Evangelische Verantwortungseliten

Eine Orientierung, EKD-Texte 112, 2011

2. Erkundungen

2.1 Zur Geschichte des Elitebegriffs

Schon in der Antike haben Gesellschaften wie die Griechenlands oder Roms herausragende Personen identifiziert und deren Vorzüge dank Geburt, Charakter oder Leistung beschrieben. Die heutige Vorstellung von Eliten aber entsteht erst im Umbruch zur modernen Gesellschaft. Sie setzt einen Individualismus voraus, der sich seit Humanismus und Reformation vom vorangehenden korporativen Menschenbild absetzt. Zur Elite zählt man nicht schon deshalb, weil man ohne Verdienst Teil einer bestimmten Gruppe, etwa eines Geburtsstands ist; ihr gehört man vielmehr erst kraft individueller Leistung an. Der Begriff der Elite setzt damit ein Leistungsprinzip voraus, das sich seit Aufklärung und Französischer Revolution gegen die geburtsständische und rechtlich hierarchisierte Privilegienordnung wendet. Wo natürliche oder historische Unterschiede keine Rechtfertigung mehr haben, kann sich der Anspruch auf eine herausgehobene Stellung in der Gesellschaft nur noch auf persönliche Leistung stützen.

Moderne Eliten können seitdem nur Eliten in einer prinzipiell egalitären Gesellschaft sein. Dies schließt Differenzierungen ein, die aus Talent und Leistung, aus persönlichem Verdienst und Glück resultieren. Aus diesen Differenzierungen können neue Ungleichheiten entstehen, die sich weit über persönlichen Verdienst hinaus verfestigen. Darin liegt bis heute die Ambivalenz von Gleichheit und Ungleichheit in der modernen Gesellschaft. Diese Ambivalenz versetzt auch die Eliten immer wieder in ein Spannungsverhältnis zwischen Durchlässigkeit und Absonderung, zwischen Leistung und Privilegien. Eliten sind nicht unantastbar. Zur modernen, bürgerlichen Gesellschaft gehört, dass sich ihre Eliten immer wieder der Kritik stellen müssen. Seit dem Beginn der Neuzeit verkörpern Eliten das Prinzip der individuellen Leistung aber oft auch als Protest gegen eine als gottgegeben verstandene statisch-ständische Ordnung der Gesellschaft. Doch hat die Neuzeit, gerade im Protestantismus, wiederum neue religiöse Rechtfertigungen von Elite hervorgebracht, in der Wirkungsgeschichte der lutherischen Berufsidee wie der calvinistischen Prädestinationslehre.

Zu einem Leitbegriff im politisch-sozialen Kampf ist Elite erst im späten 19. Jahrhundert geworden. Mit dem Siegeszug der Industriegesellschaft, mit dem Durchbruch moderner Verkehrs- und Kommunikationsmittel, mit der neuartigen Ballung von Menschen in Großstädten formierte sich eine Massengesellschaft, angesichts derer viele Zeitgenossen den Untergang des Individuums, seiner persönlichen Leistung und Unterscheidbarkeit befürchteten. Mit dem Begriff der Elite sollte die Möglichkeit ausgedrückt werden, Massengesellschaften und Massenorganisationen führen zu können. In der konservativen Kulturkritik ebenso wie in der sozialistischen Arbeiterbewegung wurde die Heranbildung einer Elite oder "Avantgarde" zum zentralen Problem der Führung und Kontrolle, angesichts eines nachbürgerlichen Egalitarismus der Nivellierung, den nur noch eine Elite beherrschen könne. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hielt sich dieser Elitebegriff. Er schwingt manchmal noch heute mit, wenn mit kulturkritischer Stoßrichtung die Steuerungskompetenz einer Elite gegenüber einer demokratischen Masse betont wird, die sich nicht selber Richtung geben könne.

Am Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dieses Verständnis von Eliten übersteigert und entfernte sich damit von dem neuzeitlich-aufklärerischen, auch protestantisch-individualistischen Ursprung des Begriffes. Biologische und medizinische Erkenntnisse schienen es nahezulegen, die Gründe für die Leistungen und Führungsqualitäten von Menschen in körperlichen Merkmalen zu suchen. Diese Merkmale sollten nicht nur individuell, sondern für biologische Kollektive, für "Rassen", gelten. Nicht nur in Deutschland wurden um 1900 Ideen populär, Elitebildung mit wissenschaftlichen, vor allem medizinischen Mitteln zu betreiben und diese damit als biologischen Züchtungsprozess zu verstehen. Im deutschen Nationalsozialismus erhielten diese Ideen aber mehr als anderswo kulturelle Verbreitung, politische Durchschlagskraft und mörderische Energie. Ohne die Kenntnis dieses Zusammenhangs kann man seitdem in Deutschland über Eliten nicht sprechen.

Dadurch ist auf der anderen Seite der Blick dafür verstellt worden, dass die Bildung von Eliten in vielen demokratischen Gesellschaften nicht nur zur Normalität gehört, sondern sogar, wie in den Vereinigten Staaten von Amerika oder in Frankreich, auf den Kern des republikanisch-demokratischen Selbstverständnisses verweist. Gerade weil Herkunft nicht anerkannt wird und hervorragende persönliche Leistungen nicht vererbt werden können, ist die Förderung von Talenten und die Entwicklung von Eliten eine permanente Aufgabe, in der die demokratische Gesellschaft ihre eigenen Bestandsvoraussetzungen sichert. Daher ist es auch kein Zufall, dass in solchen Gesellschaften wie seit einiger Zeit auch in Deutschland der Elitebegriff seinen wichtigsten Anker im Bildungssystem hat. Elite ist in dieser Tradition ohne soziale Offenheit und sozialen Aufstieg nicht denkbar, auch wenn dieses Ideal sehr unterschiedlich und bei weitem nicht immer verwirklicht wird.

Die historische Belastung aus der Geschichte des Nationalsozialismus erklärt zum guten Teil, warum die Debatte über Eliten in Deutschland schwieriger ist als anderswo. Die sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren ganz allgemein eine Phase der radikalen Egalisierung, des anti-elitären Impulses. In Deutschland ist aus historischen Gründen die Skepsis gegenüber Eliten und gegenüber dem Prinzip bürgerlicher Individualität und Leistung besonders scharf formuliert worden und wirkt auch länger nach. Bundesrepublik und DDR waren sich, bei aller grundlegenden Differenz, in ihrem Egalitarismus nicht unähnlich. Dieser hatte in der DDR sein Pendant in neuen Elitebildungsmechanismen in der staatlichen Erziehungs- und Bildungspolitik und im Herrschaftssystem selbst. Deshalb bleibt die Elitenskepsis nach Mauerfall und Wiedervereinigung in Ostdeutschland teilweise stärker spürbar als im Westen.

Seit den neunziger Jahren haben die Eliten im wiedervereinigten Deutschland in den öffentlichen Debatten um Bildung und Demokratie, soziale Ungleichheit und unternehmerische Verantwortung neues Interesse auf sich gezogen. Mehr als in den Jahrzehnten zuvor orientiert sich die deutsche Diskussion über Eliten an den demokratischen Vorbildern europäischer und nordamerikanischer Gesellschaften. Darin steckt ein Element der Normalisierung. Es kommt zu einer im 20. Jahrhundert lange verweigerten demokratischen Transformation des Elite-Begriffs. Darin spiegeln sich auch neue globale Strömungen. Die Globalisierung verschärft die internationale Konkurrenz um die "besten Köpfe", um die Förderung und Attraktion von Talenten. Von einem "war for talents" ist die Rede. Soziale Unterschiede haben sich vergrößert; das Bewusstsein für Unterscheidungen hat zugenommen. Nicht zuletzt sind die beiden Jahrzehnte um die Jahrtausendwende durch einen manchmal widersprüchlichen Trend zu Individualismus und zu Verantwortung gleichermaßen gekennzeichnet. Auf der einen Seite sind das Individuum und seine speziellen Fähigkeiten in den Vordergrund getreten, das Leistungsprinzip hat dominiert. Auf der anderen Seite ist selten mehr von Verantwortung und Engagement die Rede gewesen als in dieser Phase. Persönliche Leistung und individuelle Entfaltung werden an die Gemeinschaft zurückgebunden und müssen sich der Verantwortung für andere stellen, als moralische, als soziale und als politische Herausforderung. Im Schnittfeld dieser Entwicklungen erhält der Elitenbegriff neue Bedeutung; dafür entwickelt das Konzept der Verantwortungseliten ein spezifisch evangelisches Profil.

2.2 Zur Geschichte evangelischer Eliten

Es ist nicht im breiten Bewusstsein verankert, wie viele herausragende Persönlichkeiten der deutschen und damit der europäischen Geschichte evangelisch waren und entscheidend von der spezifischen Kultur des Protestantismus geprägt wurden. Exemplarisch sei nur auf den Bereich der Musik verwiesen mit Komponisten von Buxtehude und Schütz über Bach, Händel und Telemann zu Mendelssohn Bartholdy, Schumann, Brahms und Wagner. Oder auf den Bereich der von der evangelischen Schrift- und Wortkultur geprägten Literatur z.B. der "Kunstperiode" von Klassik und Romantik bis hin zu so unterschiedlichen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts wie Thomas Mann und Bertolt Brecht. Ähnliches gilt für die Größen der deutschen Philosophie von Leibniz über den deutschen Idealismus bis zu Schopenhauer, Nietzsche oder Jaspers. Sicher bedarf es einer genauen Betrachtung und Würdigung des jeweiligen Zusammenhangs von Konfession und Lebenswerk; aber es gibt gute Gründe, sich die prägende Wirkung des Protestantismus zu vergegenwärtigen.

Vergleichbar groß, aber zugleich auf besondere Weise ambivalent ist der Einfluss der protestantischen Prägung auf die Leistungsträger in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Militär. Auch hier haben protestantische Nüchternheit und das Ethos der Pflichterfüllung herausragende Leistungen unterstützt. Aber ebenso hat die Tradition des Gehorsams und der Unterordnung unter die Obrigkeit die Entwicklung kritischen und demokratischen Denkens und Handelns gelähmt, ja zum Versagen ganzer Elitengenerationen vor geschichtlichen Herausforderungen beigetragen. Dass Protestantismus auch moralisch motivierten Widerstand gegen totalitäre Regime und Unrechtsstrukturen bedeuten kann, mussten Evangelische gegen große Widerstände in den eigenen Reihen entdecken und in ihr Selbstverständnis integrieren. Die evangelischen Angehörigen des deutschen Widerstands sind herausragende, aber eben auch seltene Zeugen dieser evangelischen Verantwortungsexzellenz.

Eine herausgehobene Rolle evangelischer Eliten hat sich in Deutschland beispielhaft in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt. Evangelische Kirchentage, Evangelische Akademien und Evangelische Studierendengemeinden, das Evangelische Studienwerk Villigst, die Evangelische Studiengemeinschaft und die Evangelische Akademikerschaft wurden zu Orten, an denen sich nach der Zerstörung aller Werte durch das nationalsozialistische Regime ein neues Verantwortungsbewusstsein bildete. Es war mit der Bereitschaft verbunden, kritisch in die Diskussionen der Zeit einzugreifen. Halb abschätzig, halb bewundernd sprechen manche im Blick auf evangelische Exponenten jener Zeit von einer "protestantischen Mafia". Der Ausdruck ist in jeder Hinsicht irreführend: Weder war diese Gruppierung straff organisiert noch vollzogen sich ihre Aktivitäten im Verborgenen. Nicht den Rechtsstaat zu schwächen, sondern ihn zu stärken war ihr Ziel. Eine zeitgemäße Bildungspolitik, die Stärkung der Demokratie und die Friedensverantwortung der Deutschen gehörten zu ihren herausgehobenen Zielen.

Blickt man auf die Zeit nach 1945, so stehen viele evangelische Persönlichkeiten aus West und Ost sichtbar für die demokratische Orientierung des deutschen Protestantismus ein; groß ist die Zahl der evangelischen Christinnen und Christen, die der Vorbereitung und Durchführung der friedlichen Revolution von 1989 ein spezifisch "evangelisches Gesicht" gegeben haben.

Trotz solcher, mit herausragenden Namen verbundenen Entwicklungen herrscht innerkirchlich zuweilen ein verzerrtes Elitenverständnis vor. Kirchliche Kreise stellen sich dann als Wertelite sehr pauschal einer Machtelite gegenüber. Die Kirche droht so zu einer Art Gegenwelt zu werden, die vom Standpunkt der besseren Moral aus andere Eliten kritisiert, in Wahrheit jedoch gerade keine Verantwortung übernimmt. Eine solche Mentalität ignoriert die Bedingungen kirchlichen Wirkens in der Welt. Und sie übersieht, dass alle Christen stets aufgefordert sind, in Familie und Beruf, in der kirchlichen und bürgerlichen Gemeinde ihrer Verantwortung für den Nächsten gerecht zu werden. Dabei ist zu beachten und zu würdigen, dass evangelischen Christen in vielen gesellschaftlichen Teilbereichen eine wichtige gestaltende Rolle einnehmen.

Die letzte große empirische Elitestudie von 1995 hat ergeben, dass die Evangelischen überproportional zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung, Verbänden, Wissenschaft und Militär besetzen, während Katholiken eher im Bereich der Wirtschaft und der Wirtschaftsverbände überproportional repräsentiert sind. Gewerkschaften, Medien und Kultur müssen als Sektoren gelten, die traditionell den beiden Kirchen mit einer größeren Distanz begegnen. Aber bedenklich stimmt die Feststellung, dass der Anteil an konfessionell gebundenen Personen in der Elite von 1981 bis 1995 um 10 % gesunken ist und innerhalb dieser Gruppe die Zahl der aktiven Kirchgänger abnahm. Der Einfluss und die Prägekraft des Protestantismus im Bereich der Eliten schwanden in diesem Zeitraum; eine Trendumkehr in den Jahren danach ist kaum anzunehmen. Umso mehr kommt es für die evangelische Kirche darauf an, sich den Evangelischen in den Eliten zuzuwenden und ihnen Angebote dafür zu machen, eine evangelische Haltung zu entwickeln, wahrzunehmen und erkennbar zu machen.

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