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen.
27 Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; 28 und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. 29 Mein Vater, der mir sie gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen. 30 Ich und der Vater sind eins.
In der Schafherde auf dem elterlichen Hof, ein paar hundert Tiere waren das, gab es ein Mutterschaf, das wurde – da sich das alles damals in Frankreich abspielte – bei dem Namen Mamé gerufen. Mamé – das Kosewort für Großmütterchen. Und wann immer man es bei diesem Namen rief, kam es eilends herbeigelaufen. Verzeihen Sie, aber in meiner Erinnerung verbindet sich dieses Erlebnis mit dem geliebten Vers aus Jesaja 43, 1 (und mit der geliebten Bach-Motette): „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.“ Dabei war ich weder ein Hirte – noch gar ein guter Hirte. Aber ich hatte eben meine Beziehung zu Mamé. Nur: Mamé wäre zu jedem gekommen, der sie so gerufen hätte. Weder für sie noch für mich gab es das Problem, das in unserem Predigttext geklärt werden soll. Und das lautet – als doppelte Frage : Wer ist der richtige Hirte? Und: Wer sind die richtigen Schafe? (Das heißt: Welche der Schafe gehören nun gerade zu diesem richtigen Hirten?)
Dazu müssen wir etwas mehr über die Ökonomie und Soziologie der Schafhaltung erfahren – heute und damals. Irgendwie stellen wir uns das Schäferleben nämlich zu harmlos vor – und denken dann ganz schnell an ein Schäferstündchen oder eine liebliche Szene im Hain, auf der sich ein paar Leute vom fürstlichen Hof (oder eben aus der Großstadt) für ein paar Stunden ein bukolisch-ländliches Picknick leisten – bei hübschem Wetter und mit niedlichen Tieren, also keinesfalls mit leicht verschmutzten Rindviechern oder gar mit einer Horde von Schweinen, die im Erdreich wühlen und sich im Dreck suhlen. Sondern eben mit süßen, reinlichen, woll-weißen, flauschigen Schäfchen.
Nichts da! Die Schäferei ist – und war – stets ein raues Gewerbe. Nichts für Genre-Szenen. Hirten – sie rangierten in der Sozialskala sehr niedrig, zwischen den Arbeitslosen und dem Gesindel. Immer am Rande des Existenzminimums und immer am unteren Rand der Gesellschaft. (Deshalb wurde ja auch der gute Hirte, wurde das Jesuskind, mitten unter ihnen geboren, in einem schäbigen Stall.) Rauhe Gesellen! Da wird es schon einmal (oder des öfteren) vorgekommen sein, dass man ein paar Tiere aus der fremden Herde mitgehen ließ. Und vielleicht hat man auch den Konkurrenten nächtlings niedergeschlagen und ausgeraubt. Die Verdienstspannen waren ja auch knapp genug. Nehmen wir einmal, sie hätte bei drei Prozent gelegen. Wenn dann von hundert Schafen drei fehlten oder drei von hundert Lämmern eingingen – dann hatte der Eigentümer ein Jahr lang vergeblich gearbeitet bzw. arbeiten lassen. Hatte man aber drei Tiere entführt, dann war der Reingewinn verdoppelt. Oder so ungefähr...
Der Hirt, wenn er denn wirklich pflichtbewusst war, musste also schwer aufpassen – auf Räuber, auf Raubtiere. Und auf dumme Schafe, die einfach hinter dem falschen Hirten hinterherliefen. Aber erst recht musste derjenige aufpassen, der diese Hirten angeheuert hatte – für einen Hungerlohn. Mietlinge hießen die dann. Die hatten schon gar kein Interesse daran, sich bei diesem schlecht bezahlten Job allzu sehr um die Herde zu kümmern. Erst recht nicht hätten die es riskiert, sich einem Schafsdieb in den Weg zu stellen – und dabei selber eins übergezogen zu bekommen. Und wenn der Wolf sich eines reißen wollte: Wer wird sich denn mit einem Raubtier anlegen?
Und nun ist da mit einem Mal ein Hirte, der sein Leben lässet für die Schafe! Passt der denn überhaupt in das Gewerbe?
Jedenfalls – kein Stoff und keine Frage für eine Idylle, sondern ein rauhes Feld des Kampfes und der Bewährung.
Deshalb ist es nur folgerichtig, dass zu Beginn des Kirchenkampfes die Bekenntnissynode zu Barmen schon ihre erste These mit Worten aus dem Johannesevangelium einleitet, darunter mit einem Vers, der unmittelbar vor unserem Predigttext steht, und im geistigen Zusammenhang eigentlich dazu gehört:
1. Jesus Christus spricht: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. (Joh. 14, 6)
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und Räuber. Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden. (Joh 10,1.9)
Und dann die These:
Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.
Und nun die Verwerfung:
Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.
Hören wir nun doch die Zeilen aus dem 10. Kapitel des Johannesevangeliums, die unserem Predigttext vorauslaufen und zu seinem Verständnis dazugehören:
LUT John 10:1 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Räuber.
Da haben wir es – das raue, rüde Gewerbe der Schäferei! Nun freilich:
2 Der aber zur Tür hineingeht, der ist der Hirte der Schafe. 3 Dem macht der Türhüter auf, und die Schafe hören seine Stimme; und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie hinaus. 4 Und wenn er alle seine Schafe hinausgelassen hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm nach;
Nun folgt eine, folgt die entscheidende Begründung – und wir denken an unser Schaf Mamé:
denn sie kennen seine Stimme.
Schließlich folgt eine Beschreibung – ja: eine Prognose, von der wir uns fragen müssen: Weshalb ist es so oft so anders gekommen?
5 Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen vor ihm; denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht.
Einem Fremden folgen sie nicht nach… Wie oft ist das Christenvolk einem Fremden gefolgt? Der Kirchenkampf des Jahres 1934 setzte doch erst ein, als eine große Zahl protestantischer Schafe dümmlich blökend dem falschen Führer nachgelaufen war, Reichsbischof inklusive.
Und wie oft laufen wir heute dem falschen Verführer nach – dem Materialismus, dem Sozialismus, dem Egoismus, den Helden der Spaßgesellschaft, den Fremdenfeinden – den Populisten überhaupt? Erkennen wir etwa deren Stimme – und nur unsere eigene Stimme in denen? Und solche fehlgeleitete Nachfolge unterläuft ja nicht nur kirchenfernen, vermeintlich religionslosen Menschen. Auch Christen laufen falschen Hirten nach – mitunter gerade dann, wenn sie sich besonders christlich dünken. Wenn sie zum Beispiel ihre eigene, eigensinnige Politik als Gottes Auftrag an sich selber interpretieren, die Regime auszutauschen und Krieg zu führen. Aber auch dann, wenn sie einfach einen Satz nachsprechen (um nicht zu sagen: gedankenarm nachplappern) wie: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein – als ob die ungesteuerte Fortdauer einer Diktatur etwa nach Gottes Willen wäre. Auch da verwechselt das Schaf seine Stimme mit der des Hirten, möglicherweise.
Und nicht einmal die Bereitschaft, das eigene Leben zu lassen, ist immer und überall ein absolut zuverlässiger Test auf die Frage, ob wir es mit einem richtigen oder falschen Hirten zu tun haben. Denken wir nur an die Selbstmordattentäter. Es kommt dann schon an, ob erstens der Hirte mit seinem Tod wirklich Leiden auf sich nimmt, anstatt zu glauben, er werde auf kürzestem Wege ins Himmelreich ( ein Schock Jungfrauen inklusive) befördert. Und es kommt erst recht darauf an, ob er ganz und gar sein Leben lässt, oder ob ihm sein Tod nur ein besonders tückisches Instrument ist, das Leben anderer zu zerstören.
Und dabei wäre es doch so einfach, zwischen guten und bösen Hirten zu unterscheiden: Hört auf die Worte! Sind sie echt – oder verlogen? Schaut darauf, ob er für die Schafe lebt und stirbt! Oder: Ist ihm das Leben der Schafe letztlich gleichgültig – wie dem Mietling, wenn sie ihm nur brav hinterherlaufen?
Wissen und unterscheiden, das könnten wir wohl – wenn wir nur wollten, was daraus folgt. Nämlich der Verzicht auf die vielen falschen, faulen, bequemen Versprechungen, mit denen uns Führer und Verführer in den falschen Pferch locken wollen. Für uns oder für sich? Das ist die Frage an den Hirten. Und die Frage an uns lautet: Seine Wege – oder unsere Wege?
Wir fügen nur noch einen kurzen Hinweis auf die zweite Frage an, die jene Gemeinde offenbar sehr beschäftigt hat: Welche Schafe gehören nun zu diesem Hirten – welche aber gehören nicht dazu und sind also regelrecht dazu verurteilt, falschen Hirten anzugehören und zu folgen, auch wenn sie sie es vielleicht gerne wollten? Solche Fragen stellte sich offenbar eine judenchristliche Gemeinde (oder: Gruppe), die aus der jüdischen Synagoge hinausgedrängt wurde, weil sie dem guten Hirten folgen wollte, dem Messias – der freilich keiner sein durfte und deshalb ans Kreuz geschlagen wurde.
In einem Abschnitt des 10. Kapitels des Johannesevangeliums, der freilich in unserem Predigttext übersprungen wird, findet sich eine Andeutung dieses Problems, das sich mit der Rede des guten Hirten stellte:
19 Da entstand abermals Zwietracht unter den Juden wegen dieser Worte. 20 Viele unter ihnen sprachen: Er hat einen bösen Geist und ist von Sinnen; was hört ihr ihm zu? 21 Andere sprachen: Das sind nicht Worte eines Besessenen; kann denn ein böser Geist die Augen der Blinden auftun?
Aber das ist unser Problem heute nicht. Wir Christen müssten uns vielmehr fragen, weshalb wir in unserer Kirchen- und Missionsgeschichte so viele Menschen einerseits ausgegrenzt und andererseits mit Gewalt vereinnahmt haben. Und wir müssten reuig bekennen: Die Schafe folgen dem guten Hirten freiwillig – wir haben sie aber mit Gewalt gezwungen, uns zu folgen. Da waren wir Christen selber die falschen Hirten.
Aber immer wieder verschafft sich das Wort des guten Hirten von selber Gehör, ergreift es Menschen, die es unverfälscht weitersagen.
Das war so im Kirchenkampf, das war so in der Reformation, meistens jedenfalls – und leider auch hinterher nicht immer so.
Und eben dies bleibt, angesichts so vieler Irrtümer, unsere einzige Hoffnung: Dass das lautere Worte Jesu und Gottes sich mit seinem hellen Klang immer wieder von selber durchsetzt, dank seiner Reinheit – gegen das Geraune und Geschrei der bösen Hirten, ja: auch gegen das törichte Geblöke mancher Schafe. Wir müssen nur - hinhören.
Nun aber zum Schluss – und aus immer wieder aktuellen Anlass – noch etwas. Wir haben gehört von dem guten Hirten und seinen Schafen. Ist Ihnen dabei etwas aufgefallen? – Nicht die Rede war nämlich die ganze Zeit von Schäferhunden. Unserem guten Hirten gehorchen die Schafe, so sagt er es selber, aufs Wort – auf sein Wort. Er lässt seine Herde nicht umkreisen von Aufpassern, die auf Disziplin und Gehorsam achten. Es gibt auch keine domini canes – keine Dominikaner, keine „Hunde des Herrn“, wie man diesen Orden anfangs wegen seiner drakonischen Disziplin bei der Durchsetzung der Inquisition nannte; womit nun, Ehrenwort, nichts gegen die Mönche der heutigen Zeit gesagt werden soll. Jedenfalls: In unser himmlischen (oder: evangelischen, also: evangeliumsgemäßen) Schäferei gibt es nur den Hirten, aber keine Tiere außer den Schafen. Wie in jeder Herde gibt es natürlich auch Leittiere, hinter denen der Rest der Herde hinterherläuft, wenn die erst einmal vorauslaufen; im Protestantismus mal mehr, mal weniger. Aber diese Leittiere sind eben nichts anderes als (und nicht anders) Schafe – wie Du und ich. Sünder – wie Du und ich. Und gerechtfertigt allein durch die Zuwendung des guten Hirten, also: durch die freie Gnade Gottes. Sammeln kann die Schafe allein das Wort des Herrn:
27 Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir;
Und unüberbietbar beglaubigt wird sein Wort durch das Unterpfand seines Opfertodes:
Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.
Wort und Sakrament - allein in dieser großartigen Sammlungsbewegung werden sie zur Herde, pardon: zur Kirche. Und darin dann wirklich.
Amen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.