Weihnachtsinterview mit Bischöfin Fehrs
Amtierende Ratsvorsitzende im Interview
Berlin (epd). Die amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Kirsten Fehrs, blickt für die evangelische Kirche selbstkritisch auf die Umstände zurück, die zum Rücktritt von Annette Kurschus als Ratsvorsitzende und westfälische Präses geführt haben. Sie hoffe, dass kein bleibender Schaden entstanden sei. „Künftig müssen wir mit Verfahren, in denen es um sexualisierte Gewalt geht, deutlich schneller und transparenter umgehen“, sagte die Hamburger Bischöfin Fehrs dem Evangelischen Pressedienst (epd). Kurschus war vorgeworfen worden, mit einem Missbrauchsverdacht gegen einen Mann aus ihrem früheren Arbeitsumfeld nicht ausreichend transparent umgegangen zu sein.
epd: Ein weiteres Jahr voller Konflikte und Krisen neigt sich dem Ende entgegen. Bald feiern Christen Weihnachten. Wie weihnachtlich ist Ihnen zumute?
Kirsten Fehrs: Die Weihnachtsbotschaft von dem schutzlosen Krippenkind in Bethlehem ist mir gerade in diesem Jahr sehr nahe. Denn es sind die Kinder, die unter Kriegen und Gewalt am stärksten leiden, im Nahen Osten, in der Ukraine und andernorts. Wie geht es den Kindern, die jetzt versuchen, in den Kriegsgebieten zu überleben? Die Weihnachtsbotschaft macht deutlich: Gott ist mit denen, die Leid ertragen müssen. Das ist der Kern von Weihnachten: Fürchte Dich nicht und Friede auf Erden. Das ist die Grundbotschaft unseres christlichen Glaubens. Diesen Hoffnungstrotz braucht es gerade jetzt.
Was machen Sie, um Ihre Seele in Zeiten von Krisen zu schützen?
Rituale binden Ängste. Das kann das Anzünden einer Kerze sein, das kann das Lesen eines stärkenden Textes sein, ein Lied oder ein Gebet. Deshalb sind so viele Menschen bei den Friedensgebeten oder auch auf den Weihnachtsmärkten. Die Sehnsucht nach Hoffnung ist groß.
Im Nahen Osten erleben wir, dass Religionen instrumentalisiert werden, um Gewalt anzuheizen. Als Hamburger Bischöfin waren Sie im dortigen Interreligiösen Forum an einer Erklärung beteiligt, die den Angriff der terroristischen Hamas auf Israel und das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung gleichermaßen verurteilt und zum friedlichen Zusammenleben aufruft. Warum gelingt solch ein Bekenntnis von Juden, Muslimen und Christen zusammen mit weiteren Glaubensvertretern nicht bundesweit?
Das habe ich mich auch gefragt. Man muss dabei berücksichtigen, dass der Hamburger Erklärung sehr viele und sehr lange Gespräche zugrunde liegen. Das Geheimnis des interreligiösen Dialogs ist, dass man mit großer Geduld immer wieder anfangen muss. Und am Ende ist allen klar: Wer die Menschenrechte im Blick hat, kann zu gar keinem anderen Schluss kommen, als den Terror der Hamas zu verurteilen, ohne das Leid der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen auszublenden.
„Krisenmodus“ wurde kürzlich zum Wort des Jahres gekürt. In einen solchen ist auch die EKD durch einen Missbrauchsverdacht in Siegen geraten. Annette Kurschus, die dort vor mehr als 20 Jahren Pfarrerin war, trat vom Amt der Ratsvorsitzenden zurück. Hat diese Krise bleibenden Schaden angerichtet?
Bleibenden Schaden hoffe ich nicht. Aber wir sehen selbstkritisch, dass kommunikative Fehler passiert sind. Künftig müssen wir mit Verfahren, in denen es um sexualisierte Gewalt geht, deutlich schneller und transparenter umgehen. Das gilt auch für die mediale Öffentlichkeit. Was mir aber wichtig ist: Das Beteiligungsforum, in dem Betroffene und kirchlich Verantwortliche paritätisch das Thema bearbeiten, hat sich in dieser Krise als stabiles Arbeitsbündnis erwiesen.
Ende Januar sollen die Ergebnisse der sogenannten ForuM-Studie, die im Auftrag der EKD Ausmaß und Ursachen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche untersucht, veröffentlicht werden. Was erwarten Sie?
Wir werden noch einmal genauer zu fassen bekommen, wo speziell in evangelischen Strukturen Risikofaktoren für sexualisierte Gewalt sind. Nach meiner Einschätzung kann das etwa die fehlende Verantwortungszuordnung sein. Viele Betroffene haben beispielsweise in den 1980er Jahren nicht gewusst, an wen sie sich wenden sollen, weil es kein Beschwerdesystem gab. Und wenn sie sich an jemanden wendeten, wurde womöglich nicht richtig agiert.
Auch die katholische Kirche hatte eine groß angelegte Studie beauftragt, in der es um spezielle Risikofaktoren ging. Werden die Studien vergleichbar sein?
Nein. Die Studie zur evangelischen Kirche ist breiter angelegt. Sie umfasst auch die Diakonie sowie Bereiche wie Kitas und Kirchenmusik, was bei der katholischen Studie nicht der Fall war. Dort ging es im Wesentlichen um Priester. Die Forschenden von ForuM nehmen das gesamte, breite kirchliche Leben in den Blick. Die Studie besteht insgesamt aus einem Meta-Projekt und fünf inhaltlichen Teilstudien - einer quantitativen und vier qualitativen Studien.
Glauben Sie, dass die Studie, was allein die Zahlen angeht, einen ähnlichen Schock auslöst wie die MHG-Studie in der katholischen Kirche im Jahr 2018?
Die bislang von uns veröffentlichte Zahl liegt bei 858 Fällen. Das sind Menschen, die sich bei den zuständigen Stellen der Landeskirchen gemeldet und Anerkennungsleistungen erhalten haben. Zwei Drittel der Fälle betrafen den Bereich der Diakonie. Wir wissen aber selbst, dass dieses nur ein Teil der Fälle ist und dass die Gesamtzahl deutlich höher liegt. ForuM wird hier erstmals systematisch und unabhängig das Hellfeld zusammenführen. Dies ist ein ganz wichtiger Schritt, auch wenn ich mir sehr wohl bewusst bin, wie groß das Dunkelfeld von nie gemeldeten oder berichteten Fällen ist.
Was wird aus der Studie folgen?
Wir rechnen mit einem komplexen Bericht von mehreren hundert bis tausend Seiten. Es wird Zeit brauchen, die Ergebnisse im Detail auszuwerten und Schlussfolgerungen zu ziehen. Und das bedeutet auch, dass es keinen sofortigen Zehn-Punkte-Plan geben wird. Vielmehr wird in der auf die Veröffentlichung folgenden Diskussion das Beteiligungsforum der EKD die zentrale Rolle spielen. Hier werden wir mit den Vertreterinnen und Vertretern der Betroffenen die Konsequenzen beraten.
Haben alle Führungspersonen inzwischen verstanden, welche Bedeutung das Thema für die Glaubwürdigkeit der evangelischen Kirche hat?
Ja, die politische Willensbildung ist jedenfalls unter allen leitenden Geistlichen eindeutig. Aber es kommt ja darauf an, dass wirklich jede und jeder in unserer Kirche weiß, was es genau heißt, im konkreten Fall und vor Ort betroffenen- und traumasensibel zu handeln. Daran arbeiten wir. Vielfach wird von Betroffenen gesagt, dass sie durch die Behandlung mit kirchlichen Stellen erneut traumatisiert würden. Das darf nicht sein. Ich rechne auch für diesen Bereich mit Ergebnissen der ForuM-Studie.
Rechnen Sie auch damit, dass weitere Führungspersonen in der Kirche nach der Studie persönlich Verantwortung übernehmen, vielleicht auch zurücktreten müssen?
Das kann ich nicht sagen. Wir wissen nicht, ob die Studie konkret Personen benennen wird. Dies liegt in der unabhängigen Entscheidung der Wissenschaftler. Für mich geht es bei ForuM darum, die systemischen Faktoren von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie identifizierbar und dadurch auch veränderbar zu machen. Wo Verantwortung im Umgang mit einzelnen Taten liegt, muss sie getragen werden. Aber das Wichtige an ForuM ist der systematische Blick auf das grundsätzliche Problem.
Lassen Sie uns noch einmal über die Rolle der Kirchen in der Gesellschaft sprechen: Wie politisch darf Kirche sein?
Kirche sollte sich klar positionieren, wenn Menschenrechte verletzt oder Schwächere in unserer Gesellschaft nicht genügend gesehen werden. Für mich ist entscheidend, dass wir den einzelnen Menschen im Blick behalten. Das können im Übrigen auch Menschen in der Politik sein, die in Dilemmata stecken.
Welche Dilemmata meinen Sie?
Gerade bei den großen Grundkonflikten gibt es oft keine schnellen und eindeutigen Lösungen: Kriege, Klimakatastrophe, soziale Fragen. In unserer Gesellschaft fehlen die Worte für die Ambivalenzen, sehr schnell geht es nur um ein „Dafür“ oder ein „Dagegen“. Aus der Seelsorge wissen wir, dass man Spannungen auch aushalten muss. Keine Krise lässt sich überstehen, indem man allein auf die schnelle Lösung guckt.
Wenn Sie mit Blick auf 2024 ein Ende von Krisen herbeisehnen, was wäre Ihr dringlichster Wunsch?
Friede auf Erden, ein Ende des Blutvergießens. Das steht an oberster Stelle. Beim Klimaschutz haben die Staaten der Welt sich doch gerade auf eine gemeinsame Linie verständigt und gezeigt, dass Diplomatie funktioniert - warum kann das bei Krieg und Frieden nicht auch gelingen?
epd-Gespräch: Corinna Buschow und Karsten Frerichs