Vortrag "Europa - in Grenzen" beim Jahresempfang der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste

OKR'in Katrin Hatzinger, Köln

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder der Gruppe "Germany close up",

ich freue mich sehr, dass ich heute Abend bei dem Jahresempfang von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste zu Ihnen sprechen darf. Mein besonderer Dank gilt Elisabeth Raiser und Dagmar Pruin für die Einladung.

Das Jahr 2014 ist ein besonderes europäisches Jahr, ein Jahr des Gedenkens, an den Ausbruch des Ersten und des Zweiten Weltkriegs und an die Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands vor 25 Jahren: Es ist aber auch ein Jahr der Entscheidungen. Am 25. Mai wird das neue Europäische Parlament gewählt. Von diesen Wahlen hängt in hohem Maße die Europapolitik der nächsten Jahre, aber auch das Bild Europas in der Öffentlichkeit ab. Noch stärker als in den Jahren zu vor, machen sich rechtspopulistische und -extremistische Parteien bereit, einen Sitz in Straßburg bzw. Brüssel zu erringen, und von dort gegen die europäische Idee Stimmung zu machen.

Die Europäische Integration, die von Beginn an ein Prozess der Ups and Downs war, ist wieder einmal in einer Talsohle angekommen. Die Staatsschulden- und Finanzkrise ist noch lange nicht überwunden, die Spar- und Reformpolitik verlangt gerade den Schwächsten besonders große Opfer ab. Die sozialen Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten verschärfen sich und alte Stereotypen erleben fröhlich Wiederauferstehung. Gerade das Deutschlandbild hat im Zuge der Krisenbewältigung erhebliche Kratzer abbekommen. Deutschlands wirtschaftliche Stärke wird von vielen Nachbarn als Bedrohung wahrgenommen, sie fühlen sich fremdbestimmt und ausgeliefert. Zugleich herrscht eine relative Instabilität der politischen Verhältnisse bei einigen Nachbarn, wie wir es gerade in Italien erleben. Unterschiede vertiefen sich: zwischen Nord und Süd, den Eurostaaten und den Staaten an der Peripherie. Das alles macht nachdenklich und manchmal auch ängstlich.

Doch Angst ist ein schlechter Ratgeber. In den letzten 100 Jahren hat Europa viel dazu gelernt und doch ist das Erreichte fragil und kostbar und bedarf unserer Fürsprache und unseres Einsatzes.

"Europa - in Grenzen", das ist das Thema, das mir für den Vortrag gestellt worden ist... und ich muss sagen, dass ich mich an dem Titel einige Zeit gedanklich abgearbeitet habe. Denn spontan empfinde ich Europa für mich gerade als einen Raum ohne Grenzen... einen Wirtschaftsraum, einen Kulturraum, einen politischer Raum, in dem unsere vielfältige, bunte europäische Welt wächst und gedeiht. Ein Raum, in dem Grenzen für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen de facto abgeschafft sind, zumindest auf dem Papier.

Die Debatte um die Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Erfolg des französischen Front National, der niederländischen Partij voor de Vrijheid, der englischen Ukip, der österreichischen FPÖ und auch der Alternative für Deutschland zeigen allerdings, dass die Grenzen in den Köpfen weiterleben und dass es nur wenig bedarf, um dieses Grenzdenken politisch zu aktivieren.

Ich habe deshalb für mich selbst bei der Arbeit an dem Vortrag in dem Titel einen Gedankenstrich eingezogen und zwar nach dem Wort Europa: Europa Gedankenstrich in Grenzen.

Das sieht schon einmal anders aus, das liest sich anders und macht deutlich, worauf es mir ankommt: Dass es wichtig ist, Europa zu hinterfragen, einmal inne zu halten, nachzudenken und nicht reflexartig in den Ruf nach "mehr Europa" einzustimmen. Dazu müssen wir uns zunächst darüber im Klaren sein, wovon wir eigentlich sprechen, wenn wir von Europa reden? Von der Europäischen Union? Ihren 28 Mitgliedsstaaten? Von der Europäischen Kommission? Von dem geographischen oder von dem kulturellen Raum? Hier fangen die Schwierigkeiten schon an, denn teilweise sind die Übergänge fließend und in der öffentlichen Debatte wird gern alles miteinander vermischt. Wenn ich heute Abend von Europa spreche, meine ich die Europäische Union als politischen und wirtschaftlichen Zusammenschluss von mittlerweile 28 Staaten, die einen Großteil des europäischen Kontinents ausmachen.

Warum nun also der Gedankenstrich? Je größer und komplexer die EU in den letzten Jahren geworden ist, desto weiter hat sie sich im Empfinden der Menschen von ihren Lebenswelten entfernt. Das macht es auch so schwierig, die EU zu erklären, und für Populisten umso einfacher, mit simplen Parolen die bestehende Grundskepsis und Zukunftsangst vieler Menschen zu verstärken. Auf "die da in Brüssel" zu schimpfen und den schwarzen Peter dem "bürokratischen Monster EU" zuzuschieben, ist vielerorts salonfähig geworden. Viel mühevoller ist es, das komplizierte europäische Räderwerk Außenstehenden zu erklären. Deshalb wird dann oft mit dem Ruf nach "mehr Europa" dagegengehalten, aber das kann meines Erachtens auch nicht die Lösung sein. Im Gegenteil, diese Rufe schüren nur weiteres Unbehagen, so dass die Rückkehr in die Grenzen des Nationalstaates verheißungsvoll erscheint. Doch das Ganze ist komplizierter. Zunächst müsste auch von den politisch Verantwortlichen erkannt werden, dass auf dem Weg der europäischen Einigung Fehler gemacht worden sind... und zwar nicht nur wirtschaftlich (eine Währungsunion ohne Wirtschaftsunion), sondern auch politisch. Zwar sind einige dieser Fehler in der Zwischenzeit behoben, doch das Problem reicht meines Erachtens tiefer. Es fehlt der EU aktuell an Tiefgang, an Seele, an Vision und es fehlt in Deutschland weitestgehend an dem Bewusstsein, dass Europapolitik Innenpolitik ist und nicht in einen Spezialausschuss im Bundestag abgeschoben werden kann. Die Gesetzesvorhaben, die in Brüssel auf den Weg gebracht und dann vom Europäischen Parlament in Straßburg verabschiedet werden, gehen uns alle an und sind mindestens so relevant wie die Gesetze aus dem Bundestag, beruhen doch viele dieser "deutschen" Gesetze auf Vorgaben aus Brüssel. Deshalb hat Deutschland im Ministerrat ja auch eine gewichtige Rolle mitzureden, was aber gern unerwähnt gelassen wird.

Deshalb sollten wir, Kirche, als Teil der Zivilgesellschaft, dafür eintreten, dass in Deutschland eine breite Debatte über die Zukunft der EU angestoßen wird... und eben nicht nur in Wirtschafts- und Politikerkreisen. Der Deutsche Evangelische Kirchentag geht hier mittlerweile mit gutem Beispiel voran. So führen europäische Themen mittlerweile kein Mauerblümchendasein mehr, ganze Podienreihen beschäftigen sich vielmehr mit der EU und die Organisation eines europäischen Kirchentages ist angedacht.

Wie stellen wir uns das Europa der Zukunft vor? Wie kann die postnationale europäische Realität, die durch ein hohes Maß an Mobilität gekennzeichnet ist, politisch abgebildet werden? Könnten transnationale politische Verfahren für mehr Mitbestimmung und Beteiligung über Grenzen hinweg sorgen? Was muss in Europa geregelt werden, was nicht? Diese und andere Fragen sollten wir stellen und diskutieren.

Europa - das sind wir alle, von Zagreb bis Helsinki. Die EU besteht nun einmal aus der Summe ihrer Teile. Insofern ist es ein wichtiger Bildungsauftrag, Interesse an EU-Themen zu wecken, um sich informiert einmischen zu können. Hier sehe ich auch die Kirchen in der Pflicht, Europa mehr zu ihrer Sache zu machen. Ich würde aber anregen, dass auch die Freiwilligendienste mit ihrer politischen Bildungsarbeit sich noch stärker an das Thema Europa heranwagen. Die anstehenden Europawahlen bieten eine gute Gelegenheit für solche Diskussionen. Mein Büro erarbeitet gerade zu den Europawahlen einen Leitfaden, die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend (aej) plant eine Aktion, der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt engagiert sich und die Evangelische Frauenarbeit erstellt Wahlprüfsteine. Aber es kann noch mehr passieren.

Zuallererst ist es natürlich an den Parteien, die sich zur Wahl stellen, ihre Ideen für ein anderes Europa den Bürgerinnen und Bürgern zu präsentieren und mit ihnen zu diskutieren. Stattdessen ist aber damit zu rechnen, dass aufgrund der Kommunalwahlen, die z. B. hier in NRW zeitgleich mit den Europawahlen stattfinden, kommunale Themen die europäischen überlagern werden. Und wie so oft droht auch die Unzufriedenheit mit der jeweiligen nationalen Regierung und deren Politik sich in den Europawahlen niederzuschlagen. Die Europawahl als reine Protestwahl - das wäre eine verpasste Chance.

Doch es reicht auch nicht aus, alle fünf Jahre für sechs Wochen über Europa zu debattieren und dann wieder zum „business as usual“ zurückzukehren. Europa ist ein Querschnittsthema und die europäische Dimension sollte bei jedem Thema, ob Asyl oder Energie mitgedacht werden. Es ist deshalb äußerst bedauerlich, dass Europa immer noch als Thema für einige wenige ausgesuchte Experten gilt, der europäische Gedanke oft auf den Euro reduziert wird und selbst im letzten Bundestagswahlkampf europäische Themen so gut wie gar keine Rolle gespielt haben.

Damit sich das ändert, ist es wichtig, Klarheit herzustellen.

Der Rat der EKD hat im Oktober 2012 ein Wort zur Stärkung des europäischen Zusammenhalt vorgelegt: "Für eine gemeinsame Zukunft in einem geeinten Europa". Darin wird betont, dass "in der globalisierten Welt selbst die großen europäischen Staaten zu klein sind, um wirtschaftliche und ökologisch-nachhaltige Entwicklungen beeinflussen zu können. Angesichts der wirtschaftlichen Vernetzung (...) brauchen wir die EU, um die Rahmenbedingungen im Sinne unserer Vorstellungen und Werte beeinflussen zu können. Für die Außen-, Klima-, Umwelt-, Energie- und Entwicklungspolitik gilt: Gemeinsam sind wir stärker."

Doch das Papier unterstreicht auch, dass "nicht alles in Brüssel geregelt werden muss". Lokales Handeln und lokale Verantwortung gelte es daher zu stärken.

Eine Verständigung darüber, welche Politikbereiche von der EU geregelt werden sollten und welche nicht, würde vielen Polemikern den Wind aus den Segeln nehmen. Es gibt viele große Herausforderungen, die wir nur gemeinsam meistern können. Doch heute verzettelt sich die europäische Gesetzgebung leider noch zu oft in überflüssigen Details, anstatt alle Kräfte auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Dazu kommt, dass die Wege der Entscheidungsfindung oft wenig transparent und nachvollziehbar sind und die wahre Macht immer noch in den Hauptstädten der Mitgliedstaaten sitzt. Deshalb reagieren viele Menschen auf die EU gleichgültig oder zunehmend allergisch. Es geht nun darum, den Menschen zu vermitteln, dass die EU ihr Projekt ist, das ihnen persönlich etwas bringt. Darin sehe ich die Aufgabe der Politik, aber auch die Aufgabe anderer gesellschaftlich relevanter Akteure, denen an stabilen demokratischen Verhältnissen gelegen ist.

Die Staatsschulden- und Finanzkrise hat uns die Grenzen Europas vorgeführt.

Diese sinnbildlichen Grenzen, in denen sich die EU bewegt, sind zahlreich. Auf einige davon möchte ich nun eingehen und komme damit zum zweiten Abschnitt meines Vortrags. Er widmet sich den Grenzen des politisch Machbaren, den Grenzen der Kommunikation und den Grenzen des Zusammenhalts.

1. Die Grenzen des politisch Machbaren

Politik ist immer die Kunst des Kompromisses, erst recht in einem Staatengebilde von 28 Mitgliedstaaten. Wir schätzen die EU als Ausdruck von Einheit in Vielfalt und Ausdruck von versöhnter Verschiedenheit. Aus der eigenen evangelischen Geschichte wissen wir, wie schwierig es ist, (theologische) Unterschiede auszuhalten und sich pragmatisch auf das Gemeinsame zu besinnen. Nicht anders ergeht es den 28 Mitgliedern in der EU, alle europäisch und doch mit unterschiedlicher Geschichte, Mentalität und unterschiedlichen Erwartungen. Ich finde, es muss immer wieder positiv anerkannt werden, was diese EU in den letzten 60 Jahren geleistet hat, aber sie darf sich auf ihrem Friedensnobelpreis auch nicht ausruhen. Hier sind kritische Impulse von außen gefragt, die Europa als Versprechen beim Wort, in diesem Fall beim EU-Vertrag, nehmen und den Einsatz für Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte einfordern. Dabei müssen wir der EU aber auch realistische Ziele zubilligen, Rückschläge aushalten und die Herausforderungen der Vielfalt anerkennen.

2. Grenzen der Kommunikation

Die Begeisterung für die EU hält sich in Grenzen. Viele Menschen lässt die EU völlig kalt oder sie regt sie wahnsinnig auf, Beispiel Glühlampenregulierung oder die SEPA-Umstellung für Überweisungen. Verkannt wird dabei, dass die EU eben ein Zusammenschluss von 28 sehr unterschiedlichen Mitgliedstaaten ist und dementsprechend nicht besser und schlechter sein kann als ihre Mitglieder. Kritik an Europa hat also immer auch bei der eigenen Regierung anzusetzen anstatt auf "die da" in Brüssel zu schimpfen. Es stimmt, die EU-Kommission hat als einzige EU-Institution die Macht, Gesetze vorzuschlagen und es gibt durchaus Vorstöße, die überflüssig oder sogar kontraproduktiv sind. Deshalb mein Appell für das Subsidiaritätsprinzip, für eine klare Abgrenzung zwischen Politikfeldern, die national, und Feldern, die europäisch zu regeln sind. Solange die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Nord-und Südeuropa weiterbestehen und Europathemen ein Nischendasein in Expertenrunden führen, wird es Populisten und Europaskeptikern leicht gemacht, die EU zu verunglimpfen und plump zu attackieren. Da niemand so wirklich durchblickt, bleiben viele Falschmeldungen unwidersprochen. So z. B. die Behauptung der AfD, Europa würde sich im Bereich der Reproduktionsmedizin schleichend immer mehr Kompetenzen anmaßen. Niemand fühlt sich zuständig, aufzuklären und bei Bürgerinnen und Bürgern bleibt zumindest ein ungutes Gefühl gegenüber der Krake aus Brüssel zurück. Das muss sich ändern. Hier müssen Politiker und EU-Beamte reagieren und v. a. mehr informieren, am besten vor Ort. Wir machen die Erfahrung, dass Besuche in Brüssel bei den Institutionen viele Vorurteile abbauen können. Aber auch Kirche und Zivilgesellschaft sind aufgefordert, Stellung zu beziehen und zuzuhören. Die Bürgerinnen und Bürger müssen mit ihrem Unbehagen und ihren Anfragen ernst genommen werden. Sich vor möglichen Kontroversen wegzuducken bringt gar nichts, sonst geben andere die falschen Antworten. Ich hoffe, dass es im Europawahlkampf entsprechende Diskussionsrunden der Spitzenkandidaten gibt, die sachlich und fair über ihre europapolitischen Vorstellungen streiten und deren Ringen Lust macht, sich an den Wahlen zu beteiligen.

3. Grenzen des Zusammenhalts

Europa ist ein Versprechen, das weit über die Bewahrung unseres Wohlstands hinaus reicht. Solidarität ist ein bedeutender europäischer Wert. Doch wie brüchig der Zusammenhalt im Ernstfall ist, zeigt sich in Wahlkampfzeiten und wenn es ums Geld geht. An zwei Beispielen möchte ich illustrieren, wo wir aktuell deutlich an diese Grenzen stoßen.

3.1. Die Freizügigkeit

Die Freizügigkeitsdebatte zeigt, wie schnell sicher geglaubte europäische Errungenschaften in Frage gestellt werden können, wenn sich daraus nur politisch Profit schlagen lässt. Da reicht es dann als Reaktion nicht allein, die Arbeitnehmerfreizügigkeit als elementaren Pfeiler der europäischen Einigung zu postulieren. Da gilt es vielmehr, den billigen populistischen Angriffen gezielt und differenziert durch Sachargumente Paroli zu bieten. Erschütternd ist, dass hier Populisten und zum Teil Extremisten erfolgreich Wahlkampf auf Kosten besonders Bedürftiger machen und gleichzeitig ein völlig falsche Bild von arbeitsuchenden und oft hoch qualifizierten Rumänen und Bulgaren prägen. Das ist nichts anderes als geistige Brandstiftung. Wie der Namen schon sagt, ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit für EU-Bürgerinnen und Bürger gedacht, die in einem anderen EU-Mitgliedstaat arbeiten wollen. Arbeitnehmer, deren Qualifikationen wir oft dringend brauchen. Die Tatsache, dass immer wieder Menschen versuchen, Armut und Elend im Heimatland durch den Zuzug in reicheren EU-Staaten zu entgehen, ist ein anderes Thema und sicher nicht durch die Abschaffung der Freizügigkeit zu lösen.

Die Europäische Kommission hat als Reaktion auf die aktuelle Debatte eine Studie zur Untersuchung der Auswirkungen nicht-erwerbstätiger EU-Migranten auf die Sozialsysteme der EU-Mitgliedstaaten in Auftrag gegeben.  Die Studie hat ergeben, dass EU-Bürger Sozialleistungen in der Regel nicht intensiver in Anspruch nehmen als Inländer. Die Beschäftigungsquote (67,7 Prozent) liegt im Schnitt sogar über derjenigen der Inländer (64,6 Prozent). Die große Mehrheit der EU-Bürger, die von der Freizügigkeit Gebrauch machen, tut dies, um eine Arbeit aufzunehmen. Die Gesamtauswirkung auf die Sozialsysteme der Aufnahmemitgliedsstaaten wird als sehr gering beurteilt.

Neben der Aufklärung über die Rechts- und Faktenlage kommt es darauf an, die Roma-Strategie der EU endlich flächendeckend anzuwenden, die Integration zu fördern und die betroffenen Kommunen nicht alleine zu lassen.

Die Volksabstimmung in der Schweiz macht zudem deutlich, wie schnell sich die Rollen verschieben können. Unter "Masseneinwanderung" fallen in der Lesart unserer Nachbarn nicht mehr verarmte Osteuropäer, sondern Deutsche und Italiener, die den Schweizern den Sitz in der Tram oder den Arbeitsplatz streitig machen. So könnte das Referendum sich für die politische Debattenkultur in Deutschland ja vielleicht sogar noch als recht heilsam erweisen. Zu wünschen wäre es.

3.2. Das gemeinsame europäische Asylsystem

Auch in der Diskussion um ein gemeinsames europäisches Asylsystem stößt der Zusammenhalt innerhalb der EU, aber auch die Solidarität mit Schutzsuchenden an seine Grenzen. Obwohl das GEAS letztes Jahr feierlich ausgerufen wurde, sind wir noch weit von einem echten gemeinsamen System entfernt. Während Abschiebeentscheidungen EU-weit anerkannt werden, sieht es mit der Anerkennungspraxis ganz anders aus. Die Chancen, in der EU als Flüchtling anerkannt zu werden, variieren je nach Mitgliedstaat. Auch bei den Aufnahmebedingungen und der Qualität des Asylverfahrens gibt es extreme Unterschiede. Vielerorts ist die Inhaftierung von Schutzsuchenden an der Tagesordnung. Das Dublin-System sorgt weiter dafür, dass die Staaten an den Außengrenzen der EU für die Bearbeitung der Asylanträge zuständig sind. Rufe nach einer Neuausrichtung und mehr Solidarität der Staaten dringen weiterhin nicht wirklich durch. Mit dieser Realität dürfen wir uns nicht abfinden, auch wenn angesichts der gegenwärtigen politischen Lage mehr Flüchtlingsschutz nicht oben auf der politischen Agenda steht.

4. Rolle der Friedensdienste

Abschließend möchte ich natürlich noch einige Worte zur Rolle der Friedensdienste sagen.

Zunächst leisten sie einen unverzichtbaren Beitrag, um Grenzen zu überwinden und Europa zu leben. Dabei sind es eben nicht nur die geographischen Grenzen, die überwunden werden, sondern auch Grenzen von Alter, Sprache, Milieus und Nationalitäten. Gerade dieser Austausch von Mensch zu Mensch macht die Friedensdienste so unendlich wertvoll.

Immer wieder wird davon gesprochen, dass Europa ein neues Narrativ brauche: die Sicherung des Friedens sei heute eine Selbstverständlichkeit. Ich sehe das anders. Zwar ist die politische Lage heute nicht so angespannt wie 1914 kurz vor Ausbruch des "großen Krieges", wie er in Großbritannien, Belgien oder den Niederlanden genannt wird. Aber dieses Gedenkjahr 2014 führt uns doch sehr eindrücklich vor Augen, wie kostbar das Geschenk des Friedens auch heute ist. Nicht weit von uns entfernt toben blutige Auseinandersetzungen, denken wir nur an den schrecklichen Bürgerkrieg in Syrien. Aber auch die Lage auf dem Balkan ist weiterhin fragil, wie die Unruhen in Bosnien oder Zwischenfälle im Kosovo zeigen. Zu meinen, Europa sei nun für alle Zeiten von Kriegen verschont, wäre naiv. Die Münchner Sicherheitskonferenz und die Rufe deutscher Spitzenpolitiker, Deutschland solle "international mehr Verantwortung übernehmen", lassen aufhorchen. Den Frieden zu sichern und an die Schrecken der Kriege zu erinnern ist für mich auch für die Zukunft eine unerlässliche Aufgabe Europas und dafür brauchen wir eine europäische Erinnerungskultur. Die Erinnerung wird durch die Friedensdienste und die vielen Begegnungen und Projekte wachgehalten. Das macht sie so wertvoll und unterstützenswert.

Gleiches gilt für die Erinnerung an den Holocaust, auch hier sind die Geister der Vergangenheit leider nicht gebannt. Auch hier ist das Zusammentreffen und die Auseinandersetzung mit jüdischer Kultur und Geschichte Garant für ein gedeihliches Miteinander. Die Relevanz der politischen Bildungsarbeit habe ich eben bereits erwähnt.

Angesichts der Renaissance historischer Stereotypen ist jeder und jede Freiwillige natürlich auch immer ein Botschafter Deutschlands und je nach Einsatzland auch Europas. Das ist eine große Verantwortung, aber auch eine tolle Aufgabe, von der wir gleich durch die junge polnische Freiwillige noch hören werden. Nur durch persönliche Kontakte und Erfahrungen, aber auch durch den Geist der Sühne können Vorurteile und Ängste dauerhaft abgebaut werden.

Das politische Europa hat es gerade nicht leicht. Die Wahlen im Mai bieten die Chance, dumpfen Nationalismen und billigem Populismus eine Absage zu erteilen. Sie sollten aber auch Anlass sein, uns als Teil dieses Europa wahrzunehmen und die Debatte um Europas Zukunft nicht denen zu überlassen, die nur in Grenzen denken können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.