Andacht im Deutschen Bundestag

Ansprache zu „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg.“ (Ps 119,105)

Die Erfahrung völliger Dunkelheit geht uns mehr und mehr verloren. Vor allem in einer Stadt wie Berlin ist es nie wirklich dunkel. Selbst wenn ich spätnachts durch die Straßen gehe, dann sehe ich in fast jedem Haus noch ein erleuchtetes Zimmer, und die Straßenbeleuchtung verscheucht allzu viel Dunkelheit. Aus dem Weltall betrachtet sind Metropolen wie Berlin große leuchtende Punkte. Vielleicht kennen diejenigen von Ihnen, deren Wahlkreis nicht in einer der großen Städte liegt, noch eher die Dunkelheit, denn wo wenige Straßen verlaufen, ist auch die Beleuchtung entsprechend gering.

Wer sich da im Dunkeln zurechtfinden will, der braucht schon eine gute Orientierung. Noch besser ist Ortskenntnis, denn allzu leicht verwechselt man im Dunkeln die Wege. Und am allerbesten ist eine Lichtquelle. Denn trotz Ortskenntnis kann sich wohl kaum jemand jeden Bordstein merken, jedes Schlagloch oder andere Hindernisse, die im Dunkeln allzu leicht zur Stolperfalle werden können.
Wem jedoch kein Licht aufgeht, der kann straucheln, sich verirren oder am Ende gar nicht vorwärts kommen.

(1.) Das Dunkel birgt Gefahren, unbekanntes Gelände, auf das man sich nicht einstellen und nur im letzten Moment reagieren kann, kaum erkennbare Hindernisse und viel Platz für Angriffe aus dem Verborgenen. Ein Bild aus Kindergeschichten wird wach: der weite Weg durch den dunklen Wald, voller unbekannter und Angst machender Geräusche.

(2.) Das Dunkel schränkt unsere Freiheit ein, denn unser Bewegungsradius ist empfindlich beschränkt. Wir tapsen unsicher und suchenden Schrittes, immer darauf gefasst, den Halt zu verlieren; wir versuchen, mit tastenden Händen Hindernisse so früh wie möglich zu erkennen. Von einem befreiten, selbstbewussten und fröhlichen Schritt kann aber keine Rede sein.

(3.) Und die Dunkelheit macht schließlich einsam. Selbst wenn sich ganz in unserer Nähe ein Mensch befindet, kann es sein, dass wir ihn nicht bemerken. Wir wissen nicht nur nicht mehr, was um uns herum ist, sondern auch nicht mehr, wer um uns herum ist, ob da überhaupt noch ein Nächster ist. Wir fühlen uns verlassen und einsam.

Was kann auch nur ein kleines Licht in dieser Situation alles verändern!

Es lässt uns Gefahren, Fallstricke und Hindernisse frühzeitig erkennen und macht unseren Schritt sicherer und fester. Es gibt uns die Freiheit zurück, uns ungehindert zu bewegen, Neues zu erkunden und in bisher unbekannte Gegenden voranzuschreiten. Und es lässt die anderen uns finden, es leuchtet auch ihnen und stiftet so Gemeinschaft.

Solch eine Leuchte und solch ein Licht ist Gottes Wort, wie es uns in der Heiligen Schrift, in der Torah, den Propheten und Schriften und in den Büchern des Neuen Testamentes gegeben ist: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg“, so betet der Psalmist, so haben wir vorhin gebetet.

Das Wort Gottes erleuchtet unsere Dunkelheiten. Durch Gottes Wort sehen wir mehr, sehen wir klarer und weiter. Die persönliche Begegnung mit dem Schriftwort, von Martin Luther vor fast 500 Jahren wiederentdeckt und zu Recht in das Zentrum christlicher Frömmigkeit gerückt, dieses persönliche Lesen setzt uns ein Licht auf, erhellt und beleuchtet unseren Weg durch die Welt. Weil wir der Heiligen Schrift durch Luthers Übersetzung direkt begegnen können, konnte uns dies Licht aufgehen.

Dieses Licht strahlt uns auch im Advent entgegen. Die alten verheißungstexte der biblischen Tradition beginnen neu zu strahlen, wärmen und erhellen unsere Realität. Wenn wir unsere Wirklichkeit in ihnen brechen lassen, dann sehen wir sie mit anderen Augen. Dann erkennen wir mehr von der Welt um uns herum, weil sie die Schatten verjagen und uns ein Licht aufgehen lassen.
Das Licht des Wortes Gottes begleite uns, besonders jetzt im Advent, aber auch durch unser ganzes Leben.
Amen.