Evangelische Verantwortungseliten

Eine Orientierung, EKD-Texte 112, 2011

4. Wege

Kirchenglieder, die zu den gesellschaftlichen (Funktions-)Eliten zählen, haben oft eine klare Vorstellung von Qualität und Kompetenz, sie besitzen eine hohe Sensibilität für Fragen von Stil und Anspruch gegenüber sich selbst und auch gegenüber kirchlichen Angeboten. Es stellt eine grundlegende Herausforderung an eine milieu- und zielgruppensensible pastorale Arbeit dar, diese Ansprüche wahrzunehmen und auf sie glaubwürdig einzugehen. Im Bereich der kirchlichen Kernaufgaben wie Verkündigung und Seelsorge haben Menschen aus den Eliten oft und zu Recht ausgeprägte Erwartungen an "ihre" evangelische Kirche und die für sie zuständigen Gemeindepfarrer und Gemeindepfarrerinnen. Spezifisch ethische und persönliche Fragestellungen und Konfliktlagen sind hier ebenso zu berücksichtigen wie der besondere Bedarf an Vertrauen und Verschwiegenheit. Die laufende Debatte um die Etablierung von Profil- und Personalgemeinden und um die Stärkung profilierter überparochialer kirchlicher Orte bieten Chancen dafür, Eliten mit ihren geistlichen und spirituellen Bedürfnissen wahrzunehmen und adäquate kirchliche Angebote zu entwickeln.

Dafür gibt es schon überzeugende Beispiele. Einzelne Personalgemeinden wenden sich bewusst an städtische Verantwortungseliten. Unter Namen wie "Kloster auf Zeit" oder "Spiritual Consulting" für Führungskräfte gibt es Angebote, die teilweise intensiv wahrgenommen werden. Besondere Kontaktflächen zur Kirche bieten Veranstaltungen in der Verantwortung kirchlicher Leitungspersonen, die von herausragenden Konzerten bis zum gesprächsintensiven "Bischofsdinner" reichen. Insgesamt sind aus den Verantwortungseliten immer wieder Signale dafür zu hören, dass es gerade die kirchlichen Räume und Rituale, die besondere Musik und die vielfach gelingenden persönlichen Begegnungen seien, die sie ansprechen. Die evangelische Kirche hat manche "Talente" für die Ansprache der Eliten, die sie aber oftmals nicht überzeugend einsetzt oder gar vernachlässigt.

  1. Stärkung eines evangelischen Selbstverständnisses

    Eine evangelische Verantwortungselite soll nicht allein formal dadurch gekennzeichnet sein, dass Menschen in Führungspositionen Mitglieder der evangelischen Kirche sind. Deshalb muss die Auseinandersetzung mit der Frage, was ein spezifisch evangelisches Profil im Elitehandeln sein kann, einen eigenständigen Stellenwert erhalten. Die theologischen Leitbegriffe von Berufung und Begabung, von Dankbarkeit und Verantwortung bedürfen immer wieder einer neuen Aneignung und Füllung. Dabei muss die evangelische Kirche zur Klärung der evangelischen Identität, der Entwicklung eines angemessenen evangelischen Elite-Ethos und einer entsprechenden evangelischen Lebenskunst als Gesprächspartner mit Kompetenz zur Verfügung stehen. Die evangelische Kirche will durch die Offenheit für diese Frage die Beheimatung der Verantwortungseliten in ihr stärken, ohne zu verkennen, dass es sehr unterschiedliche Formen und Grade von Beheimatung gibt. Ein Dienst an der evangelischen Kirche liegt auch dann vor, wenn Eliten "an ihren Orten gut von Gott und dem Glauben reden" (EKD-Impulspapier "Kirche der Freiheit") und die evangelische Kirche mit ihren Kräften und Kompetenzen stützen.

    Zugleich weiß die evangelische Kirche, dass sie viel von den evangelischen Verantwortungseliten lernen kann. Das geschieht bereits auf vielfältige Weise (in Stiftungen, öffentlicher Anwaltschaft, Fundraising, Mitwirkung in Kammern und Kommissionen, Öffentlichkeits- und Pressearbeit u.v.m.). Es steht ihr gut an, sich gegenüber den Eliten auch als eine an deren jeweiligen Einsichten interessierte und lernende Kirche zu zeigen, bevor sie ihnen mit Forderungen oder Erwartungen entgegentritt. Denn auf diese Offenheit für die Eliten wird der Protestantismus in Zukunft zunehmend achten müssen, um eine starke, qualifizierte, gesellschaftlich verankerte und sichtbare Kirche sein zu können. Deshalb wird sich die Evangelische Kirche in Deutschland in Abstimmung mit den Gliedkirchen den evangelischen Verantwortungseliten mit neuen Angeboten und Initiativen zuwenden.

  2. Kirchliche Angebote auf unterschiedlichen Ebenen

    Auf der Ebene der EKD sollte die Arbeit mit evangelischen Verantwortungseliten gefördert werden, dies geschieht in voller Würdigung und unter Berücksichtigung der Arbeit mit Eliten auf den anderen kirchlichen Ebenen und in anderen Institutionen. Die EKD will die vorhandene Eliten-Arbeit fördern und systematisch reflektieren und ergänzen.

    Kirchliche Arbeit mit Eliten findet bereits heute in vielfältigen Formen statt: Von den Ortsgemeinden über die überregionalen Dienste, Werke und Einrichtungen bis hin zu den Personen in kirchenleitender Verantwortung werden vielfältige Kontakte zu evangelischen Verantwortungseliten wahrgenommen und gestaltet sei es vielfach beiläufig oder vermehrt sogar konzeptionell geplant.

    Allerdings können Eliten mitunter den Eindruck gewinnen, dass sie mit ihrem Stil, ihren Themen, ihren Bedürfnissen in der evangelischen Kirche nicht genügend vorkommen; manche sind für lange Zeit durch Predigtsituationen gehemmt, in denen sie sich "an den Pranger" gestellt fühlten, ohne dass ihre Situation zureichend verstanden wurde oder sie das so entstandene Bild zurechtrücken konnten. Das Eintreten der evangelischen Kirche für eine bessere Teilhabegerechtigkeit und ihre vorrangige Option für die Schwachen verträgt keine Abschwächung; und dieses Eintreten wird gerade auch von Eliten erwartet und geschätzt. Aber es darf in der evangelischen Kirche nicht der Eindruck eines Ausschlusses gesellschaftlicher Verantwortungsträger von der Botschaft des Evangeliums entstehen; die so oft in anderem Zusammenhang betonte "Milieuverhaftung der evangelischen Gemeinden" gibt es auch im Blick auf Elitenmilieus. Darum gilt es, die Zugehörigkeit gesellschaftlicher Eliten zum Leib Christi neu zu betonen sowie die Offenheit und das Verständnis verschiedener kirchlicher Milieus füreinander zu fördern.

  3. Frühzeitiger Zugang zu künftigen Eliten

    Soll mit der "Evangelischen Verantwortungselite" eine selbstbewusste Identität und eine personelle Vernetzung untereinander und in die Kirche hinein verbunden sein, muss diese schon früh angebahnt und aufgebaut werden. Denn es ist weit schwerer, Menschen erst dann auf ihr Evangelisch-Sein und ihre Kirchenzugehörigkeit hin anzusprechen, wenn sie sich bereits in Führungspositionen befinden. Kirchliche Kontaktflächen zu begabten Jugendlichen und Studierenden und zu den in verantwortliche Positionen strebende junge Erwachsene sind allerdings reichlich vorhanden und können für eine breite "Vorfeldarbeit" für die spätere Arbeit mit Eliten im engeren Sinn genutzt werden. Insofern beginnt evangelische Elitenförderung im Grunde im Kindergarten und in der Schüler-, Jugend- und Studierendenarbeit. Die Tatsache, dass viele bewährte Handlungsformen in diesen Feldern abgebrochen oder in einen tief greifenden Wandel hineingezogen sind, erfordert besondere Aufmerksamkeit. Neue Formen sind unter dem Gesichtspunkt zu überprüfen und zu entwickeln, dass sich aus ihnen langfristige Bindungen ergeben können. Nur dann ermöglichen sie auch einen dauerhaften Zugang zu künftigen Eliten.

    Mit Recht betont die EKD-Bildungsdenkschrift "Maße des Menschlichen" aus dem Jahr 2003, dass im Elementarbereich, in der Jugendarbeit und im schulischen Umfeld entsprechende Räume zu eröffnen sind, in denen Kinder und Jugendliche frühzeitig evangelische Positionen kennenlernen und den Umgang mit Verantwortung einüben können. "Verantwortung lernen" sollte deshalb zu einem besonderen Markenzeichen evangelischen Bildungshandelns in Schule, Konfirmandenarbeit und Jugendarbeit werden. Dies schließt die politische Jugendbildung und die Sommerakademien ein, die an vielen Evangelischen Akademien angeboten werden. Auf die besondere Bedeutung solcher evangelischen Kinder- und Jugendarbeit wurde immer wieder hingewiesen: Für viele junge Menschen ist neben dem Konfirmandenunterricht die erste Erfahrung mit der evangelischen Kirche eine Erfahrung mit der evangelischen Jugendarbeit. Dies gilt für viele Biographien von Mitgliedern gesellschaftlicher Eliten. Kinder- und Jugendarbeit fördert den Aufbau einer Verantwortungsethik und eines Sozialverhaltens, die späteren Verantwortungseliten zu Gute kommen. Von der Verantwortungsethik, die in der evangelischen Kinder- und Jugendarbeit erlernt wird, spannt sich ein Bogen zur Verantwortungselite.

  4. Umgang mit den eigenen Eliten

    Wenn in der evangelischen Kirche die Debatte über Eliteförderung und Eliteverantwortung bezogen auf die Gesellschaft verstärkt werden soll, so muss zugleich im Blick sein, wie der Umgang der Kirche mit den eigenen Eliten aussieht: wie sie versucht, begabte junge Menschen für die kirchlichen Berufe zu interessieren; wie sie diejenigen Mitarbeitenden qualifiziert und zurüstet, die Leitungsverantwortung zu übernehmen bereit sind; wie sie Transparenz und demokratische Kontrolle in ihren Leitungsstrukturen handhabt; wie sie ihre Leitungspersönlichkeiten ermutigt und stärkt, ihre Verantwortung nach innen und außen in einem evangelischen Sinne wahrzunehmen. Auch dies soll auf der Ebene der EKD stärkend und stützend für die Gemeinschaft der Gliedkirchen befördert werden.

Fazit

Dieser Text will zu der Entdeckung ermutigen, welche Fülle an exzellenten Gaben und hoher Verantwortungsbereitschaft der evangelischen Kirche durch ihre Mitglieder in den Verantwortungseliten gegeben ist. Er hat sein Ziel erreicht, wenn er eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der "Elite" eröffnet, einen verstärkten kirchlichen Kontakt zu den gesellschaftlichen Eliten anregt und die Diskussion um den Umgang mit den eigenen Eliten in der evangelischen Kirche befördert.

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