Im Alter neu werden können. Evangelische Perspektiven für Individuum, Gesellschaft und Kirche

Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, 2010, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05912-9

Einleitung

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten Neugeborene in Deutschland eine Lebenserwartung von weniger als 50 Jahren. Für Mädchen lag sie bei etwas mehr als 48 Jahren, für Jungen bei knapp 45 Jahren. Bis heute hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung für neugeborene Mädchen auf über 83 Jahre, für neugeborene Jungen auf fast 79 Jahre erhöht. Bevölkerungsvorausberechnungen gehen davon aus, dass sich die Lebenserwartung in Zukunft weiter erhöhen wird, wenn auch vielleicht nicht im selben Maße wie in den letzten Jahrzehnten. Dieses Mehr an Lebenszeit ist ein Geschenk, für das wir als Christinnen und Christen dankbar sein können, zumal wir im Vergleich zu früheren Generationen nicht nur älter, sondern auch anders alt werden. Das Ausscheiden aus dem Beruf bedeutet schon lange nicht mehr Rückzug aus der Gesellschaft. Auch wenn sich im Alter Einschränkungen der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit einstellen, so besteht heute doch für Viele die Möglichkeit, aktiv zu bleiben, Erfüllung zu finden, späte Freiheit zu verwirklichen.

Diese Veränderung des Alters spiegelt sich noch nicht in einem veränderten gesellschaftlichen und kulturellen Umgang mit dem Alter wider. Die Chancen, die ein längeres Leben bei erhaltener Gesundheit und Leistungsfähigkeit mit sich bringt, werden oft übersehen. Neue Chancen ergeben sich dabei nicht nur für die individuelle Lebensgestaltung, sondern auch für das Zusammenleben der Generationen. In Bezug auf die individuelle Lebensgestaltung sind neue Freiheiten im Alter zu nennen, zu denen die veränderte Alltagsgestaltung genauso zu zählen ist wie Möglichkeiten zu neuem gesellschaftlichem Engagement. In Bezug auf das Zusammenleben der Generationen ist der Austausch zwischen den Generationen von großer Bedeutung, wobei hervorzuheben ist, dass die Beziehungen zwischen den Generationen in unserem Land in einem sehr viel stärkeren Maße von gegenseitigem Austausch und Solidarität bestimmt sind als von Spannungen und Konflikten.

Warum wird hier eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland vorgelegt, wo doch schon viele Schriften vorgelegt wurden, in denen Empfehlungen zum gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Umgang mit Fragen des Alters ausgesprochen wurden? Als evangelische Kirche sind wir gefordert, vom christlichen Glauben her Orientierung für eine Gesellschaft zu geben, die auf eine kontinuierlich ansteigende Lebenserwartung ihrer Mitglieder blicken kann. Zu den Grundeinsichten christlichen Glaubens gehört dabei die Erkenntnis, dass alle Menschen – unabhängig von ihrem Lebensalter – Verantwortung für diese Welt tragen. Der Schöpfungsauftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren, kennt keine Entpflichtung einzelner Altersgruppen. Zugleich weiß der christliche Glaube um die besondere Würde eines jeden Menschenlebens, das auch in Zeiten zunehmender Verletzlichkeit, Hilfs- und Pflegebedürftigkeit nichts von seinem Wert einbüßt.

Die Entwicklung neuer Perspektiven für die alternde Gesellschaft setzt die Bereitschaft voraus, der Vielfalt des Alters ausreichend Raum zu geben. Doch diese Voraussetzung ist in unserer Gesellschaft noch nicht hinreichend erfüllt. Es fehlt vielfach die Einsicht, dass Altern nicht allein ein biologischer Prozess ist, sondern in gleicher Weise von gesellschaftlichen und psychologischen Faktoren beeinflusst ist: Die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft Alter bewertet und ältere Menschen anspricht, sowie die Rollen und Aufgaben, die sie älteren Menschen überträgt, beeinflussen – neben den objektiv gegebenen Lebensbedingungen – in hohem Maße deren Lebensqualität, Kompetenz und Sinnerleben. Darüber hinaus kommt psychologischen Merkmalen wie seelisch-geistiger Aktivität, Lebensstil, der Bewertung des eigenen Lebens, dem Grad der inneren Gebundenheit an das Leben und der Offenheit für Neues große Bedeutung in allen Phasen des Lebens und damit auch im Alter zu.

Die Aufgaben und Rollen älterer Menschen bilden einen Gegenstand öffentlicher Diskussion. Nachdem über viele Jahre verlust- und defizitorientierte Altersbilder im Vordergrund standen, wird derzeit vor allem ein aktives und leistungsorientiertes Altersbild betont. Doch das Alter ist nicht so einfach polarisiert, sondern hat genauso viele Gesichter wie jede andere Lebensphase.

Zudem sind auch im hohen Lebensalter die Unterschiede zwischen Menschen in Bezug auf die körperlichen, kognitiven, emotionalen, alltagspraktischen und sozialkommunikativen Fähigkeiten sowie in Bezug auf die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Ressourcen sehr groß. Einseitige Zuschreibungen werden dieser Heterogenität nicht gerecht.

Aus Sicht des christlichen Glaubens können hier neue Perspektiven in die Debatte eingebracht werden. Denn das christliche Menschenbild ist off en auf Zukunft hin; es legt Menschen nicht fest. Es weiß darum, dass Menschen in jeder Lebensphase verletzlich und angewiesen sind auf Gott und ihre Mitmenschen und in allen Lebensphasen nur begrenzte Autonomie besitzen. Angewiesen zu sein ist dieser Sichtweise zufolge nicht die Ausnahme in besonderen Lebensphasen, sondern der Regelfall für das ganze Leben. Die Würde des Menschen hängt nicht von seiner Autonomie ab. Sie bleibt auch dann bestehen, wenn Menschen auf Hilfe angewiesen sind und sich nach den gängigen Vorstellungen nicht mehr selbst verwirklichen können.

Das christliche Menschenbild weiß ebenso darum, dass Menschen in Bewegung und im Werden sind, solange sie leben. Sie sind in jedem Alter berufen, seelisch-geistig oder handelnd tätig zu sein und sich in die Gemeinschaft einzubringen. Als Geschöpfe auch im Alter neu werden, Neues anfangen zu können, ohne dabei Schwächen und Verletzlichkeiten zu leugnen: Aus dieser Perspektive entfaltet der vorliegende Text Herausforderungen und Chancen der alternden Gesellschaft.

Dabei konzentriert er sich auf vier Aspekte menschlichen Lebens, die für ein heute angemessenes Verständnis des Alterns zentral sind:

Den ersten Aspekt bilden die bis in das hohe Alter – ja bis zum Lebensende – gegebenen schöpferischen Potenziale, das heißt die prinzipiell gegebene Fähigkeit, Neues zu schaff en. Dabei ist hier nicht nur an Neues in der sozialen, kulturellen und dinglichen Umwelt gedacht, sondern auch an Neues in der Person selbst. Dieser erste Aspekt thematisiert das schöpferische Potenzial im Menschen, wobei dieses Potenzial als ein Geschenk Gottes zu verstehen ist, mit dem der einzelne Mensch, aber auch die Gesellschaft verantwortlich umgehen muss.

Betrachtung der Zeit

Mein sind die Jahre nicht
die mir die Zeit genommen
Mein sind die Jahre nicht
die etwa möchten kommen.
Der Augenblick ist mein
und nehm’ ich den in Acht
So ist der meinder Jahr und Ewigkeit gemacht.

(Andreas Gryphius)

Den zweiten Aspekt bildet die Verletzlichkeit des Menschen, die zwar in allen Lebensphasen gegeben ist, jedoch im Alter deutlich zunimmt – wobei hier vor allem die Verletzlichkeit im Sinne abnehmender körperlicher und geistiger Kräfte gemeint ist. Die Schaffung von Versorgungsstrukturen, die darauf zielen, den Menschen – wie auch dessen Angehörige – bei der inneren und äußeren Bewältigung dieser Verletzlichkeit zu unterstützen, sowie die von tiefem Respekt vor der Würde des Menschen bestimmte öffentliche Thematisierung der Verletzlichkeit als einer natürlichen Seite menschlichen Lebens sind zwei gesellschaftliche Aufgaben, für die der vorliegende Text sensibilisieren möchte.

Der dritte Aspekt thematisiert kritisch das chronologische Alter als den dominanten oder einzigen Orientierungspunkt bei Entscheidungen, die die Übertragung oder das Aufgeben von Rollen und sozialen Verpflichtungen betreffen. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse biologisch-medizinischer und psychologischer Forschung erscheint es nicht mehr als angemessen, dem Lebensalter diese Bedeutung beizumessen. Es wurde bereits betont, wie verschiedenartig die Kompetenzen älterer Menschen sind, und vor dem Hintergrund dieser Verschiedenartigkeit (Heterogenität) sind starre Altersgrenzen kritisch zu hinterfragen.

Der vierte Aspekt schließlich zentriert sich um die Frage, welche Bedeutung ältere Menschen für die Kirche besitzen. Hier ist besonderes Gewicht auf die Tatsache zu legen, dass Alter keinesfalls nur mit Verletzlichkeit und Einschränkungen assoziiert wird, sondern auch mit Kompetenz und dem Potenzial zum Werden. Kompetenzen und schöpferische Potenziale des Alters sind auch für die Kirche von größter Bedeutung – tragen sie doch dazu bei, dass ältere Menschen Verantwortung innerhalb der Kirche wahrnehmen können, was sie ja heute schon in vielfacher Weise tun.

Mit diesen vier Aspekten möchte die vorliegende Schrift Anregungen zur kritischen Reflexion von Altersbildern, zu Neuorientierungen in der kirchlichen Altenarbeit und nicht zuletzt auch in der Gesellschaft geben – wo- Altersgrenzen Bedeutung Älterer für die Kirche bei sie zum einen die in der Kirche hauptamtlich oder ehrenamtlich verantwortlichen Personen ansprechen will, zum anderen alle Gemeindeglieder der verschiedensten Lebensalter, und dies heißt: auch die älteren Menschen selbst.

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