Predigt im ökumenischen Gottesdienst am Tag der Deutschen Einheit im Hohen Dom zu Mainz (Römer 8, 18-23)

Manfred Kock

I.

„Die Schöpfung seufzt“ – versklavt und verloren ist sie, vergänglich, so hörten wir es aus dem Brief des Paulus an die Römer.
Und der Mensch ist einbezogen in diese Verlorenheit – ist zugleich Mitverursacher des Leidens, das die Schöpfung zu tragen hat.

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 haben es allen vor Augen geführt: Auch solche Schrecken sind Kennzeichen einer Welt, die leidet, weil menschliche Bosheit wütet ohne Rücksicht auf das, was sie anrichtet.
Die von Menschen gestaltete Welt mit ihren riesigen Türmen aus Beton und Stahl – erbaut als Orte der Geschäfte und der Geschäftigkeit – da brechen sie zusammen wie Kartenhäuser, reißen Tausende in den Tod – Feuer, Rauch, Trümmer und Staub.

Diese schrecklichen Bilder haben sich auch vor die Freude des 3. Oktober geschoben.
Der Tag soll doch dem Dank gelten für die geschenkte Einheit. Die Welt würde nun friedlicher, hatten wir vor 11 Jahren gedacht.
Ein wunderbarer Wandel der Geschichte hatte sich angebahnt. Die Drohung der Großmächte, einander mit atomaren Schlägen auszulöschen, sei Vergangenheit – Stellvertreter-Kriege um Interessen und Einfluss in Afrika, in Asien, in Lateinamerika müssten, so hofften viele, keine Rolle mehr spielen. Die Menschen in aller Welt haben aufgeatmet.

Und nun erleben wir, wie verletzlich unsere hochtechnisierte Welt trotz ihrer Machtsysteme ist.
Dabei hat sich diese Verletzlichkeit schon immer wieder gezeigt: In den Balkankonflikten mit ihren schrecklichen Verbrechen und der mühsamen Schlichtung, in Ruanda mit den Millionen Ermordeten, für deren Schutz niemand intervenieren wollte, und in vielen anderen leidenden Ländern.
Diese Leiden lösen immer wieder Mitgefühl aus, bei vielen. Aber sie ereignen sich weit weg von uns.

Die Anschläge in den USA aber, verübt mit gekaperten, vollbesetzten Zivilflugzeugen, sie gehen uns unter die Haut. Solches Unheil kann jederzeit auch uns und unsere eigenen Städte treffen. Die Täter sind so schwer zu erkennen, sie leben unter uns.

II.

Vergänglich und verloren ist die Welt, sagt der Apostel Paulus. Dann setzt er gegen die Bilder des Leidens diesen Satz:
„Das bedeutet nichts im Vergleich zu der Herrlichkeit, die uns erwartet.“
An uns soll es offenbar werden: Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. Hoffnung ist geschenkt.
Was immer uns noch bevorsteht, ist nur vorläufig. Es sind die Wehen der Geburt einer neuen Zeit.
Wir wissen: solche Botschaft ist leicht zu verspotten
- als Illusion, die die Wirklichkeit nicht wahr haben will,
- als Opium, das der bedrängten Kreatur zur Betäubung dient.
Diese alte Kritik an der Hoffnung aus dem Glauben verkennt zweierlei:
Den Grund der Hoffnung - und die Wirkung der Hoffnung.

Der Grund der Hoffnung ist das Bild des gekreuzigten Christus. Das Kreuz steht für alle Verlorenheit und Bosheit der Welt. In ihm zeigt sich ein Gottesbild, das die Welt in ihrer Verlorenheit und Bosheit nicht sich selber überlässt.
Gerade im tiefsten Leid teilt Gott unsere Verlassenheit.

Der Gekreuzigte ist das Modell der Hoffnung auf das neue Leben. Alle Tränen werden abgewischt – so haben die von Christus Ergriffenen gehofft und geglaubt.
Das hat sie nicht betäubt, sondern das hat ihnen Lebenskräfte geschenkt. Der Gekreuzigte und Auferstandene ist ihnen die Anzahlung auf die herrliche Zukunft geworden, so haben sie mitten in Leid und Verfolgung den lebendigen Geist Gottes gespürt.

III.

In der Kraft seines Geistes bekommen wir die Wirkung der Hoffnung zu spüren:
Schon jetzt, trotz all der Ängste vor Terror und vor den Abgründen der Rache, sind das die Spuren der Herrlichkeit:
- der Trost der gemeinsamen Gebete,
- der Mut der Retter,
- die Stimmen der Besonnenheit.
- die Zeichen der Verbundenheit.

Auch der 3. Oktober hat uns solche Spuren gezeigt. Es waren die Chancen zu ergreifen, die das Ende der Mauer und der Teilung unseres Landes bieten.
Wir müssen nicht beschönigen, was noch nicht geschafft ist. Wir müssen nicht verdrängen, welche Widersprüche noch Leiden verursachen. Aber trotz aller Unvollkommenheit – wir können aus dem Geschenk der Einheit etwas machen, das dem Frieden dient.

Die Spuren der herrlichen Freiheit: lasst uns zusammenrücken und gemeinsam einstehen für Frieden und Gerechtigkeit. Ich weiß, Zusammenrücken ist gegen den Trend der Zeit; der zeigt eher in Richtung Individualismus und Eigeninteresse. Hoffnung aber zielt auf Verantwortung und auf Gemeinschaft.

In den letzten Wochen haben die Menschen in unserem Land Nähe und Vergewisserung gesucht und viele erwarteten sie in den Kirchen. Hier brach die Ahnung wieder auf, sie könnten finden, wonach sie sich sehnen: nach jenem Urvertrauen, das zu zerbrechen droht unter der Radikalität des Bösen. Dafür suchten sie nach Orten des Gebetes und der heilenden Gesten.

Die Botschaft des Christus ist die Kraft des Friedens. Im Namen der Religion werden zwar immer wieder Gewalt und Terror begründet – in Nordirland ebenso wie in Indonesien und wie jetzt von Terroristen – und alle Rufe nach Krieg und Kreuzzug folgen dem gleichen Wahn. Dem müssen wir entschieden widerstehen. Denn unser Glaube, wie wir von Paulus hörten, zielt auf die Freiheit der Kinder Gottes, die dem Frieden verpflichtet ist.

Je glücklicher wir sind über das Erreichte, desto deutlicher spüren wir das noch nicht Erreichte und die Leiden daran.
Aber je dankbarer wir sind für das Geschenk der politischen Einheit unseres Landes, desto mehr können wir dabei helfen, dass die innere Einheit wächst.

Die Anzahlung ist gegeben in dem Christus. Gottes Geist will uns seine Hoffnungskraft erschließen.