Die Taufe

Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis der Taufe in der evangelischen Kirche. Vorgelegt vom Rat der EKD, 2008, hg. vom Kirchenamt der EKD. ISBN 978-3-579-05904-4

2. Die Fragestellung

Differenzierungen und Pluralisierungen kennzeichnen das Verständnis und die Praxis der Taufe innerhalb der evangelischen Kirche und darüber hinaus; dazu kommen Versuche der Konsensbildung und Neuaufbrüche:

In der traditionellen evangelischen Theologie wird die Taufe entweder vornehmlich in lutherischer Tradition als Handeln Gottes verstanden, durch das dem Getauften das Heil zugeeignet und er in die Kirche als Leib Christi eingefügt wird, oder in reformierter Tradition Calvins vorrangig als von Gott gestiftetes Zeichen, das vor allem zur Vergewisserung des heilbringenden Glaubens gestiftet ist, oder in reformierter Tradition Zwinglis als Bekenntnishandlung des Täuflings zusammen mit der taufenden Gemeinde und als grundlegender Gehorsamsakt und Gebet um den Heiligen Geist (Taufe und Kirchenaustritt, 8). Die zuletzt genannte Tradition wurde von einigen Freikirchen aufgegriffen. Im zuerst genannten Fall erscheint die Taufe von Säuglingen besonders sachgemäß, da in ihr der reine Geschenkcharakter des zugeeigneten Heils deutlich wird. In der zweiten Variante kann mit einer gewissen Vehemenz für die Erwachsenentaufe argumentiert werden, da der Erwachsenenstatus Voraussetzung für eine glaubende Anerkenntnis der Tat Gottes beziehungsweise für ein selbst verantwortetes Bekenntnis ist. Aufgrund dieser Differenz bestimmte im zwanzigsten Jahrhundert auf der einen Seite die Debatte über die Kindertaufe lange Zeit die tauftheologische Diskussion. Auf der anderen Seite wurde in den letzten Jahrzehnten versucht, auf der Basis der Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie) von 1973 gemeinsame Grundlinien eines evangelischen Taufverständnisses zu entwickeln, die Entgegensetzung von Kinder- und Erwachsenentaufe zu überwinden und ein Verständnis der Taufe als eines bloßen Bekenntnisaktes auszuschließen. In der Konkordie ist als gemeinsames Verständnis des Evangeliums festgehalten, dass die Taufe "im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes mit Wasser vollzogen" wird. "In ihr nimmt Jesus Christus den der Sünde und dem Sterben verfallenen Menschen unwiderruflich in seine Heilsgemeinschaft auf, damit er eine neue Kreatur sei. Er beruft ihn in der Kraft des Heiligen Geistes in seine Gemeinde und zu einem Leben aus Glauben, zur täglichen Umkehr und Nachfolge" (II.2.a. = 14).

In der gegenwärtigen Taufpraxis evangelischer Kirchen zeigt sich deren hohe Akzeptanz und Wertschätzung: Es ist im Bewusstsein der Kirchenmitglieder fest verankert, dass getauft zu sein das zentrale Merkmal eines evangelischen Christenmenschen wie eines jeden Christenmenschen ist. Die Bereitschaft evangelischer Eltern, die eigenen Kinder taufen zu lassen, war ohnehin immer stark ausgeprägt und ist in den letzten Jahrzehnten noch einmal gewachsen (in Westdeutschland antworteten 1972 82 % der evangelischen Kirchenmitglieder, dass sie sich für die Taufe ihres Kindes entscheiden würden, 1982 88 % und 2002 95 %; in Ostdeutschland 1982 88 % und 2002 87 %). Umfragen zeigen zudem, dass die Erfahrungen mit der gottesdienstlichen Taufpraxis ganz überwiegend positiv bewertet werden.

Dass die Zahl der Taufen innerhalb der evangelischen Kirche in den letzten Jahren dennoch deutlich zurückgegangen ist (zwischen 1999 und 2004 um 29,5 %), ist in erster Linie durch die demografische Entwicklung (insbesondere den Geburtenrückgang von 27,2 %) begründet. Allerdings muss nach Konfessionen, Milieus und Lebensformen unterschieden werden: Kinder aus konfessionsverbindenden Ehen werden überproportional (und mit steigender Tendenz) in der evangelischen Kirche getauft. Vor dem Hintergrund einer Familiengeschichte, die durch unterschiedliche konfessionelle Prägungen charakterisiert ist, erleben diese Menschen die evangelische Kirche offensichtlich als ökumenisch offener und einladender. Mit der starken Orientierung an der Familie hängt es aber auch zusammen, dass die Taufquote von Kindern nichtverheirateter evangelischer Mütter lediglich bei circa fünfundzwanzig Prozent liegt. Hier zeigt sich, dass mit dem kirchlichen Taufakt das öffentliche Sichtbarmachen familiärer Verhältnisse gegenüber anderen Gemeindegliedern, gegenüber dem weiteren Verwandten- und Freundeskreis, aber auch gegenüber sich selbst verbunden ist; deshalb wird mit der Taufe bis zum heutigen Tag das Ideal einer "vollständigen" und "intakten" Familie verknüpft.

Die erwähnte theologische Debatte über die Angemessenheit der Kindertaufe im zwanzigsten Jahrhundert gewinnt angesichts der Entwicklung der Erwachsenentaufen neue Aktualität; sie bilden in den ostdeutschen evangelischen Landeskirchen einen stabilen Anteil der Gesamtzahl von Taufen, in den westdeutschen Landeskirchen einen wachsenden, aber weiterhin vergleichsweise kleinen Anteil (2001 9,2 % in Westdeutschland, 19,3 % in Ostdeutschland; 2003 8,9 % in Westdeutschland, 18,9 % in Ostdeutschland). Freilich wird die Erwachsenentaufe heute in vielen Gemeinden längst nicht mehr als Alternative zur Kindertaufe wahrgenommen, sondern als eine eigenständige Form, die sich aus der individuellen Lebens- und Glaubensgeschichte begründet. Deutlich wächst insbesondere der Anteil von Taufen im Umfeld der Konfirmation, allerdings mit großen regionalen Differenzen (2001: 6,2 % der Konfirmanden im Durchschnitt der EKD, 2003: 7,4 %, 16 % bzw. 17,8 % in Bremen, aber nur 4,78 % bzw. 6,7 % in der Kirchenprovinz Sachsen). Schließlich entfernt sich der gewöhnliche Tauftermin von Kindern in den letzten fünfzig Jahren zunehmend vom Ereignis der Geburt, entweder in die zweite Hälfte des ersten Lebensjahres oder weiter in das Kindesalter hinein, so dass aus der klassischen Säuglingstaufe zunehmend eine Kindertaufe, und zwar teilweise bereits im erinnerungsfähigen Alter, wird.

Eine Analyse des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD hat allerdings auch deutliche Probleme der Taufpraxis erkennen lassen: Obwohl in den letzten Jahrzehnten die Taufe in vielen Landeskirchen vornehmlich im sonntäglichen Gemeindegottesdienst gefeiert wird und je nach Bedarf im festen Turnus einzelne sonntägliche Hauptgottesdienste als Taufgottesdienste ausgewiesen werden (häufig ein bestimmter Sonntag im Monat), gelingt die Integration des normalen sonntäglichen Gottesdienstgeschehens und des familiär geprägten Taufvorgangs vielfach nur unzureichend. Obwohl im Zuge dieser Entwicklung der Zusammenhang von Taufe und Gemeinde gefestigt worden ist und die Taufe gemeindetheologisch an Bedeutung gewonnen hat, ist die Taufe doch vielfach ein Familienereignis geblieben, das lediglich eine Art "Einschub" in den normalen Sonntagsgottesdienst bildet.

Das Amt der Taufpaten war für die traditionelle Tauftheologie und Taufpraxis konstitutiv; es wird weiterhin mit hohem persönlichen Engagement wahrgenommen. Manche Paten ­ wie auch manche Eltern von Täuflingen ­ fühlen sich bei der Aufgabe, Verantwortung für die religiöse Erziehung und Vermittlung des Glaubens zu übernehmen, allerdings überfordert. Schon 1907 wurde konstatiert:

"Dass das Pateninstitut heute so gut wie ganz zu einer leeren Form geworden ist, leugnet niemand" (Drews, Art. Taufe III, 450). Da mitunter Pfarrerinnen und Pfarrer Mühe haben, in den Taufgesprächen und bei der gottesdienstlichen Feier theologische Inhalte zu vermitteln, verschärft sich das Problem der Vermittlung des Glaubens. Zugespitzt könnte man formulieren, dass es dann zu einer Art von "stillschweigendem Vertrag der Pastorinnen und Pastoren, die bei der Taufe nichts über den rituellen Vollzug hinaus Bedeutendes vermitteln wollen", mit den Taufgemeinden kommt, die dies auch gar nicht erwarten (Tauf-Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts, 10). Außerdem führt der allgemeine Übergang von einer Erinnerungs- zu einer Erlebniskultur dazu, dass Taufgottesdienste stark erlebt, aber nur schwach erinnert werden und theologische Grundaussagen samt ihren rituellen Ausdrucksgestalten nur sehr selten Beachtung finden. Entsprechend schwer fällt es vielen Gemeindegliedern, die Bedeutung der Taufe ­ und damit die Bedeutung ihrer eigenen Taufe ­ zu artikulieren. Bei vielen Gemeindegliedern konzentriert sich das Verständnis der Taufe auf den Gedanken einer "Spezialsegnung" für Mutter und Kind beziehungsweise Kind und Familie.

Die zentrale Herausforderung gegenwärtiger Taufpraxis ist also die bislang häufig fehlende und nur in einzelnen Gemeinden wirklich schon befriedigende katechetische, d.h. unterweisende Begleitung der Taufe, sowohl in der Vorbereitung als auch in der lebenslangen Vergegenwärtigung und Deutung der eigenen Taufe (also der Nachbereitung). Von jeher zielt die Taufe aber auch auf christliche Bildung in den Familien beziehungsweise durch Paten. Das Bewusstsein bei Eltern und Paten, dass mit der Taufe eine derartige Verpflichtung verbunden ist, ist vielfach noch vorhanden oder wird in den Kirchengemeinden geweckt. Gleichzeitig sind aber viele Eltern und Paten ratlos, wie sie eine solche familienreligiöse Aufgabe erfüllen können. Die frühkindliche religiöse Erziehung verschwindet bei gutem Willen aller Beteiligten oft im "Bermudadreieck gegenseitiger Delegation" zwischen Eltern, Paten und der Gemeinde. Hier zeigt sich deutlich, wie die Tradition abbricht, dass Prägung und Erziehung im Feld des Religiösen durch die Familie geschehen. Das Paten-Amt ist nach wie vor ein emotional hoch besetztes Ehrenamt, zumal es heute nicht mehr nur nach Maßgabe familiärer Konvention, sondern durch bewusste Wahl besetzt wird. Allerdings verschärft sich die seit jeher bestehende Spannung zwischen einem familiären und kirchlichen Amt, wenn von der Familie gewünschte Paten keine Kirchenmitglieder sind und dieses Amt daher nicht übernehmen können.

Auch die konfessionellen Differenzen sind im Kontext einer Theologie der Taufe zu bedenken, denn sie haben unmittelbar praktische Folgen. Die abendländischen Kirchen haben sich in einer theologischen Auseinandersetzung des fünften Jahrhunderts (im so genannten Donatisten-Streit) entschieden, keine Wiedertaufe derjenigen zu verlangen, die von häretischen Priestern getauft worden waren und anschließend in die Großkirche übertreten wollten. Diese Entscheidung gründet auf der Einsicht, dass die Taufe nicht durch den Spender wirkt, sondern der Spender nur Werkzeug Christi als des Herrn der Taufe ist. Daher erkennen die meisten christlichen Kirchen wechselseitig die Taufe an, so dass man von einem "sakramentalen Band der Einheit" (2. Vatikanisches Konzil, Dekret über den Ökumenismus 22) sprechen kann. Jüngster Beleg dafür ist eine gemeinsame Erklärung von elf Kirchen in Deutschland zur wechselseitigen Anerkennung der Taufe, die am 29. April 2007 feierlich unterzeichnet wurde. Dort heißt es: "Trotz Unterschieden im Verständnis von Kirche besteht zwischen uns ein Grundeinverständnis über die Taufe". Allerdings gibt es auch alte Probleme: So haben die Kirchen der Orthodoxie die antidonatistischen Entscheidungen der westlichen Kirchen nicht mitvollzogen. Sie betrachten nur die in der wahren, in der apostolischen Sukzession und Lehre stehenden Kirche gespendeten Sakramente als gültig und wirksam und lehren daher seit Langem, dass eigentlich in strikter Konsequenz (kat' akri-beían) getaufte Christen, die zur Orthodoxie übertreten wollen, die Taufe noch empfangen müssen, auch wenn sie sich in ihrer bisherigen Gemeinschaft dem entsprechenden Ritus schon unterzogen haben. Dennoch könne die Kirche davon absehen, da sie kraft der in der orthodoxen Kirche wirkenden Gnade den an sich leeren Vollzug nachträglich mit Wirkkraft aufzufüllen und ihn so zum Heilsmittel werden zu lassen vermöge; eine Entscheidung liegt im Ermessen der Bischöfe oder Synoden und richtet sich nach dem Gesichtspunkt des Nutzens für die Kirche und die Betroffenen (kat'oikonomían). Auf dieser Basis beruhen auch entsprechende Vereinbarungen zwischen dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel und der EKD.

Beschwerlich ist auch, dass die römisch-katholische Kirche keine evangelischen Paten zulässt, während katholische Christen bei einer in der evangelischen Kirche vollzogenen Taufe als Paten gewonnen werden können. Probleme stellen sich auch im Gespräch mit den baptistischen Kirchen. Viele dieser Kirchen unterscheiden die Wasser- von der Geisttaufe; die Wassertaufe ist die öffentliche Manifestation und die Versiegelung einer im Glauben gestifteten Zugehörigkeit zu Christus (Erfahrung der Wiedergeburt); entsprechend ist die Taufe nicht oder nicht in erster Linie ein Vollzug Gottes am Empfänger, sondern mindestens ebenso ein aktives Handeln des Empfängers in dem Sinne, dass sie Ausdruck und Zeichen seines Bekenntnisses zu Christus und seiner Zugehörigkeit zu ihm ist. Diesen Bekenntnisakt als Antwort auf die Erfahrung der Wiedergeburt können nach baptistischem Verständnis nur erwachsene Christen vollziehen. Die Gespräche zwischen der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa und den Baptisten haben zwar eine Annäherung ergeben, nicht aber eine Anerkennung der "Unmündigentaufe" durch die baptistischen Kirchen.

Eine solche Analyse des Verständnisses und der Praxis der Taufe macht deutlich, dass eine neue Gesamtschau für das Verständnis wie die Praxis der Taufe in der evangelischen Kirche benötigt wird, die möglichst auch für Fernstehende nachvollziehbar ist.

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