Evangelische Verantwortungseliten

Eine Orientierung, EKD-Texte 112, 2011

3. Orientierungen

3.1 Biblische Grundlagen

"Ihrem Selbstverständnis und ihrer Theologie nach braucht Kirche keine Elite und hat ihrerseits auch keine Elite, weil sie als solche immer schon Elite ist. Und andererseits darf sie keine >Elite< im üblichen Sinn sein, gerade weil sie eine besondere Elite ist" (G.M. Martin).

Diese Aussage über die Kirche beschreibt die Grundspannung, wie sie auch für eine biblisch-theologisch orientierte Rede von Elite gegeben ist. Denn Egalitäres und Elitäres, Elitebildung und Elitenkritik zeigen sich in der biblischen Überlieferung in einer besonderen Dialektik. Diese Dialektik kann aber gerade als spezifischer christlicher Beitrag zur aktuellen Elitedebatte fruchtbar gemacht werden.

Bei der Aufnahme biblischer Aussagen ist natürlich die Differenz zwischen den agrarisch geprägten, ständischen Gesellschaften der Antike und modernen, industriegesellschaftlichen Demokratien und ihren jeweiligen sozialen Strukturierungen immer mit zu bedenken. Auch stellt es einen enormen Unterschied dar, ob sich alttestamentlich mit dem Volk Israel ein religiös fundiertes Gemeinwesen mit Fragen der Legitimation und Legitimität von Herrschaft beschäftigt, oder ob sich neutestamentlich eine kleine religiöse Minderheitsgemeinschaft mit Fragen von Gleichheit und sozialer Integration befassen.

Doch es lassen sich durchaus Grundlinien der biblischen Tradition aufweisen, die auch für die heutige Beurteilung gesellschaftlicher Elitebildung anschlussfähig sind:

  1. Grundlegende Egalität durch Gottes erwählendes Handeln

    Bereits in den biblischen Schöpfungserzählungen ist eine spezifische Dialektik von elitär und egalitär angelegt: Gott hebt die Menschen hervor in Abgrenzung von den anderen Geschöpfen, indem er sie als sein Ebenbild erschafft (1. Mose 1,27), wenig niedriger als sich selbst (Psalm 8,6), und sie mit einem Herrschafts- und Gestaltungsauftrag in die Verantwortung über alle anderen Geschöpfe einsetzt. Diese Auszeichnung und dieser Auftrag gelten allen Menschen in gleicher Weise und begründen christliches Denken Menschenwürde und Menschenrechte.

    Auch Gottes Erwählung des Volkes Israel aus den Völkern zu seinem eigenen Volk geht einher mit einem egalitären Selbstverständnis Israels; denn in die Verpflichtung zu einem Leben nach Gottes Weisungen sind alle Glieder des Volkes Israel gleichermaßen eingeschlossen, bis hin zu den Sklaven.

    Gleiches gilt für das Selbstverständnis der christlichen Gemeinde. Im Zuspruch und Anspruch der Bergpredigt, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein, wird ein Sendungsbewusstsein der Christen deutlich, das sich in Überbietung der religiösen Gruppen der Umwelt an einer "besseren Gerechtigkeit" messen lassen will. Dabei ist die Heilsbotschaft nicht exklusiv für die Leistungsträger reserviert, sondern sie wird gerade den Armen und sozial Randständigen zugesagt (vgl. die Bergpredigt Matthäus 5-7, bzw. die Feldrede Lukas 6).

    Noch einmal zugespitzt wird dieser Gedanke in der paulinischen Aussage von der Rechtfertigung allein aus Gnade. Die Glaubenden sind unabhängig von ihren Werken gerechtfertigt, unabhängig von gesellschaftlichen, religiösen oder kulturellen Besonderheiten. Insofern die Rechtfertigung nicht an ihnen liegt, sondern an Gott, sind sie erwählt, sind sie "Elite" (Auserwählte – electi – Gottes, Römer 8, 33). Dadurch stehen sie in der egalitären Gemeinschaft der Kinder Gottes in Christus, in der ethnische, soziale und geschlechtliche Unterschiede nicht länger den Ausschlag geben (Galater 3, 26ff.).

    Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Annäherung an einen Elitebegriff über Gottes erwählendes Handeln zugleich die egalisierende Dimension der jüdisch-christlichen Tradition zum Vorschein bringt. Das biblische Denken bezieht sich auf eine durch Gott gegebene Gleichheit der Menschen und führt diese in eine egalitär verfasste (religiöse) Gemeinschaft hinein. Zugleich ist mit der Erwählung immer auch die Erwartung verbunden, für ein Leben in der Gemeinschaft nach Gottes Gebot und Verheißung für den Nächsten einzustehen.

  2. Berufung zur Freiheit als Ausgangspunkt eines evangelischen Elite-Verständnisses

    Der egalitäre Grundzug des biblischen Menschenbildes verbindet sich mit einer starken Betonung persönlicher Freiheit. Zu Recht wird in der jüdischen wie in der christlichen Tradition Abraham als ein Urbild solcher Freiheit betrachtet. Er antwortet auf die Aufforderung Gottes zum Aufbruch aus seinem gewohnten Umfeld und nimmt den Weg in eine unbekannte Zukunft aus Freiheit auf sich. Er entscheidet sich dazu in der Gewissheit, von Gottes Segen getragen zu sein (Gen. 12, 1 ff.). Das Unterwegssein wird zu einem grundlegenden Symbol für ein Leben aus Glauben; der Weg der aus der ägyptischen Sklaverei befreiten Israeliten wird dafür zum grundlegenden Exempel. Die Weisungen Gottes in den zehn Geboten, die ihnen auf diesem Weg anvertraut werden, werden deshalb zu Recht als "Wegweisungen der Freiheit" verstanden.

    Im christlichen Freiheitsverständnis wird, um es modern auszudrücken, die Selbstbestimmung des Menschen deutlich hervorgehoben. Doch diese Selbstbestimmung schließt die Möglichkeit der Selbstverfehlung in der Sünde ein; die Befreiung aus der Unfreiheit von Sünde und Tod ist deshalb das Grundgeschehen des Glaubens. Das Verständnis der Freiheit als Selbstbestimmung verbindet sich darum mit der Einsicht, dass diese Freiheit auf Gottes erneuernde Gnade angewiesen bleibt. Andererseits wird diese Selbstbestimmung nicht einfach als Selbstzweck verstanden, sondern auf das bezogen, was dem Andern zu Gute kommt. Menschen können nur dann in Freiheit zusammenleben, wenn sie die Freiheit des Andern genauso achten wie die eigene Freiheit. Die Einschränkungen, die sie um der Freiheit der Andern willen auf sich nehmen, erweisen sich als Bedingungen der Freiheit.

    "In der Freiheit bestehen" ist ein Grundzug christlichen Selbstverständnisses gerade in seiner evangelischen Gestalt. Ihre grundlegende Formulierung hat diese Vorstellung von christlicher Freiheit beim Apostel Paulus gefunden: "Ihr aber, Brüder, seid zur Freiheit berufen. Allein seht zu, dass ihr durch die Freiheit nicht dem Fleisch Raum gebt; sondern durch die Liebe diene einer dem andern. Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem: ,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst'" (Galater 5, 13 f.). In vergleichbarer Dichte nimmt Martin Luther diesen Freiheitsgedanken in der Doppelthese seiner Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" (1520) auf: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Im christlichen Freiheitsverständnis, gerade in seiner reformatorischen Gestalt, sind Selbstbestimmung und Nächstenliebe aufs engste miteinander verbunden.

    Der Ort, an dem sich der Einzelne in beiden Hinsichten über den Gebrauch seiner Freiheit Rechenschaft ablegt, ist das Gewissen. Die Reformation hat die neuzeitliche Entwicklung des Freiheitsverständnisses besonders dadurch geprägt, dass sie jedem Menschen eine unantastbare Freiheit des Gewissens zuerkannte. An ihr findet die Ausübung politischer Herrschaft ebenso ihre Grenze wie die Wahrnehmung kirchlicher Autorität. Daraus erklärt sich, warum Verantwortung im Licht eines christlichen Freiheitsverständnisses niemals nur funktional verstanden werden kann. Sie schließt vielmehr die Bereitschaft zu eigener Urteilsbildung, zu einem eigenen Weg, gegebenenfalls auch zum Widerstand gegen herrschende Trends, herrschende Verhältnisse oder herrschende Mächte ein.

    Der evangelische Verantwortungsbegriff verdankt dem Gedanken der Gewissensfreiheit seine besondere Prägung. Er ist zugleich dadurch bestimmt, dass im Begriff der "Verantwortung" die letzte Antwort vor Gott als dem einzigen Richter anklingt. Dass der Maßstab dieser letzten Rechenschaft einzig in der Liebe zum Nächsten zu sehen ist, macht kein biblischer Text so anschaulich wie Jesu Rede vom Weltgericht (Matthäus 25, 31 ff.). Im Bild des Gerichts tritt zugleich die Unterscheidung zwischen Gott und dem Menschen unüberbietbar deutlich vor Augen. Darin kann jedem Menschen bewusst werden, dass das eigene Handeln mit Irrtümern und Fehlern behaftet und die eigene Gestaltungsmacht begrenzt ist. Die Unterscheidung zwischen der Allmacht Gottes und der begrenzten Vollmacht jedes Menschen ist für die Humanität menschlicher Verantwortungswahrnahme unentbehrlich.

    Entsprechend werden in der biblischen Überlieferung einzelne Führungspersönlichkeiten und -gruppen kritisch begleitet; die biblische Tradition ringt beständig mit der Frage, welches Maß an Ungleichheit und welche Formen der Herrschaft mit dem Ethos der Gemeinschaft in Einklang zu bringen sind.

    So wird immer wieder positiv von der Herausbildung "charismatischer Herrschaft" (Max Weber) berichtet, die in Krisenzeiten die Rettung und das Wohlergehen des Volkes sichert.

    Zugleich gehört es zur Kritik an den Fehlentwicklungen bei den gesellschaftlichen und religiösen Eliten, dass Gott eine eigene Form der "elitekritischen Elite" beruft, wie sie allein in der biblischen Tradition vorkommt: die Propheten. Zu ihren Aufgaben gehört es, das Volk wie die Eliten öffentlich an Gottes Weisungen zu erinnern und vor Konsequenzen eines verfehlten Tuns für die Zukunft der Gemeinschaft zu warnen. Dabei ist die Kritik an Machtmissbrauch, Besitzgier und verschwenderischem Luxus ebenso ein durchgängiges Motiv wie das Eintreten für den Schutz der Schwachen.

    Im Neuen Testament verschiebt sich die Fragestellung: Die kleinen religiösen Minderheitsgemeinschaften der Jesusbewegung und der ersten Gemeinden setzen sich vorwiegend aus Vertreterinnen und Vertretern der Unterschichten zusammen. Es wird zur besonderen Herausforderung, ob sich Personen der "Eliten" bzw. Oberschichten bereit finden, in die Nachfolge einzutreten und die intellektuelle und soziale Zumutung der Botschaft vom Kreuz anzunehmen.

    Die sich entwickelnde Binnendifferenzierung in den Gemeinden wird von Paulus in seiner Lehre vom Zusammenwirken der Gaben (Charismen) positiv aufgenommen. Dadurch wird die entstehende gemeindliche Elite mit eigenen Ämtern und Leitungsfunktionen, die bereits mit dem Jüngerkreis innerhalb der Nachfolgegemeinschaft beginnt, in den egalitären Gedanken eines Dienstes an der Gemeinschaft eingefügt, an dem alle ohne jede Ausnahme Anteil haben.

    Resümierend kann gesagt werden, dass sich die biblische Tradition positiv zu einer Herausbildung funktionaler Eliten verhält, insoweit ihre Aufgabe und ihr Handeln als förderlich für die Gemeinschaft der Gleichen empfunden werden. Elite ist biblisch gesehen als qualifizierte Elite im Rahmen funktionaler Leitungspositionen und in Verbindung mit einem gemeinschaftlich geteilten Eliteethos vorstellbar. Sie muss sich aber immer auf die gemeinsame Wertegrundlage hin befragen lassen; ihre Legitimität wird bedroht, wenn Machtmissbrauch, Eigennutz und Unfähigkeit zur Geltung kommen.

  3. Konturen des biblischen Elite-Ethos

    Die Konturen des biblischen Elite-Ethos werden nicht nur an den Maßstäben der prophetischen Kritik an versagenden Eliten sichtbar. An einer ganzen Reihe von vorbildlichen Führungsgestalten lässt sich exemplarisch ablesen, wie gelingendes Elitehandeln nach biblischer Vorstellung aussehen kann:

    So steht Abraham für den Wagemut eines Aufbruchs aus vertrauten Strukturen und Gewohnheiten; Josef, der Ernährer, für ein langfristig vorausschauendes Wirtschaften; Mose für einen Freiheitskampf gegen Sklaverei und Unterdrückung; David für gewinnende Kreativität; Salomo für Weisheit und Gerechtigkeit im politischen Handeln; Daniel für ein leistungsbereites und loyales, aber in religiösen Werten verankertes Beamtentum; die Propheten verkörpern Zivilcourage, indem sie mutig die Aufgabe öffentlicher Kritik wahrnehmen.

    Diese herausgehobenen Funktionen werden keineswegs immer begeistert und stolz übernommen, weil oft klar ist, welche Verantwortung und auch persönliche Nachteile bis hin zur Lebensgefahr damit aufgebürdet werden. Im Neuen Testament werden solche Erfahrungen in den Horizont des Kreuzestodes Jesu gestellt. Die Erfahrungen von Ohnmacht und Scheitern haben genauso ihren Platz wie diejenigen des Gelingens und des Erfolgs.

    Denn über allen herausgehobenen Funktionen steht die Aufforderung, sich nicht zu "rühmen" und zwar weder gegenüber Gott noch gegenüber den Menschen. Das noch so gesetzestreue und erfolgreiche Tun ist wertlos, wenn es der Selbsterhöhung und versuchten Selbsterlösung des Menschen dienen soll. Erst aus der entlastenden Erfahrung der Rechtfertigung erhalten Leistungen ihren angemessenen Ort: als Dienst in Liebe für den bedürftigen Nächsten.

    Der Einsatz der eigenen Gaben im Dienst des Nächsten entspringt der Dankbarkeit für diese Gaben, nicht dem Bemühen um Selbsterhöhung.

Demnach kann es keine sich elitär gebärdenden und selbstbezogen rühmende Christinnen und Christen geben. Wohl aber kann und sollte es Christinnen und Christen in den Eliten geben, die ihre Begabung und Leistungsfähigkeit zum Wohle anderer einsetzen; sie konzentrieren sich nicht auf die eigenen Leistungen und den eigenen Ruhm, sondern auf Christus, "von dem und durch den und zu dem hin alle Dinge sind" (Römer 11,26).

3.2 Grundlinien eines evangelischen Eliteverständnisses

Die Reformatoren lehnten geistliche und hierarchische Eliten (Mönchtum, weltabgewandter Klerus) ab und setzten rechtfertigungstheologisch auf das egalitäre Prinzip des Priestertums aller Getauften, wobei sie darunter die gemeinsame Verantwortung aller Getauften für die Weitergabe des Evangeliums verstanden. Deshalb umfasst jede christliche Gemeinde unterschiedliche Dienste, die haupt-, neben- und ehrenamtlich wahrgenommen werden können. Dabei dienen die unterschiedlichen Kompetenzen der einen gemeinsamen Aufgabe: Menschen dabei zu helfen, im Glauben zu leben und getröstet zu sterben. Diese Dienste stehen nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, was besonders deutlich darin zum Ausdruck kommt, dass die Leitung der Kirche niemals allein geistlichen Amtsträgern übertragen wird; sie wird vielmehr in der Gemeinschaft der unterschiedlichen Gaben und Aufgaben wahrgenommen. Die synodale Verfassung der evangelischen Kirche sowie die Regel, dass in Leitungsgremien Menschen ohne berufliche Funktion in der Kirche die Mehrheit bilden sollen, bringen das deutlich zum Ausdruck.

Zugleich kennt auch die Kirche ein Ineinander von grundlegender Egalität und hilfreichen Prozessen der Elitebildung. Die kirchliche Gemeinschaft gründet auf dem Priestertum aller Getauften und hat zugleich unterschiedliche Gruppen von Funktionsträgern ausgebildet. Eine besondere Rolle spielt das ordinierte Amt. Die ordinierten Geistlichen stehen im Dienst der Verkündigung, der Sakramentsverwaltung, der Bildung, der Seelsorge sowie der Kirchenleitung. Das ordinierte Amt im evangelischen Verständnis bildet so kann man zugespitzt formulieren eine paradigmatische Funktionselite. Die Amtsträger haben keinen besonderen geistlichen Weihestatus, der mit unverlierbaren Qualitäten verbunden wäre; wohl aber haben sie besondere Verantwortlichkeiten und setzen ihre spezifischen Gaben und ihre theologische Bildung zum Wohl der Gemeinden ein. Darüber hinaus mussten die Reformatoren sehr schnell erkennen, dass eine Konsolidierung der reformatorischen Bewegung nicht ohne Unterstützung der gesellschaftlichen Funktionseliten erfolgen konnte.

Mit dieser zugleich kritischen und affirmativen Haltung gegenüber den kirchlichen wie den gesellschaftlichen Funktionseliten hat der Protestantismus ein durchaus realistisches Verständnis von Eliten. Es entspricht den zwei Gesichtern der Eliten selbst, die sie zu unterschiedlicher Zeit und in unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen gezeigt haben. Einerseits ist ein kritischer Blick auf Eliten dort geboten, wo mit diesem Status unverdiente Privilegien, die Verfestigung sozialer Ungleichheit, Arroganz bis hin zum Machtmissbrauch verbunden sind. Solche Elitenerscheinungen sind mit biblischen Leitbildern gelingenden sozialen Lebens nicht vereinbar. Dass Menschen unterschiedliche Fähigkeiten und Talente haben, ist andererseits Ausdruck ihrer Geschöpflichkeit. Daraus erwachsen in jeder Gesellschaftsordnung funktionale und damit auch soziale Unterschiede, die sich begrenzen, aber nicht beseitigen lassen.

Deshalb kann sich für einen evangelischen Blick auf das Elitenthema nicht die Frage stellen, ob es in einer Gesellschaft überhaupt Eliten gibt und geben darf. Das wäre eine kurzschlüssige Übertragung eines auch in der Kirche aus guten Gründen nicht realisierten religiösen Gruppenideals der völligen Egalität auf gesellschaftliche Verhältnisse. Im Zentrum eines evangelischen Umgangs mit diesem Thema sollte vielmehr die Frage stehen, welche Art und Gestalt von Elite die Gesellschaft braucht und welchen Beitrag die Kirche dazu leisten kann.

Damit stellt sich die Frage nach dem spezifisch evangelischen Beitrag zur Elitenbildung einer Gesellschaft, für den das Konzept und der Begriff einer "evangelischen Verantwortungselite" geeignet ist.

Von einer evangelischen Verantwortungselite spricht man sinnvollerweise dann, wenn sich Funktionsträger im Rahmen der jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhänge und der mit ihnen verbundenen Anforderungen dem Anspruch stellen, in besonderer Weise "verantwortlich", d.h. in Orientierung an den Grundeinsichten eines christlichen Lebens zu handeln. Zu diesen Grundeinsichten gehört unabdingbar ein Wissen um die Rechtfertigung allein aus Gnade, ein Bewusstsein von der Verantwortung für den Nächsten und ein Handeln angesichts der Grenzen der eigenen Gestaltungsmacht. Orientiert an diesen Grundsätzen bildet sich evangelische Verantwortungselite als Teil der gesellschaftlichen Funktionseliten. Es genügt weder eine gesellschaftliche Zuschreibung von besonderen Leistungen noch der Selbstanspruch, den christlichen Grundsätzen zu entsprechen; es bedarf beider Aspekte, die sich notwendig verschränken, wenn von evangelischer Verantwortungselite die Rede sein soll. Aber in diesem Sinne können Christen in jedem weltlichen Berufsfeld Führungsaufgaben wahrnehmen und darin evangelische Verantwortungselite sein. Evangelische Verantwortungseliten können so beispielhaft sein für die Erfüllung des Auftrags aller Christenmenschen: Zeugnis zu geben von der Zuwendung Gottes zum Menschen, von der heilsamen Botschaft des Evangeliums, von der freimachenden Kraft der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben und von der Bereitschaft, in Verantwortung vor Gott entschlossen und richtungsweisend zu handeln.

Freilich bedarf es einer realistischen Vorstellung von den Möglichkeiten und Grenzen verantwortlichen Handelns in Elitepositionen. Eliten können und sollen nicht agieren, wie es ihnen beliebt. Sie sind an Regeln und kulturelle Erwartungen gebunden. Auch Menschen in herausgehobenen Positionen machen Fehler, gehen in die Irre und enttäuschen berechtigte Erwartungen. Dennoch können Eliten durch verantwortliches Handeln innerhalb vorgegebener Regeln Maßstäbe setzen, sie können die Regeln eines Systems auch aus triftigen Gründen durchbrechen und so ein Zeichen für Zivilcourage setzen; sie können dazu beitragen, Regeln fortzuschreiben. Nur soweit Mitglieder von Eliten in ihrem jeweiligen Beruf wie darüber hinaus Verantwortung in der Spannung zwischen Gestaltungsmacht und Demut übernehmen, werden sie zu Repräsentanten einer evangelischen Verantwortungselite.

3.3 Sozialethische Orientierung: Eliten in einer demokratischen Gesellschaft

Eliten können heute nur demokratisch orientierte Eliten sein. Damit ist mehr gemeint als die Forderung, dass Eliten sich nicht gegen die demokratische politische Ordnung stellen dürfen. Sie müssen Eliten in der Demokratie und für die Demokratie sein. Von Personen, die eine Führungsposition im Gemeinwesen einnehmen, wird zu Recht erwartet, in beruflicher Verantwortung und persönlicher Lebensführung die Demokratie zu stärken. Dabei geht es nicht nur um das politische System im engeren Sinne, sondern um den weiten Bereich einer freien, offenen und pluralen Gesellschaft. Wer in einer solchen Gesellschaft die Chance zur Führung hat, muss dem damit verbundenen Vertrauen durch sein Handeln entsprechen. Demokratische Eliten können sich ihrer besonderen Leistung bewusst sein. Sie dürfen stolz sein auf das, was sie mit ihren Talenten und ihrer Anstrengung erreicht haben. Doch zugleich muss ihnen bewusst bleiben, dass ihnen Führung und Verantwortung nicht von selbst und unwiderruflich zukommen, sondern übertragen und anvertraut sind. Damit ist eine Rechenschaftspflicht verbunden, der sich niemand entziehen kann. In der Zusammengehörigkeit von Freiheit und Verantwortung sind demokratisches und protestantisches Elitenverständnis zutiefst miteinander verbunden. Zur Bildung und Bindung solcher Eliten beizutragen, war ein wesentliches Motiv für eine Reihe von protestantischen Initiativen nach 1945.

Demokratische Eliten legitimieren sich weder allein durch eine bestimmte persönliche Qualität noch durch einen umfassenden Führungsanspruch. Sie übernehmen in modernen Gesellschaften Verantwortung auf Zeit und für bestimmte Aufgaben oder in bestimmten Handlungsfeldern. Sie tragen eine befristete Verantwortung in Politik oder Wirtschaft, in Justiz oder Erziehung, in Wissenschaft oder Medien, in Kirche oder Sport.

Aus dem Bewusstsein für die Begrenztheit der Aufgabe und für eine funktionale Arbeitsteilung darf aber keine Einkapselung der jeweiligen Eliten in ihre Handlungsbereiche folgen. Denn zum einen reicht die anvertraute Verantwortung über die engere Funktion hinaus. Wirtschaftliche Eliten sind keine guten Eliten, wenn sie nur das Wohl des jeweiligen Unternehmens oder der Wirtschaft im Auge haben. Eliten im Sport müssen die Verantwortung des Sports für Gesellschaft und Politik im Blick behalten. Kirchliche Eliten dürfen sich nicht auf die Verwaltung des Religiösen beschränken. Zum anderen müssen sich Eliten verschiedener Funktionsbereiche untereinander kennen. Sie verfehlen ihren Auftrag, wenn sie sich voneinander und von der Gesellschaft im Ganzen abschotten. Sie müssen miteinander über die Voraussetzungen und Folgen ihres Handelns und ihrer gemeinsam getragenen Verantwortung ins Gespräch kommen. In der öffentlichen Debatte sind zu oft nur wirtschaftliche Eliten, Spitzenmanager, allenfalls noch einige Spitzenpolitiker im Blick. Auch Wissenschaftler, Sportler, kulturell Tätige und öffentliche Intellektuelle müssen zu ihrer Elitenverantwortung stehen, damit ein breites und offenes Leitbild der Elite wirksam werden kann.

Das Nachdenken über Eliten ist auf ein realistisches Gesellschaftsbild angewiesen. Utopische Vorstellungen von einer vollständig egalitären Gesellschaft haben in die Irre geführt und neue, demokratisch nicht legitimierte, funktional nicht begrenzte und an Verantwortung nicht zurückgebundene Eliten erzeugt. Utopische Vorstellungen von einer hierarchischen Gesellschaft, die von der Hybris gezüchteter Eliten geführt wird, sind katastrophal gescheitert. Das Nachdenken über Elite muss berücksichtigen, dass Talente und Chancen ungleich verteilt sind, dass Menschen unterschiedliche Ziele verfolgen und dass sie Ungleiches in ihrem Leben erreichen. Offene und demokratische Gesellschaften brauchen Talent und Anstrengung, Leistung und Kreativität, Führung und Verantwortung, um eine gute Zukunft und damit Freiheit und Wohlstand für möglichst viele zu sichern. Es ist kein Widerspruch, Begabung und Leistung anzuerkennen, sie zu fördern und zu prämieren, und zugleich nach dem Abbau ungerechtfertigter Ungleichheit zu streben, nach gleichen Chancen, nach der besonderen Förderung der Schwächeren. Vielmehr setzt Elitebildung soziale Offenheit und sozialen Aufstieg voraus. Die Schwächeren von heute können die Eliten von morgen sein. Die Förderung von Eliten ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie sich an diesem Ziel orientiert.

Eliten bringen das Streben, sich selbst und die Welt zum Besseren zu verändern, auf eine besondere Weise zum Ausdruck. Sich mit sich selbst und mit der Welt nicht zufriedenzugeben, ist eine zugleich moderne und grundlegend evangelische Weltsicht. Selbstverbesserung besitzt eine individuelle und eine gemeinschaftliche Seite. Der Einzelne will etwas für sich erreichen, er strebt nach Höherem, nach Bildung, Wohlstand und Kultur. Das individuelle Streben danach, Führung und Verantwortung zu übernehmen, ist unverzichtbar für Gesellschaften, die nicht stagnieren wollen. Zugleich geht es um ein gemeinschaftliches Projekt. Wer will nicht auch eine fröhliche Familie, bessere Lebensqualität im Stadtteil, sogar eine bessere Welt? Die Arbeit an diesem Projekt ist nur dann erfolgreich, wenn Einzelne vorangehen und Vorbild für andere sind. Dies gilt insbesondere in einer medial durchleuchteten und ausgerichteten Gesellschaft. Eliten sind herausgefordert, diese öffentliche Vorbildrolle zu akzeptieren. Stellvertretend machen sie erkennbar, auf welchen Grundlagen moralischer Orientierung verantwortliches Handeln gestaltet werden kann.

So führt ein zeitgemäßes Verständnis von Eliten als demokratische Eliten, als Funktionseliten, als Eliten in der Ungleichheit, als Eliten der Verbesserung immer wieder auf den Begriff der Verantwortung hin. Eliten übernehmen Verantwortung in Führungspositionen und gewinnen damit eine privilegierte Position auf Zeit. Sie tragen Verantwortung, weil die ihnen überlassene Führung ein Kredit der Gesellschaft ist. In ihrer Aufgabe nicht nur für sich selbst, sondern auch für Dritte und in ihrer Rechenschaftspflicht, ihrer Rückbindung an die Gesellschaft, sind Eliten immer "Eliten für andere". Ein protestantisches Verständnis muss Eliten deshalb stets als Verantwortungseliten begreifen und aktiv fördern.

3.4 Individualethische Orientierung: Berufsethos und Verantwortlichkeit

Wenn der evangelischen Zuwendung zu Eliten ein solcher Begriff von "Evangelischer erantwortungselite" zugrunde liegt, verschränken sich funktionalberufssoziologische Kriterien mit einem spezifisch evangelischen Ethos. Elite-Sein entscheidet sich nicht an kontextlosen Persönlichkeitsmerkmalen und Eigenschaften, sondern an der Art, wie eine gesellschaftlich verankerte Aufgabe vom christlichen Glauben her wahrgenommen wird. Insofern ist evangelische Verantwortungselite nicht eine Alternative zu gesellschaftlicher Elite, sondern bezeichnet einen Ausschnitt daraus und vielleicht auch ein exemplarisches Modell.

Aus der evangelischen Tradition heraus liegt die Frage nahe, ob die protestantische Berufsethik als Ausgangspunkt eines evangelischen Elite-Ethos dienen kann:

Luthers Berufsbegriff entwickelte sich anfangs in der Abgrenzung und Aufwertung des "weltlichen Tuns" gegenüber den höher bewerteten geistlichen Tätigkeiten des "elitären" Mönchsstandes. Jeglicher Beruf und jeder Stand galten Luther als Ort, an dem Menschen von Gott in seinen Dienst genommen werden können, um im liebenden Dienst am Nächsten den "vernünftigen Gottesdienst" in der Welt (Röm 12,1) zu leben. Ausgenommen waren nur in sich selbst "sündige Berufe" wie Räuberei, Wucherhandel oder Prostitution.

Folglich führte der Ruf des Glaubens nicht aus der Welt hinaus in eine religiöse Sonderexistenz, sondern in die Welt hinein. Er forderte dazu heraus, sich am vorfindlichen Ort in christlicher Existenz zu bewähren. Eine berufliche Position an der Spitze der Gesellschaft unterliegt also keinen anderen theologischen Bewertungen oder ethischen Ansprüchen als die von Luther bewusst hervorgehobene Stallmagd, die den Hof kehrt und Mist austrägt. Alle werden gemessen am Glauben und an der Liebe, in denen sie ihre spezifischen Aufgaben erfüllen. Insofern ist jede Stallmagd und auch jeder moderne Berufstätige ein evangelischer Verantwortungsträger, aber nicht alle sind evangelische Verantwortungselite im soziologischen Sinn.

Der lutherischen Berufslehre wurde oft vorgeworfen (z.B. von Max Weber), dass sie in ihrem statischen Ständedenken und dem Verweisen auf den von Gott zugewiesenen Ort einem vormodernen Berufsverständnis verhaftet bleibe und deshalb die Dynamik vielfältiger Berufsbiographien und Karrierewege sowie die Orientierung an Leistung und Erfolg nicht angemessen erfasse. Zum modernen Berufsverständnis gehört, dass der berufliche Ort selbst gewählt wird und dadurch seine Bedeutung für Identitätsbildung und Selbstvergewisserung entwickelt. Das Kriterium der Pflichterfüllung tritt hinter der persönlichen Leistungsbereitschaft und der intrinsischen Motivation zurück. Dementsprechend werden berufliche Misserfolge und ein Verlust des Arbeitsplatzes eher als persönliches Versagen denn als Folge gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Vorgänge gedeutet.

Gegen solche Tendenzen zu moderner "Werkgerechtigkeit" im beruflichen Feld stellt der lutherische Ansatz eine klare Entlastung dar, die dem Geist der paulinischen Rechtfertigungslehre entspricht: An jedem Ort und auch unter widrigen Bedingungen kann persönliches Handeln gut, gerecht und nützlich sein. Dabei ist jeder Mensch immer mehr als die Summe seiner Leistungen; und berufliche Erfolge bewirken nicht die Anerkennung der Person vor Gott. Diese Einsicht schenkt auch ein gelasseneres Verhältnis zu der Aufgabe, sich selbst einen beruflichen Platz in der Gesellschaft zu wählen und zu erarbeiten.

Die Reformatoren haben allerdings Eltern stets dazu angehalten, ihren Kindern eine möglichst gute und begabungsgerechte Ausbildung zukommen zu lassen, und ein Unterlassen als Vergehen am Gemeinwohl getadelt: "Du entziehst dem Reich, Fürstentum, Land, Stadt einen Heiland, Trost, Eckstein, Helfer und Retter" (Martin Luther). Gott ruft dazu auf, die spezifischen Gaben aller Menschen zu entdecken, sie auch mit Leistungswillen zu entfalten und für sie einen geeigneten Ort zu finden, an dem sie zum Wohle aller am nützlichsten eingesetzt werden können. Manche dieser Gaben und Leistungen führen in herausgehobene Verantwortung.

Die im reformatorischen Berufsgedanken enthaltene Sichtweise ist nicht mit einem Selbstverständnis gesellschaftlicher (auch evangelischer) Eliten identisch, die ihren Beruf zumeist und ihren Einsatz für ihr Arbeitsfeld stärker aus dem persönlichen Interesse, der beruflichen Befriedigung und der beglückenden Selbstentfaltung begründen würden. Dem gegenüber weitet die reformatorische Sichtweise den Horizont. Auch Eliten sollten sich nicht nur als Berufstätige verstehen, sondern können sich als Berufene wissen. In aller innerweltlich-karriereorientierten Berufserfüllung kann sich jedem Mitglied von Funktionseliten auch die Frage stellen, ob seine Berufswahl und -erfüllung mehr als Zufall ist und einen Sinn jenseits seines persönlichen Fortkommens hat. Ein evangelisches Berufsverständnis das selbstverständlich auch für die Eliten gilt – weist darauf hin, dass Erfolg und Karriere immer eine Mischung ist aus Leistung, Glück und Gelegenheit. Neben dem Stolz auf Begabung und Leistung steht deshalb die Dankbarkeit für die Gestaltungsmöglichkeiten und Chancen, die sich einstellen.

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