Im Alter neu werden können. Evangelische Perspektiven für Individuum, Gesellschaft und Kirche

Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, 2010, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05912-9

I. Veränderte Lebensbedingungen und soziale Ungleichheit im Alter

Die Lebensbedingungen älterer Menschen haben sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verbessert. Wenn Menschen heute länger leben, bedeutet dies auch, dass sie mehr Jahre gesund und tatkräftig verbringen. Durch kulturelle und gesellschaftliche Anstrengungen, zu denen insbesondere Fortschritte in der Medizin und der industriellen Technologie zu zählen sind, ist es gelungen, die Auswirkungen der biologisch-physiologischen Einbußen zumindest in den Industriestaaten weitgehend zu kompensieren. Die heute 70-Jährigen sind in ihrem allgemeinen Funktionsstatus den vor 30 Jahren lebenden 65-Jährigen vergleichbar. Die Lebensphase »Alter« erstreckt sich heute für viele über einen Zeitraum von zwei oder drei Jahrzehnten. Die Heterogenität dieser Lebensphase wird durch umgangssprachliche Begriff e wie »Senioren«, »junge Alte« oder »Hochaltrige« ebenso wenig wiedergegeben wie durch Gruppenbildungen, die sich am kalendarischen Alter orientieren (50plus; 60 –70- Jährige etc.). Derartige Differenzierungen übersehen, dass die Unterschiede innerhalb dieser Altersgruppen ebenso groß sind wie jene, die zwischen diesen bestehen. Das kalendarische Alter erlaubt heute kaum noch Rückschlüsse auf die Lebenssituation eines Menschen. Diese Aussage gilt für die körperliche ebenso wie für die geistige Leistungsfähigkeit, für materielle ebenso wie für immaterielle Ressourcen.

Eine Differenzierung der Lebensphase Alter ist daher allenfalls nach qualitativen Gesichtspunkten möglich. Hier sind drei im Einzelfall jeweils in sehr unterschiedlichen Lebensaltern beginnende Altersphasen zu nennen, die sich in Bezug auf die vorhandenen Ressourcen für die selbstständige Lebensführung unterscheiden: In der ersten Phase verfügen ältere Menschen über viele freie Ressourcen für eine aktive und selbstorganisierte Lebensgestaltung. Sie können sich deshalb auch gemeindlich, sozial oder gesellschaftlich engagieren. In der zweiten Phase reichen die Ressourcen für die eigene alltägliche Lebensgestaltung. In der dritten Phase sind die Betroffenen verstärkt auf Unterstützung angewiesen. Obwohl sich nur etwa zwölf bis 15 Prozent der älteren Menschen in dieser Phase der Hilfsbedürftigkeit oder Pflegebedürftigkeit befinden, stehen sie oft im Zentrum der öffentlichen Diskussion und prägen bei vielen noch immer das Bild vom »alten« Menschen.

Zu dieser einseitigen Sicht auf das Alter trägt nicht zuletzt das im hohen Alter zunehmende Risiko der Demenzerkrankung bei. In der Tat findet sich ein enger statistischer Zusammenhang zwischen dem Lebensalter und der Häufigkeit einer Demenz: In der Altersgruppe der 80- Jährigen und Älteren ist eine Demenz bei ca. einem Siebtel der Bevölkerung erkennbar, in der Altersgruppe der 90-Jährigen und Älteren bereits bei mehr als einem Drittel. Hier ist der Hinweis wichtig, dass der demografische Wandel am intensivsten in der Altersgruppe der 80-Jährigen und Älteren verläuft: Sind heute etwas mehr als vier Prozent der Bevölkerung 80 Jahre und älter, so werden dies ab 2045 bis 2050 schätzungsweise 14 bis 15 Prozent sein. Mit anderen Worten: Den größten demografischen Wandel erwarten wir für ein Lebensalter, in dem Verletzlichkeit, Endlichkeit und Vergänglichkeit des Menschen am deutlichsten in den Vordergrund treten.

Für das Verständnis der vielfältigen Lebensformen älterer Menschen ist es kontraproduktiv, nur einzelne im Alter anzutreffende Lebenssituationen zu betonen. Statt polarisierter Altersbilder ist eine differenzierte Betrachtung der Lebensbedingungen nötig. Altern bedeutet beides, Wachstum und Verlust, es birgt Entwicklungsmöglichkeiten und Entwicklungsgrenzen. Die Anpassungsfähigkeit des Organismus geht im Falle auftretender Erkrankungen zurück, die Trainierbarkeit körperlicher und kognitiver Funktionen ist nicht mehr so stark ausgeprägt wie in früheren Lebensaltern. Körperliche Einschränkungen und gesundheitliche Probleme, die auf einseitige Arbeitsbelastungen und die Gesundheit beeinträchtigende Arbeitsbedingungen und Lebensstile zurückgehen, werden nun besonders deutlich. Aber das heißt nicht, dass sich im Alter keine Entwicklungspotenziale fänden: Wissen und Überblick in Bezug auf einzelne Lebens- und Handlungsbereiche sowie emotionale Widerstandsfähigkeit, die sich in der Fähigkeit ausdrückt, auch in Grenzsituationen eine tragfähige Lebens- und Zukunftsperspektive aufrechtzuerhalten, sind solche Entwicklungspotenziale. Die im Alter bestehenden Möglichkeiten, ein an eigenen Lebensentwürfen, Ziel- und Wertvorstellungen orientiertes Leben zu führen, hängen ebenso wie die Fähigkeit und Bereitschaft, vorhandene Potenziale oder Talente für sich selbst und andere zu nutzen, von den in früheren Lebensabschnitten vorgefundenen Entwicklungsbedingungen und gewonnenen Erfahrungen ab.

Im Vergleich zu früheren Lebensphasen ist das Alter eher durch höhere Heterogenität als durch zunehmende Homogenität gekennzeichnet. Soziale Ungleichheiten reduzieren sich nicht mit dem Alter. Vielmehr lassen sich die im Alter verfügbaren materiellen und sozialen Ressourcen vielfach als Ergebnis einer Häufung von Vor- oder Nachteilen im gesamten Lebenslauf beschreiben.

Geschlechtsspezifische Unterschiede sind dabei ausdrücklich zu berücksichtigen. Frauen und Männer altern aufgrund unterschiedlicher Lebenslagen und sozialer Rollen anders. Viele Herausforderungen im Alter sind gegenwärtig speziell Herausforderungen alter und sehr alter Frauen. Die heute älteren Frauen hatten deutlich schlechtere Chancen, einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen, was sich im Alter unter anderem in ungleich verteilten Gesundheitschancen und gesellschaftlichen Teilhabechancen äußern kann. Auch die Einkommenssituation älterer Frauen ist im Durchschnitt deutlich schlechter als jene älterer Männer. Dafür sind vor allem die fehlende, mehrfach unterbrochene oder abgebrochene Erwerbstätigkeit aufgrund familiärer Sorgeaufgaben sowie die unzureichende Anerkennung von Erziehungszeiten verantwortlich zu machen. Auf der anderen Seite fällt es älteren Männern oftmals schwerer, die mit dem Ruhestand einhergehenden Veränderungen in den sozialen Rollen und Funktionen zu bewältigen. Sie beklagen nicht selten nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben einen Verlust der beruflichen Identität und den Rückgang sozialer Kontakte. Zudem ist zu berücksichtigen: Die Suizidrate älterer Männer liegt deutlich über jener älterer Frauen: In der Gruppe der 65- bis 69- jährigen Männer kommen auf 100.000 Personen 26, in der Gruppe der 65- bis 69-jährigen Frauen zehn Suizide. In der Gruppe der 75- bis 79-jährigen Männer steigt diese Zahl auf 45, in der Gruppe der 75- bis 79-jährigen Frauen auf 14 Suizide. Unter den 85- bis 89-jährigen Männern fallen auf 100.000 Menschen 82, unter den Frauen dieses Alters auf 100.000 Menschen 24 Suizide.

Aus diesen Aussagen ergibt sich die Notwendigkeit einer stärkeren Beachtung von geschlechtsspezifischen Unterschieden im Alter, um die Teilhabechancen älterer Menschen effektiv zu fördern.

Besondere Bedeutung für die Lebenschancen im Alter kommt der Bildung zu: Ältere Menschen mit höherem Bildungsniveau weisen unabhängig von weiteren objektiven Lebenslagemerkmalen ein geringeres Erkrankungs- und Sterblichkeitsrisiko auf. Ein niedrigeres Bildungsniveau geht dagegen im Durchschnitt mit schwereren körperlichen Erkrankungen und Behinderungen und mit stärker ausgeprägten psychischen und sozialen Belastungen infolge chronischer Krankheit einher. Ein niedriger Bildungsstand ist als zentraler Vorhersagefaktor für den Schweregrad bestimmter chronischer Erkrankungen zu werten – zu nennen sind hier vor allem Herz-Kreislauf- Erkrankungen, Schlaganfall, bestimmte Formen der Demenz, Parkinson und Arthrosen.

Bildung trägt zur Ausbildung gesundheitsförderlicher Lebensstile bei. Die Überzeugung, die eigene Entwicklung aktiv gestalten zu können, motiviert zu einem gesundheitsförderlichen Lebensstil und erklärt deshalb einen erheblichen Teil der positiven Auswirkungen von Bildung auf die Gesundheit. Menschen mit höherem Bildungsniveau verfügen zudem im Durchschnitt über ein höheres Ausmaß an sozialer Unterstützung, wodurch das gesundheitliche Befinden positiv beeinflusst wird. Zudem trägt ein hohes Bildungsniveau von Eltern dazu bei, dass Kinder einen gesundheitsförderlichen Lebensstil entwickeln.

Für die Zukunft ist mit wachsenden Bildungsressourcen im Alter zu rechnen. Während unter den heute über 60- jährigen Menschen nur knapp zehn Prozent die Schule mit Abitur oder Fachhochschulreife abgeschlossen haben, liegt der entsprechende Anteil in der Altersgruppe der heute 50–59-Jährigen bereits bei fast 18 Prozent. Von den über 60-Jährigen haben 32 Prozent keine berufliche Ausbildung abgeschlossen, in der Altersgruppe der heute 50–59-Jährigen sind dies nur noch 16,5 Prozent.

Die gegenwärtige Rentnergeneration ist im Durchschnitt materiell besser versorgt als alle Jahrgänge zuvor. Die Wirtschaft hat das Geld des »Silbermarktes« längst entdeckt. Die materiellen Ressourcen der Älteren kommen auch den jüngeren Generationen in ihrer Familie zugute. Das Gemeinwesen profitiert z. B. durch Schenkungen an gemeinnützige Stiftungen von den materiellen Ressourcen der Älteren.

Wenig beachtet wird bisher die zukünftige Gefährdung der Lebenschancen Älterer durch Altersarmut. Die Älteren bilden zurzeit noch jene Bevölkerungsgruppe mit dem geringsten Armutsrisiko: 2,3 Prozent der über 60-Jährigen beziehen Grundsicherung; geht man von einer »verschämten Armut« in Höhe der offiziell registrierten Armutsquote aus, so leben ungefähr fünf Prozent der älteren Bevölkerung in Armut. Zum Vergleich: Etwa 13 Prozent der Gesamtbevölkerung sind von Armut bedroht oder leben in Armut. Das höchste Armutsrisiko tragen Arbeitslose (43 Prozent) und Alleinerziehende (24 Prozent). Doch bereits jetzt ist absehbar, dass sich die materielle Lage alter Menschen erheblich verschlechtern wird. Nicht nur, dass die vergangenen Rentenreformen die Ansprüche künftiger Rentner und Rentnerinnen reduziert haben. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse – niedrig entlohnt und oft ungesichert – haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Ebenso beeinträchtigen unterbrochene und abgebrochene Erwerbsbiografien zunehmend die Möglichkeiten auch von Männern, einen auskömmlichen Rentenanspruch zu erwerben. Von Altersarmut bedroht sind zukünftig vor allem die heutigen Geringverdienerinnen und Geringverdiener, die über lange Zeiträume arbeitslos gewesenen Menschen sowie viele Selbstständige. Wer im Alter arm ist, hat so gut wie keine Möglichkeiten, diese Situation aus eigener Kraft zu verändern. In eine schwierige materielle Lage können alte Menschen auch schon dann geraten, wenn die körperlichen Kräfte zur selbstständigen Lebensführung zwar nicht mehr ausreichen, dem betreffenden Menschen aber Leistungen der Pflegeversicherung noch nicht zustehen. Für den Bereich zwischen Selbsthilfe und Pflege gibt es bislang keine Strukturen.

Da Armut – bei Jung wie bei Alt – die Möglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe behindert, die Gesundheit beeinträchtigt und das Leben verkürzt, zeichnet sich hier eine Tendenz ab, die dem bisher zu verzeichnenden Zuwachs an Potenzialen im Alter geradezu entgegenläuft.

Die sozialen Netzwerke der meisten älteren Menschen sind heute überwiegend durch Kontakte zu Familienangehörigen mehrerer Generationen geprägt. Die Beziehung zwischen den Generationen ist innerhalb der Familie von gegenseitiger Wertschätzung, regem Kontakt und einem intensiven Austausch an Unterstützung bestimmt. Diese praktische Unterstützung beruht in sehr hohem Maß auf Gegenseitigkeit, und zwar bis ins hohe Alter. Mit zunehmendem Alter sind Menschen zwar weniger in der Lage, praktische Unterstützung zu leisten, dieser Rückgang wird aber durch andere Formen der Unterstützung ausgeglichen.

Zukünftige Generationen älterer Menschen werden allerdings nicht mehr in gleichem Umfange von innerfamiliären Unterstützungsleistungen profitieren können. Heute werden fast 70 Prozent der Menschen mit Hilfe- oder Pflegebedarf zu Hause durch Familienangehörige versorgt. Mit dem deutlichen Rückgang in der durchschnittlichen Kinderzahl und der Angleichung der Erwerbsbeteiligung von Frauen und Männern nehmen die familiären Unterstützungspotenziale aber ab. Auch wenn es gelingen sollte, Männer stärker als bisher in die familiäre Sorgearbeit einzubeziehen und die Arbeitswelt familienfreundlicher zu gestalten, wird ein Teil jener Unterstützung, der heute vor allem von Töchtern und Schwiegertöchtern erbracht wird, zukünftig durch andere private Netzwerke oder professionelle Leistungen abgedeckt werden müssen. Diese Entwicklung birgt die Gefahr, dass sich Ungleichheiten in finanziellen Ressourcen zukünftig in deutlich stärkerem Maße als heute auf die Versorgungssituation und die Integration im Alter auswirken. Es kommt hinzu, dass die für ein erfolgreiches Erwerbsleben heute oft unumgängliche Mobilität Nachteile für ältere Menschen vor allem in strukturschwachen Regionen mit sich bringt. Nimmt man die zahlreichen Hinweise auf die Gegenseitigkeit von Hilfeleistungen zwischen den Generationen ernst, dann bedeutet dies aber auch, dass die abnehmende Kinderzahl mit einem zunehmenden Engagement älterer Menschen in außerfamiliären Beziehungen einhergehen kann. Die frei werdenden Unterstützungspotenziale älterer Menschen könnten vermehrt zum Nutzen der gesamten Gesellschaft eingesetzt werden. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass es gelingt, ältere Menschen als mitverantwortliche Bürgerinnen und Bürger anzusprechen, die den öffentlichen Raum mit ihren Erfahrungen und sonstigen Ressourcen aktiv mitgestalten.

Nächstes Kapitel