Maße des Menschlichen

Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft, 2003, Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Zeitgemäße Bildung

Was eine der Maße des Menschlichen bewusste Bildung konkreter meint, ist an ausgewählten Schlüsselthemen zu verdeutlichen. Vorausgeschickt sei eine Bestimmung von Bildung selbst, die in nationalen wie europäischen bildungspolitischen Entwürfen fehlt oder blass bleibt. Das Ganze gründet inhaltlich in den Überzeugungen und Einsichten, die im vorausgehenden Kapitel als das für heute notwendige Bildungsverständnis der evangelischen Kirche umrissen und theologisch begründet worden sind.


4.1 Bildung umfasst Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein, Handeln und Sinn

Die Pädagogik der Gegenwart kennt viele Leitbegriffe. Alle haben eine wichtige Funktion und sind kurz zu beleuchten; keiner aber gibt zureichend zu erkennen, worauf es ankommt. Dieser Einwand kann auch den Bildungsbegriff treffen. Im Vergleich besitzt er jedoch die größte, verschiedene pädagogische Momente integrierende Kraft. Vor allem macht das Nachdenken über »Bildung« aufgrund seiner geschichtlichen Tiefendimensionen und bereits sprachlich auf die Frage nach dem »Bild« des Menschen aufmerksam. Im Zeichen des Bildungsbegriffs sind kritische Rückfragen an die Programmatik der Wissens- und Lerngesellschaft gestellt worden (Kap. 1). Er verlangte, auf menschliche Lebenslagen einzugehen, jeden Einzelnen ernst zu nehmen und den Blick auf anthropologische Voraussetzungsfragen zu lenken (Kap. 2). Er allein führt das europäische und darin eingeschlossen das christliche Erbe vor Augen (Kap. 3), verdankt er sich doch schon sprachlich einer Wortschöpfung des mittelalterlichen Theologen Meister Eckhart.
Die evangelische Kirche versteht Bildung als Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein, Haltungen (Einstellungen) und Handlungsfähigkeit im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens. Dies Verständnis kann zum einen verhindern, dass Wissen und Handeln auseinander klaffen und eine sogenannte »Werteerziehung« nur angeheftet wird, zum anderen bleibt bewusst, dass Unterricht mit jeder getroffenen Auswahl und didaktischen Zubereitung von Unterrichtsinhalten eine inhaltliche Deutung und Bewertung der Lebenswirklichkeit einschließt.

1. Wenn man sich diese immer schon einfließenden inhaltlichen Vorentscheidungen nicht vergegenwärtigt, täuscht die Rede von »Lernen« in den Formeln wie »lebenslanges Lernen«, »beschleunigter Lernzuwachs«, »Lerndruck und Lernzwang« vor, die Gegenstände und Zwecke des Lernens verstünden sich von selbst. Die genannten Formeln definieren aber Lernen unter lediglich formalen Merkmalen: Dauer (»lebenslang«), Quantität (»Lernzuwachs«), Tempo (»Beschleunigung«), äußere Ursachen (»Lerndruck«) sowie Steigerung (»Lernen des Lernens«). Ein Lernbetrieb, der sich nicht inhaltlich an substantiellen Gehalten ausweist, gibt vor, mehr zu sein, als er ist. Richtig bleibt: Lernen ist räumlich und zeitlich ubiquitär geworden; aber es kann höchst unterschiedlich positiv oder negativ verwendet werden. Selbst gesteuertes Lernen und verantwortliches Lehren verweisen wechselseitig aufeinander. In Lehrplänen und Lehrinhalten tritt zutage, was in einer Gesellschaft kulturell für relevant gehalten wird.

2. Seit langem bezeichnet »Erziehung« eine weitere pädagogische Grundaufgabe. Lernen ohne Erziehung ist unzulänglich, weil es Charakter und Persönlichkeit nicht einbezieht, was bei Bildung stets mitgedacht ist. Der Erziehungsbegriff macht eindrücklich klar, dass Lebenserfahrungen, Werte und hieraus erwachsenes Orientierungswissen über den Sinn des Lernens entscheiden. Mit einem – zu Recht abgelehnten Moralisieren – hat dies nichts zu tun. Sehr viel aber mit verantwortungsvollem Verhalten. Die evangelische Kirche hat stets »Bildung und Erziehung« als Aufgaben eines Ursprungs unterstrichen und Erziehung an nichts Geringeres als die Perspektive des Lebenssinns gebunden. Dies drückt die Doppelfrage der EKD-Synode von Bethel 1978 aus: »Leben und Erziehen – wozu?« Die gemeinte Verbindung kann nicht glücken, solange der Bildungsbegriff kognitiv verkürzt und die sogenannte »Werteerziehung« als eine Aufgabe neben Bildung behandelt wird. In das hier vertretene Verständnis von Bildung sind »Wertbewusstsein, Handeln und Sinn« konstitutiv in »Lernen, Wissen und Können« integriert. Die hauptsächlichen Erwartungen richten sich heute auf Wissen. Was ist rechtes Wissen?

3. Die gängigen Präzisierungen betreffen zunächst Wissensformen oder Wissenssparten. Eine nach Unterrichtsfächern gegliederte Schule will »Fachwissen« vermitteln; berufsbildende Schulen zielen auf »Berufswissen«. Sinnvoll ist die Unterscheidung von »Allgemeinwissen« und »Spezialwissen«. Komplexe Gesellschaften kommen einerseits nicht ohne Expertenwissen aus, andererseits geht ohne Allgemeinwissen der Überblick über Problemfelder verloren. Es ist nicht mehr sichtbar, wie das Partikulare miteinander zusammenhängt oder in Kontexte eingebettet ist. Die Altersforschung hat eindeutig ergeben, dass eine gute Allgemeinbildung die geistige Mobilität im Alter maßgeblich bestimmt (vgl. 2.3).
Zu Recht werden ferner Wissenserwerb, Wissenserarbeitung und Wissensspeicherung zum Thema. Wissen basiert auf Kenntnisnahme und Erkennen; zur Lesekompetenz etwa gehört das Erkennen der Hauptaussage eines Satzes oder Textes und das Verständnis der verschiedenen möglichen Kontexte (Motive, Anwendung u.a.). Wissen ist dann »erarbeitet«, wenn es in vorhandene Wissensstrukturen und -vorräte eingegliedert worden ist und selbständig angewendet werden kann; eine Fähigkeit, die – wie die Studie »PISA 2000« zeigt – unter deutschen Schülerinnen und Schülern nur unzureichend ausgeprägt ist (vgl. 1.5). Es wird vorwiegend vom Wissensbedarf her geplant. Damit rutscht weg, wie wichtig die individuelle Aneignung ist; hierzu müssen besonders Schwächere persönlich und oft geduldig angeleitet werden; individuelle Hilfe und Förderung brauchen Zeit, entgegen dem Trend zu Beschleunigung.
Die individuelle Erarbeitung von Wissen erfolgt nicht nur in intentional organisierten (schulischen) Formen des Lernens, sondern auch im »informellen Lernen«. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung spricht von einer »bisher vernachlässigten Grundform menschlichen Lernens für das lebenslange Lernen aller« (2001). Heute werden institutionalisierte Formen durch informelles Lernen nicht nur ergänzt, sondern durch den von Medien bestimmten Alltag zum Teil auch überlagert. Beiläufige Bildungsprozesse in Familie, Nachbarschaft, Kirchengemeinde, Jugendarbeit, Freizeit und Beruf sind neben formellem Lernen in Schule und Weiterbildung ein zweites Standbein lebenslangen Lernens. Die Lernkultur unserer Gesellschaft erkennt Früchte informellen Lernens wie zum Beispiel in der Ausübung von Ehrenämtern noch nicht hinreichend an. Meist sind Zertifikate wichtiger als im Alltag erworbene Lernkompetenzen. Beide Grundformen sind in ein Verhältnis zu bringen, das den Lerngegebenheiten heutiger Gesellschaften Rechnung trägt. Dies bedeutet einerseits, dass Institutionen formellen Lernens Kompetenzen aus informellem Lernen anerkennen, andererseits aber auch, dass informell erworbene Lernkompetenzen durch Zertifizierung etc. sichtbar gemacht werden. In der Verknüpfung von formellem und informellem Lernen zeigt sich ferner eine Möglichkeit gesellschaftlicher Partizipation und ein Ausdruck einer »bürgergesellschaftlichen Lernkultur«.
Wissen ist nie Selbstzweck. »Wissensgesellschaften« erhöhen den Bedarf nach Wissensbegründung. Wissen ist deshalb daraufhin zu prüfen, wozu es dem Einzelnen und dem Zusammenleben der Menschen dient. Was ist »lebensförderliches Wissen« (Ph. Melanchthon)? Johann Amos Comenius fragte zunächst nach der Beschaffenheit der gewussten Sachverhalte selbst (»was?«). Wichtiger war ihm die Frage nach der Herkunft des Wissens (»woher«?). Als bedeutsamste Frage benannte er jedoch die nach dem vernünftigen und notwendigen Gebrauch im Gegensatz zu unvernünftigen Investitionen und überflüssigem Luxus, der an tatsächlichen Bedürfnissen vorbeigeht und das Leiden unzähliger Menschen übersieht (»wozu?«). Diese dritte Prüffrage erschöpft sich nicht in den formalen methodischen Kompetenzen für »Anwendung«, so wie man eine Regel oder Formel anzuwenden gelernt haben sollte, das heißt »Verfügungswissen«. Es geht um eine inhaltlich wertende Fähigkeit, um »Bildungswissen« als »Orientierungswissen«. Derjenige Mensch ist gebildet, der umsichtig und verantwortungsbewusst ist und sich an dem orientiert, was hinsichtlich der »menschlichen Angelegenheiten (rerum humanarum, J. A. Comenius) alle gemeinsam angeht«.
In einer letzten Hinsicht reift durch ein gelebtes Leben »Lebenswissen« heran. Hierüber können Schulen und andere Bildungseinrichtungen einschließlich der Kirche nicht verfügen. Aber sie dürfen auch nicht verhindern, dass über das Leben im Ganzen in einer gleichsam nachdenklichen Gesellschaft und Schule reflektiert wird. Es ist unverständlich, warum in den europäischen und nationalen Planungsdokumenten und -vorgaben Bildungsziele, die sich auf Ethos, philosophische Besinnung und Religion beziehen, bis auf gelegentliche Hinweise zur Werteerziehung fehlen. Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates entbindet nicht das Gemeinwesen als Ganzes davon, den genannten Quellen der Besinnung Raum zu geben.

4. Während der Begriff der »Bildung« die oben erörterten Aufgaben in sich versammelt, sind andere hierfür weniger tauglich. Der Versuch, von »Schlüsselqualifikationen« her zu denken, ist nach einem vielversprechenden Start relativ rasch gescheitert. Schlüsselqualifikationen meinen Fähigkeiten, die wie Schlüssel Türen zu weiterführenden Kenntnissen öffnen und insbesondere nicht nur in einer Situation, sondern in möglichst mehreren anwendbar sind. Aber welche Schlüsselqualifikationen sind es? Man hat im deutschsprachigen Raum in den letzten zehn Jahren allein für die berufliche Bildung 654 Schlüsselqualifikationen in der Literatur genannt (F.E. Weinert). Offensichtlich gibt auch dieser Ausdruck von sich aus nicht zu erkennen, um welche Qualifikationen es sich vorrangig handeln sollte.
Der zurzeit wohl am häufigsten gebrauchte Terminus der Kompetenz bezeichnet das, was früher mit »Fertigkeiten« benannt worden ist. Während der Begriff der Qualifikation die Perspektive der Institution beziehungsweise des Marktes widerspiegelt, geht der Begriff der Kompetenz von der Perspektive des Subjektes aus. Dies ist wichtig. Der Ausdruck Kompetenz spitzt zu: Die gleichsam »schlummernden« Fähigkeiten sollen zu einer bestimmten Exzellenz in ihrer Beherrschung ausgeformt werden. Diese berechtigte Perspektive wird jedoch sinnlos, wenn der Begriff inflationär gebraucht und auf alles Mögliche angewendet wird (»Selbstkompetenz« etc.). Die Suche einer Lerngesellschaft nach »Qualifikationen« und »Kompetenzen« überschreitet ferner Grenzen, wenn (falls sie überhaupt in den Blick kommen) die Bedeutung von Moral und Religion pädagogisch auf »moralische« und »religiöse Kompetenzen« reduziert wird. Religion und Ethik sind keine direkt vermittelbaren »Fertigkeiten«, vielmehr stellen sie vor Fragen, bei denen es um das gesamte menschliche Dasein geht. Beherrschbares und grundsätzlich Nicht-Beherrschbares, Verfügbares und grundsätzlich Nicht-Verfügbares sind auseinander zu halten.
Richtig ist am Kompetenzbegriff das Moment, das immer noch treffend und prägnant im Wort »Können« gemeint ist – ein vergessener Leitbegriff, der darum bedeutsam ist, weil sonst »Wissen« und »Handeln« auseinander brechen. Was nützen politische Programme und moralische Parolen, die Solidarität und Gemeinsinn im Staat, Streitkultur und Verständigungsfähigkeit in der Bevölkerung sowie Beiträge zu weltweiter sozialer Gerechtigkeit und Frieden betreffen, wenn das Wissen davon, wie es sein sollte, wegen mangelnden Könnens nicht zum Handeln führt? Ohne Können produziert eine Wissens- und Lerngesellschaft Enttäuschungen, die das Handeln lähmen.
Bildung meint den Zusammenhang von Wissen, Können, Wertbewusstsein, Haltung, Handlungsfähigkeit und Sinn. Zurzeit wird meist addierend gedacht. An kognitive Leistungen werden der Erwerb sozialer Kompetenzen und die Erschließung von Wertbe-
wusstsein angehängt. Dies ist nicht sachgemäß und darum auch nicht zeitgemäß, wenn damit gemeint ist, was unsere Zeit braucht: ein integrierendes Verständnis von Bildung und Erziehung (siehe oben und die folgenden Abschnitte 4.2-4.8).


4.2 Bildung der Zukunft braucht Raum für das Unerwartete

Hauptzweck aller Bildung ist die Entwicklung der Person. Das Insistieren auf personale Bildung und auf den Maßen des Menschlichen wäre freilich realitätsfremd, wenn die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Notwendigkeiten außer Acht blieben. Umgekehrt griffe eine Bildungspolitik und -planung zu kurz, welche die Merkmale und Grenzen der conditio humana nicht ausdrücklich thematisierte und berücksichtigte. Diese allgemeine Sicht sei in weiteren Schritten konkretisiert, zunächst in der Hinsicht, die heute wohl die größte Plausibilität besitzt: Bildung für die Zukunft in Spannung zur Zukunft selbst.
Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten im gegenwärtigen Bildungsdiskurs der Gesellschaft, dass Bildung zukunftsfähig sein soll und sein muss. An einer solchen Erwartung ist richtig, dass Bildung und Erziehung immer mit der Vorsorge für die Zukunft zu tun haben. Zukünftige Leistungsanforderungen sind in Grenzen prognostizierbar, sofern technologische und ökonomische Entwicklungen sie bereits jetzt im Prinzip, nicht im Detail, definieren. Bisher positiv eingeschätzte Entwicklungen hinsichtlich Demokratisierung und Rechtskultur, Medizin und Gesundheitswesen, transnationale Verständigung und kulturelle Integration machen aller Voraussicht nach weitere Schritte erforderlich. Sie können auch der Bildung die Richtung weisen. Ebenso ist es schon jetzt möglich und dringend notwendig, aus der Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft zu lernen, wenn man die Kehrseiten bestimmter, klar erkennbarer Trends ernst nimmt, zum Beispiel ökologische Schäden, die sich zweifelsfrei abzeichnen.
Gleichzeitig gilt jedoch, dass Bildung nicht zureichend aus Zukunftserwartungen abgeleitet werden kann; denn streng genommen ist die Zukunft dem Menschen grundsätzlich verborgen. Über die Zukunft wird immer in der Gegenwart nachgedacht. Was als Zukunft erscheint, ist daher bloß eine Vorstellung von Zukunft. Wirkliche Zukunft bleibt unbekannt und unerforschbar.
Dass diese (zeit-)philosophische Einsicht keineswegs nur von akademischer Bedeutung ist, hat sich auch in der Zukunftsforschung längst herausgestellt. Vorhersagen der Zukunft leiden prinzipiell an dem Problem der Fortschreibung gegenwärtiger Gegebenheiten und eines entsprechenden Denkens. Die Zukunft soll an der Gegenwart abgelesen werden. Solche Vorhersagen verfehlen aber gerade das wirklich Neue, eben weil sie sich auf die Extrapolation bestehender Trends verlassen müssen.
Die Unterscheidung zwischen dem Neuen der Zukunft und der Fortschreibung gegenwärtiger Tendenzen besitzt auch eine theologische Entsprechung: In der Theologie wird streng unterschieden zwischen der Zukunft, die der Mensch selber macht, und dem wirklich Neuen einer zukünftigen Vollendung, die nur von Gott kommen kann. Obwohl diese Unterscheidung nicht direkt auf die genannten Ableitungsprobleme zukunftsfähiger Bildung abgebildet werden kann, erinnert sie doch zu Recht an die Grenzen allen menschlichen Zukunftswissens. Echte Zukunft ist etwas anderes als Zukunftsprojektionen und simulierte Zukunftsszenarien.
Aus anderen Gründen ist auch in der Pädagogik die Ableitung von Bildungs- und Erziehungsaufgaben aus Zukunftserwartungen längst problematisiert worden. Klassiker der Pädagogik wie Jean-Jacques Rousseau und Friedrich Schleiermacher verweisen auf das Eigenrecht der kindlichen Gegenwart. Die neuere Lehr-Lern-Forschung erkennt ebenfalls einen engen Zusammenhang zwischen gegenwärtigen Interessen und wirksamer, sogenannter intrinsischer Lernmotivation. Pädagogisch reicht der Zukunftsbezug nicht aus, um Bildungsprozesse zu gestalten oder zu legitimieren.
Fragt man, woher trotz solcher Einsichten der Wunsch nach einer Ableitung von Bildung aus der Zukunft rührt, so stößt man vor allem auf die Erfahrung einer gesteigerten gesellschaftlichen Dynamik. Weil die Gesellschaft sich immer rascher verändert, soll Bildung an der Zukunft Maß nehmen, um mit diesem Wandel Schritt zu halten. Auf den ersten Blick leuchtet dies ein – in einer Situation des sich rasch vollziehenden weitreichenden Wandels ist in vielerlei Hinsicht nicht davon auszugehen, dass das zukünftige Leben ähnliche Anforderungen stellt wie das heutige. Soll auf diese Situation mit einer Ableitung von Bildungsanforderungen aus Zukunftserwartungen reagiert werden, führt dies gleichwohl zu einer Paradoxie: Der Ruf nach einer zukunftsfähigen Bildung, so verständlich er ist, wird ausgerechnet in einer Situation der gesellschaftlichen Dynamik laut, in der diese Dynamik die Zukunft immer weniger vorhersehbar macht. Es ist nicht einzusehen, warum das Argument des raschen Wandels nur im Blick auf Bildungsanforderungen ernst genommen werden soll, nicht aber im Blick auf die Unsicherheit aller in der Gegenwart entwickelter Vorhersagen.
Über die beschriebene Unsicherheit führen Programme wie »Wissen schafft Zukunft« nicht wirklich hinaus. Entweder soll auch hier das gegenwärtig bereits vorhandene »Wissen« die »Zukunft« definieren – mit der Folge, dass Bildung eben nicht auf eine offene Zukunft vorbereiten kann – oder aber der Wissensbegriff bleibt leer, weil die ihn inhaltlich erst bestimmende Zukunft nicht vorweggenommen werden kann. Gewiss kann darauf verwiesen werden, dass beispielsweise das Erlernen von Fremdsprachen auch für die Zukunft wichtige Fertigkeiten einschließt, und es gibt auch weitere Fertigkeiten, die als Vorbereitung auf eine ungewisse  Zukunft sinnvoll sind. Eine solche gleichsam unspezifische Vorbereitung auf die Zukunft fällt aber mit Notwendigkeit weit bescheidener aus als jene Programme, die vorauszusetzen scheinen, zukünftige Anforderungen lägen längst fest, wären allgemein bekannt und bräuchten jetzt nur noch in entsprechende Lernprogramme implementiert zu werden. Dieser Eindruck entsteht, wenn man auf bereichsspezifische Entwicklungen blickt und von ihnen her Zukunft einengt. Demgegenüber ist festzuhalten: Zukunftsfähige Bildung braucht Raum für das Unerwartete, für das nicht Vorhersehbare und in diesem Sinne Neue. Entscheidend ist dabei nochmals, wie offen und kreativ die Heranwachsenden als Personen sind und die Schule sie für Unerwartetes sensibilisiert hat.


4.3 Bildung gliedert ökonomische Leistungserwartungen in die Entwicklung der Person und Kultur ein

Auf jedem Gebiet ist der Einsatz von Kompetenzen an verlässliche und verantwortliche Personen gebunden, auch im Raum ökonomischer Erfordernisse, an die bei Zukunftsfähigkeit vorrangig gedacht wird. Das Fehlen entsprechender Wertorientierungen wird in der Industrie inzwischen als ernsthafter Kostenfaktor diskutiert, weil Arbeits- und Produktionsausfälle unter anderem auf mangelnde (Persönlichkeits-)Voraussetzungen bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zurückzuführen sind. Die für bestimmte Arbeitsvollzüge erforderlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten sind in eine weiterreichende Persönlichkeitsentwicklung eingebunden, und diese lässt sich bildungstheoretisch nicht zureichend mit ökonomischen Begriffen darstellen. Anders formuliert setzt die gewünschte engere Abstimmung zwischen Bildung und Ökonomie für ihr Gelingen einen umfassenderen bildungstheoretischen Horizont voraus, in den dieser Zusammenhang erst sinnvoll einzuzeichnen ist und den die vorliegende Denkschrift zu bestimmen sucht.
Ökonomisch erforderliche Bildung braucht kulturelle Bildung, wertorientierte Bildung der Person und Stärkung der Einzelnen als Subjekte. Der hier vertretene Bildungsansatz stellt Bildung und Ökonomie nicht abstrakt einander gegenüber. Der Gegensatz von »Bildung« und »Ausbildung« ist fragwürdig. Aber er fordert dazu auf, die wirtschaftlich wünschbaren Leistungen in ein kriterienkräftigeres und weiter gespanntes Denken einzugliedern. In dessen Fluchtlinie bildet nicht die Frage nach dem erfolgreichen Leben, sondern die nach dem »guten Leben« das Zentrum. Vieles vom Notwendigen unterbleibt, wenn nur das Nützliche gesehen und geschehen würde. Der alternative Denkansatz fragt nach dem, was mehr als nützlich ist. Erst dadurch kann das nützliche Tun die routinemäßigen Abläufe und die vergeblichen Anläufe (er)tragen. »Würde« und »würdevolles Leben« sind jetzt keine lediglich überkommenen und deshalb vernachlässigbaren Kategorien, nur weil sie sich finanziell nicht eindeutig bilanzieren lassen. Unter den   genannten Kategorien verweist Individualisierung ebenso wie gesellschaftlich-kulturelle Höherentwicklung an Bildung, die um einen ethischen Kulturanspruch weiß und vom sich selbst bestimmenden Subjekt ausgeht. Sie nimmt an den Möglichkeiten und Grenzen des Menschen Maß.
Ein am Subjekt orientiertes Bildungskonzept ignoriert nicht die gesellschaftspolitische und ökonomische Funktion von Bildung – im Gegenteil, sie fördert diese. Aber nicht über Kompromisse, Unterordnungen oder Einebnungen, sondern über Differenz. Die Differenz der Ansprüche, der Ziele und der Absichten machen das Produktive aus. Ohne kulturelle Durchdringung – Bildung ist Kultur nach ihrer subjektiven Seite hin – sind die moderne Industrie- und auch die moderne Dienstleistungsgesellschaft gefährdet. Dieser breitere Kulturanspruch der Bildung muss als Differenz gegenüber der Ökonomie aufrechterhalten und immer wieder neu behauptet werden – gerade auch um der Gestaltung von Wirtschaft und Arbeitswelt selbst willen.


4.4 Globalisierung erfordert interkulturelle und interreligiöse Bildung

Internationale Globalisierungstheorien eröffnen einen Horizont, der die Erfordernisse von Grundbildung, wie sie PISA untersucht und angemahnt hat (vgl. 1.1), mit Bildungsaufgaben verbindet, die immer mehr an Gewicht gewinnen: weltbürgerliche, interkulturelle und interreligiöse Grundbildung. Pädagogisch äußern sich die Desiderate in Konzepten »globalen Lernens«. Die Aufgaben betreffen schulische und außerschulische Lernorte und reichen über das Erlernen von mindestens zwei Fremdsprachen hinaus.
Unter den gemeinten Perspektiven verändert sich auch der Sinn von Globalisierung selbst:

– Globalisierung bedeutet eine Intensivierung der Kulturbegegnung und schließt interkulturelle Bildung als Anerkennung von kultureller Differenz und Lernen im Kontrast ein. Sie stellt mit dem Entstehen größerer politischer Einheiten wie etwa der Europäischen Union zugleich vor neue politische Herausforderungen, die ein Überschreiten der ursprünglich nationalstaatlichen Horizonte von Demokratie notwendig machen. Der Einführung des Euro als monetäres Band wird ein langsam sich entwickelndes politisches europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl als inneres Band folgen müssen.
– Fundament der Globalisierung muss eine transnationale europäische Gemeinschaft sein, die nicht nur die Europäische Union meint. Ihr Horizont sollte durch eine neue transkulturelle Offenheit ausgezeichnet sein, die zurzeit unter der Formel einer »globalen Bürgergesellschaft« (»global civil society«) angedacht wird (u.a. M. Walzer). Alles dies bedarf ethischer Orientierungen, womit erneut der enge Zusammenhang zwischen Globalisierung und ethischer Bildung vor Augen tritt.
– Schon der Prozess der europäischen Vereinigung stellt ferner zum einen in der Begegnung von Protestantismus, Katholizismus und orthodoxem Christentum vor Aufgaben ökumenischen Lernens, zum anderen im Verhältnis von Christentum und Islam vor die Herausforderungen interreligiösen Lernens. Im Weltmaßstab kommen dazu die Religionen Asiens und Afrikas, deren Rolle sich ebenfalls bis hinein in die Zusammenhänge von Ökonomie und Technologie bemerkbar macht, von den hoch konflikthaltigen politischen Aspekten, die seit dem 11. September 2001 besonders bewusst geworden sind, ganz zu schweigen.

Wir brauchen eine Bildung, die nicht nur zum solidarischen Mitleiden, sondern auch zur verantwortlichen Mitgestaltung einer sich räumlich und zeitlich entgrenzenden und leidenden Welt befähigt, so weit das möglich ist; denn normalerweise können wir die »Eine Menschheit« wohl als Gedanken fassen, aber nicht in unsere auf nahe soziale Verhältnisse angelegten Gefühle aufnehmen (vgl. 2.4 und 3.1).
Die vom biblischen Glauben her gedachte »eine« Welt geht von Gott als Schöpfer aller Kreaturen aus. Ihr entspricht eine Globalisierung, die auf Versöhnung und Verständigung, Bekämpfung der Armut, sozialen Ausgleich, den Respekt vor gewachsenen kulturellen Traditionen und lebensförderliche Kooperation gerichtet ist. Durch ökonomische und technologische Bildung allein wird sich dies schwerlich erreichen lassen. Entgrenzende Globalisierung richtet vielmehr paradoxerweise neue problematische Grenzen auf. Wenn der Bildungsdiskurs auf die Globalisierung Bezug nimmt, sind die Opfer der Globalisierung und die Spannungen zwischen privilegierten und nicht-privilegierten Ländern nur selten ein Thema.
Bildungspolitische Empfehlungen wie die des »Forum Bildung« sind deshalb zu ergänzen und zu vertiefen. Es ist völlig richtig, dass die Förderung und Integration von Migrantinnen und Migranten ein »zentrales Element von Bildung in allen Bildungsbereichen« werden muss (Empfehlungen 2001, X). Bildung soll »Offenheit und Akzeptanz unterschiedlicher Kulturen fördern«; dazu gehört, einen breiten Bildungszugang sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass Kinder und Jugendliche anderer Herkunft »ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache erwerben« (ebd.).
Erstens dürfen jedoch die leitenden Motive nicht zu eng gefasst werden und hauptsächlich von den möglichen »großen Risiken« einer misslingenden Integration bestimmt sein. Dieser Ton schwingt zu stark mit, selbst wenn gleichzeitig von gegenseitiger »Bereicherung« die Rede ist. Zweitens darf nicht verdrängt werden, dass nicht nur die Migranten und Migrantinnen integrationsoffen zu lernen haben, sondern auch die Glieder der einheimischen Gesellschaft. Der neue Kulturbezug von Bildung betrifft zwischenkulturelle Begegnung. Bislang wurde Kultur binnengesellschaftlich oder allenfalls eurozentrisch gefasst. Protestantisches Denken war hiervon ebenso mitbestimmt und hatte die »christlich-abendländische Kultur« oder den »Kulturprotestantismus« vor Augen, ferner hauptsächlich Kultur als menschliche »Gestaltungsaufgabe«. Im theologischen Kapitel dieser Denkschrift (Kap. 3) ist Kultur als »Verständigungsaufgabe« beschrieben worden (vgl. auch die Denkschrift der EKD und der VEF »Räume der Begegnung«, 2002). Diese beiden Seiten des Kulturbezugs von Bildung sind keineswegs gegeneinander auszuspielen, aber die zweite hat an Gewicht sehr zugenommen. Von ihr hängt mehr denn je ein weltweiter Friede ab.
Bildung, wie wir sie brauchen, ist so gesehen nicht nur als Reaktion auf die Globalisierung zu verstehen, sondern auch als Initiative zu einer Globalisierung mit einem anderen Antlitz. Ihr entsprechen schulische Leistungsanforderungen, die binnengesellschaftlich und weltweit zu Verständigung beitragen. Es ist notwendig, Angebote für globales Lernen und entwicklungsbezogene Bewusstseinsbildung zu initiieren und finanziell zu fördern. Im Kern aber wartet in Deutschland auf alle eine noch kaum in ihrem tiefenstrukturellen Charakter erkannte Aufgabe: Interkulturalität als innere Einstellung in der Bevölkerung.
Die Aufgabe ist schwierig, denn sie rührt an Tiefenschichten. Die »Akzeptanz« Fremder (»Forum Bildung«) wird gefühlsmäßig verhindert, obwohl man sie verbal beteuert. Es ist nicht leicht, sich dem Anderen in seinem Anderssein und dem Fremden in seiner Fremdheit wirklich zu stellen und das Andere zuzulassen: »ihm gegenüberzutreten und es gleichzeitig zu lassen, es anzunehmen, ohne es zu begrenzen, sich von ihm affizieren zu lassen und es dennoch nicht in Besitz zu nehmen ...« (D. Mersch). Der »ganz andere« Gott lehrt jedoch Juden und Christen, »andere« Menschen im Bilde Gottes zu achten.


4.5 Der vernünftige Umgang mit alten und neuen Technologien setzt Bildung voraus

Gemäß ihrem Prinzip, die politische und pädagogische Vernunft zu stärken, ist die Evangelische Kirche in Deutschland weit davon entfernt, Technologien grundsätzlich zu problematisieren. Hierdurch würden die zu unterscheidenden Ebenen von ewigem Heil und weltlichem Wohl verwechselt. Glaubenserfahrungen sensibilisieren aber dazu, unsere gegenwärtigen Erfahrungen mit alten und neuen Technologien zu prüfen; sie können und wollen diese nicht ersetzen. Die zentrale Unterscheidung ist die zwischen dem, was Leben erhält oder zerstört (vgl. Kap. 3).

1. Ökologische Gefahren sind zum großen Teil schon auf länger andauernde Auswirkungen konventioneller Technologien zurückzuführen. Die Aufgabe, den Heranwachsenden ein Verständnis für die Zusammenhänge (z.B. von Energieverbrauch und Klimaschutz) zu erschließen, wird in den Schulen unterschiedlich wahrgenommen. »Jemand, der die Literatur kennt und die zeitgenössischen Lebensbedrohungen nicht ernst nimmt, kann heute nicht als gebildet gelten; sein Manko ist ein essentielles und kann nicht durch curriculare Zusätze ausgeglichen werden« (H. Rauschenberger). Diese Maxime ist auch unabhängig vom biblischen Glauben plausibel; die Bibel vertieft sie durch die Weisung, die Erde zu »bebauen und zu bewahren« (1. Mose 2, 15). Die positive Konsequenz ist vom Elementarbereich an die Ausbildung des Sinns für einen vernünftigen, fürsorglichen Umgang mit der Natur (vgl. 3.1). Am intensivsten werden die Probleme der Gentechnik diskutiert. Wo sind die unverrückbaren Grenzen der Verfügung über entstehendes Leben? Welche Chancen eröffnen sich für die Bekämpfung von Leiden, die Leben einschränken? Das ist keineswegs eine akademische Frage, die in Schulen nicht hineingehört.

2. Neue Technologien durchdringen fast alle Lebensbereiche; sie vernetzen sich und sie dehnen sich aus – mit ungeahnten Möglichkeiten und Risiken für die Entwicklung der Person. Die ausschnitthafte Konzentration mancher bildungspolitischen Initiativen auf die Informationstechnologien ist verständlich, sollte aber nicht darauf verengt werden. Eine Losung wie »Die Schüler an den Computer und die Schulen ans Internet!« begründet oder erzeugt keine Bildung. Die Bildungsoffensive in Deutschland darf in dieser Frage nicht provinziell ablaufen und die Stimmen in der internationalen Debatte überhören, die zum Für und Wider längst kritisch aus der Mitte der Elite der Computerspezialisten selbst kommen. Was Schulen und andere Bildungseinrichtungen brauchen, ist nicht lediglich ein äußerer Modernisierungsschub, sondern eine kriterienbewusste kategoriale technologische Bildung als ausgewiesener Teil der Allgemeinbildung. Man könnte sich mit dem Ziel begnügen, dafür zu sorgen, dass die Handhabung des Computers so glatt verläuft wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Wie die OECD-Kriterien in PISA für Lesefähigkeit (Reading Literacy) und mathematisches Verständnis (Mathematical Literacy) zeigen, meinen Lesen und Rechnen anspruchsvollere Kompetenzen; analog muss es auch bei der neuen PC-Alphabetisierung um mehr gehen als um Technikkompetenz.
Technologien und Informationsmedien erzeugen nicht Bildung, sondern setzen sie voraus. Zwischen der technischen Handhabung von Computern und dem Wissen um ihren sinnvollen Gebrauch ist im Sinne der oben vorgenommenen Beschreibungen verschiedener Wissensformen (vgl. 4.1) zu unterscheiden. Für den Zweck der Handhabung genügen ein Handbuch oder ein Hilfeprogramm; für den Zweck des vernünftigen Gebrauchs ist zu durchschauen, wie Computer (und bereits das Fernsehen) die Lebenswirklichkeit virtuell transformieren und Wahrnehmungen, Erfahrungen und Urteilsvermögen verändern (vgl. 2.4). Analytisches Wissen und funktionales Zweck-Mittel-Denken müssen sich vor dem Forum eines vernünftigen Gebrauchs rechtfertigen.
Gleichzeitig ist lapidar festzuhalten, dass Personen nicht zu ersetzen sind. Einer schulischen Grundversorgung in Form von Unterricht ohne notorischen Stundenausfall mit überschaubaren Klassenstärken und mit genügend Lehrkräften gebührt der Vorrang vor technologischen Modernisierungen. Das tagtägliche Leben in pädagogischen Einrichtungen ist ein Zusammensein von Personen; Erziehen und Bilden bleiben in ihrer Grundstruktur personale Prozesse. Apparate sind brauchbare Instrumente, nicht mehr. Es ist nicht zu bezweifeln, »dass wir uns darauf einstellen können, mehr mit Maschinen als mit Menschen zu reden. Aber damit ist noch keine einzige Frage beantwortet« (N. Postman), die den menschlichen Sinn einer technologischen Erneuerung betrifft.


4.6 Bildungsprozesse verlangen Zeit und gesammelte Anstrengung

1. Für Bildung ist das Wechselspiel zwischen persönlicher Bildungsgeschichte und Lebensgeschichte charakteristisch: lebensgeschichtliche Gezeiten und Bildung als innere Selbstorganisation. Lehr- und Lernvorhaben können nicht ohne Schaden an den lebensgeschichtlichen Momenten vorbei geplant und durchgesetzt werden. Die Identität eines Menschen besteht letztlich aus seiner Lebensgeschichte im Ganzen. Identität aber meint die Person.
Von Maria Montessoris Erkenntnissen über »sensible Phasen« und die Plastizität des Jugendalters bis zu den Stadien des Erwachsenseins mit Aufbau und Plateaubildung, aber auch Krisen, Verwerfungen und Stagnation, zieht sich wie ein roter Faden die Einsicht in die Bedeutung einer lebensphasengerechten Bildung Diese Phasen bergen unterschiedliche Chancen; sie führen zugleich an grundsätzliche Grenzen: in Bildung als inneren Vorgang kann und darf nicht willkürlich eingegriffen werden. Bildung ist letztlich eine Sache geistiger Selbstorganisation (vgl. 4.1).

2. Für geistige Selbstorganisation ist einerseits gesammelte Anstrengung, andererseits der schöpferische, »fruchtbare Moment« (F. Copei) eines unerwarteten Einfalls charakteristisch. Beide Male ist wiederum Zeit einzuräumen; unter Druck und Angst kann nicht im gemeinten bildenden Sinn gelernt werden. Die Schulen brauchen Lehrende, die mit diesen Vorgängen vertraut sind, das heißt pädagogisch-bildungstheoretisch, nicht nur fachwissenschaftlich ausgebildete Lehrer und Lehrerinnen. Beobachtungen zeigen das wachsende Interesse an verständlichem, elementarisierendem Unterricht; Untersuchungen belegen aber auch, wie sehr »über die Köpfe hinweg« unterrichtet wird, am Zentrum der Selbstorganisation des individuellen Bewusstseins vorbei. Bildung als »innere Kultur« wird verfehlt, um nochmals den schon beim interkulturellen Lernen verwendeten Begriff zu gebrauchen (vgl. 3.1 u. 4.4). Folglich liegt hier der Brennpunkt für eine qualitative Unterrichtserneuerung. Wird dies nicht beherzigt, könnte sich das gegenwärtige Interesse an beschleunigtem, intensiviertem Lernen, für das be-
sonders informationstechnologisch investiert werden soll, dem Wortsinn nach »verrechnen«. Wirtschaftlichkeitsanalysen dürfen die tatsächlichen Lebenskosten nicht unterschlagen.
Die katholische und die evangelische Kirche haben mit einem Bildungskongress im November 2000 in Berlin unter dem Motto »tempi – Bildung im Zeitalter der Beschleunigung« die Perspektive der Zeit aufgegriffen. In zehn Thesen wurde darauf hingewiesen, wie Weltwissen und Lebenswissen auseinander klaffen, wenn nicht in Muße und biographierelevant gelernt wird. Eine Bildung, die dem Einzelnen Zeit lässt, sich zu entwickeln, ist eine sinnvolle Investition in die Zukunft des Menschen und der Gesellschaft.

3. Lebendige Zeitrhythmen und schematisierte Zeit sind zu unterscheiden (vgl. 3.1). Bildung unterliegt auch in der zeitlichen Feingliederung einem Zeitrhythmus. Er beginnt mit dem Wechsel von Tag und Nacht und den unterschiedlichen Phasen von täglicher Anspannung und Abspannung. Bildung braucht Pausen. Reformpädagogen haben zwischen »schaffendem« und »empfangendem« Lernen unterschieden (O. Eberhard). Dies wird besonders in den Kindertagesstätten und an den Grundschulen immer mehr berücksichtigt. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat in ihrer Stellungnahme »Religion in der Grundschule« (2000) den »rhythmisierten Schultag« mit »offenem Anfang« und »Gleitzeit«, mit gemeinsamen »Ritualen« und »Freiarbeit«, mit »flexiblen Lernzeiten« und selbstbestimmter Zeiteinteilung ausdrücklich gewürdigt. In den weiterführenden Schulen werden diese Einsichten weithin vergessen. Wie Projektmethoden eindeutig zeigen, motiviert hingegen selbst organisiertes und kooperatives Lernen weit stärker und bietet größeren Erfolg.

4. Schon von der Grundschule an befinden sich allerdings die Schulen in einer selbstwidersprüchlichen Ambivalenz, die ebenfalls den von PISA in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern wahrgenommenen Reformstau zum Teil erklären könnte. Schulen empfangen gleichzeitig unterschiedliche verpflichtende Signale. Sie  sollen zwei gegenläufigen Aufgaben dienen. Als einer »sozialen« Institution erwartet man von ihnen, dass sie in den Kindern und Jugendlichen ein Empfinden für das Nicht-Verrechenbare erwecken und ein kooperatives Zusammenleben einüben. Als »leistungsbezogene« Institution muss die Schule messen, einstufen, auslesen, (nicht) versetzen und für die Konkurrenzgesellschaft vorbereiten. Die bildungspolitische Debatte ist bis auf jüngste Überlegungen über dies Dilemma, an dem sich die Lehrkräfte aufreiben, hinweggegangen.


4.7 Bildung braucht Geschichtsbewusstsein, Erinnerung und Gedenken

Den Bereichen von Naturwissenschaft und Technik ist nicht vorzuwerfen, dass nur nach vorn, nicht zurückgeschaut wird, denn es interessieren neue Erfindungen, nicht mehr die anscheinend veralteten. Problematisch wird es erst, wenn man übersieht, dass sich die »wissenschaftlich gelösten Probleme der technischen Verfügung in ebenso viele Lebensprobleme« verwandeln; »denn die wissenschaftliche Kontrolle natürlicher und gesellschaftlicher Prozesse entbindet die Menschen nicht vom Handeln. Nach wie vor müssen Konflikte entschieden, Interessen durchgesetzt, Interpretationen gefunden werden ...« (J. Habermas). Deswegen ist in dieser Denkschrift Bildung auf »Deutungen« und »Interpretationen« der Lebenswirklichkeit bezogen worden (vgl. 4.1). Die bereits in Kapitel 3 betonte Rolle der Geschichte als Raum von kontroversen Deutungen der Wirklichkeit und Austragung von Konflikten ist zu unterstreichen:

1. Geschichte ist mehrsträngig verknotet. Die wichtigste Erinnerungsspur ist die ehrliche Vergegenwärtigung der Zweideutigkeit der menschlichen Spezies. Erfolg und Scheitern, Hoffnungen und Enttäuschungen, Glück und Leid, Schuld und Vergebung, die Kraft zum Guten und die Fähigkeit zum abgrundtief Bösen liegen nah beieinander (vgl. 3.1). Ausweislich der historischen Kriegsforschung machten Friedenszeiten nicht einmal 10% in der Menschheitsgeschichte der letzten 3400 Jahre aus; in der Regel dominierte Krieg als geschichtliche »Konstante« (R.P. Shaw/Y. Wong).
Die neuen Technologien und die boomenden Industrien sind auf das schnelle Lernen erpicht und angewiesen. Eine von evangelischer Seite auf dem erwähnten Bildungskongress der Kirchen in Berlin (vgl. 4.6) aufgeworfene Frage lautete demgegenüber: Welche Lektionen lernt die Menschheit zu langsam? Während in dieser Denkschrift noch sinngemäß gesagt werden musste, dass »in Muße Zeit verlieren, nicht in Hektik Zeit gewinnen zu wollen, Bildung ermögliche« (vgl. 4.6), gilt auch umgekehrt: »Nicht noch mehr Zeit verlieren, um eine humane Existenz für möglichst alle zu gewinnen!« Im Rahmen geschichtsbewusster Bildung sind darum besonders folgende Lektionen menschlichen Versagens zu lernen:

– erstens lernen Menschen zur Vergangenheit hin zu schwerfällig aus der Menschheitsgeschichte hinsichtlich der blutigen Spur der Opfer,
– zweitens zu langsam und oft nur mit innerem Widerwillen in der Gegenwart das Zusammenleben mit Menschen aus anderen Kulturen, mit Fremden,
– drittens hinsichtlich der Zukunft tödlich halbherzig, um der Kinder, Enkelkinder und noch ungeborenen Generationen willen mit diesem Planeten verantwortlich umzugehen.

2. Jede Geschichte kennt Gewinner und Verlierer, Sieger und Besiegte, Täter und Opfer. Die gegenwärtige Diskussion zur Bedeutung einer Erinnerungs- und Gedenkkultur im Lande der Täter hat mit einer bestimmten Geschichte zu tun, der »deutschen Geschichte«. Ohne die Vorgeschichte der Entstehung des nationalistisch-völkischen Denkens, das im menschenverachtenden Regime des Nationalsozialismus gipfelte, und ohne vor allem den Holocaust, die industrielle Massenvernichtung der Juden, würde es die Aufmerksamkeit auf individuelle und kollektive Erinnerung und Trauer nicht geben. Auch die geschichtliche Bildung hätte andere Haftpunkte. Jetzt ist das Gedenken an jene, die »zu den Fernsten und Fremdesten« (M. Brumlik) gehörten – oder, obwohl sie in Deutschland wohnten und gut bekannt waren, zu solchen gestempelt wurden –, die unerlässliche Mitte einer Kultur des Erinnerns und Gedenkens.
Wie aber Erinnern und Gedenken auszusehen hätten, droht zerredet oder überhaupt verfehlt zu werden. Ein instrumentalisierender, funktionalisierender Umgang, vor dem zur Seite der Sachwelt und Natur gewarnt werden musste (vgl. Kap. 3), lauert an dieser Stelle auch zur Seite der Geschichte hin. »Vor allem ist es uns nicht gegeben, den Wunsch und den Willen der verstorbenen Opfer in irgendeiner Weise für uns zu vereinnahmen, so als ob wir wüssten, welchen Sinn wir eigentlich ihrem letztlich sinnlosen Sterben zu geben hätten« (M. Brumlik). Wie nicht-instrumentalisiertes Erinnern auszusehen hätte und wie es zu menschlicher Bildung als geschichtliche Besinnung gehört, ist verantwortungsvoll zu erkunden. Bei allen tastenden Versuchen wäre eins jedoch auf jeden Fall unerträglich: Gleichgültigkeit, weil Erinnerung und Gedenken als Zukunftsinvestition nicht zählen. Die Opfer würden nachträglich noch einmal getötet, und ebenso – ohne dass sie es merken – die Seelen derjenigen, die so denken sollten.

3. Jeden Sonntag gedenken Christen des Leidens, Sterbens und der Auferstehung Jesu Christi. Sie bekräftigen damit eine memoria passionis, ihr Eingedenksein des Leidens mit leidenden Menschen überhaupt. Wie nirgendwo sonst gehören im Judentum und Christentum Gedenken und das Gewinnen von Perspektiven zusammen und sind in ein Spannungsverhältnis von Zukunft und Vergangenheit gebracht. Die Hoffnung auf eine Neuschöpfung macht sich an den uralten Verheißungen der Propheten fest, kommt also aus der Erinnerung. Die Solidarität mit den Geschundenen und Verfolgten, die christliche Ethik insgesamt, ist die Konsequenz aus der Erinnerung an den Menschen Jesus Christus, der als Leidender und Gekreuzigter Zukunft eröffnet. Er hat den Tod überwunden, indem er in den Tod gegangen ist. Es gibt eine durch Praxis und Leiden bewahrheitete realistische Hoffnung auf die Veränderung aller ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse, auf die Zähmung des Kriegs zwischen Menschen und Staaten, schließlich auf das Ende allen menschlichen Richtens.
Aus der jüdischen und christlichen Tradition des Gedenkens der Opfer sind wichtige Beiträge zur gesellschaftlichen Bildungsverantwortung hervorgegangen. Zahlreiche örtliche Gedenkstätten verdanken sich unter anderem christlichen Initiativen und Projekten kirchlicher Jugendarbeit, kirchlicher Erwachsenenbildung, Schulen in kirchlicher Trägerschaft etc. Besonders zu erwähnen sind auch Projekte christlicher (Religions-)Lehrkräfte zur »oral history«: lokale Geschichtsschreibung unter Einbeziehung von Zeitzeugen und Lebensbildern besonders aus der Zeit des Faschismus.
Erinnern und Gedenken zeigen sich auch in Bemühungen, Kirchenbauten als sichtbares »Gedächtnis der Christenheit« im öffentlichen Raum zu verstehen und ihre Architektur und Ausstattung in diesem Sinne zu erschließen. Kirchenräume zeigen, wie Menschen verschiedener Zeiten Leben und Tod, Schuld und Sühne, Gott und Welt verstanden haben. Derartige Zusammenhänge in Kirchenräumen aufzuspüren und zu »be-greifen« bedeutet, grundlegenden Bedingungen und Bedürfnissen des Menschseins nachzugehen.


4.8 Zur Bildung gehören Transzendenz und Gottesfrage

1. Die Frage nach Transzendenz und ihrer Bedeutung für zukunftsfähige Bildung wird weithin vergessen oder verdrängt. Für die meisten Expertisen und Stellungnahmen zum Bildungsverständnis heute scheint es kaum ein Thema zu geben, das ferner liegt als das von Glaube, Religion und Transzendenz. Religion wird vor allem mit Tradition assoziiert – und damit mit einer Vergangenheit, an die man bei der Suche nach zukunftsfähiger Bildung nicht zu denken brauche. Insofern folgt der Bildungsdiskurs implizit einem naiven Modernisierungsdenken, für das die Vergangenheit nicht mit zu bewahrender Tradition und Erinnerung verbunden ist (vgl. 4.7), sondern einfach überholt erscheint. Mit einem solchen Modernisierungsdenken verbindet sich ferner vielfach noch immer die Annahme eines umgreifenden und irreversiblen Säkularisierungsprozesses, aufgrund dessen mit einem immer deutlicheren Verblassen von Religion zu rechnen sei, am Ende vielleicht sogar überhaupt mit dem Verschwinden von Religion zumindest in der aufgeklärten Öffentlichkeit. Gerade in Deutschland und in Teilen Europas wird an einem solchen Säkularisierungsverständnis festgehalten, obwohl es in der internationalen religionssoziologischen Diskussion längst überwunden ist. Religionssoziologen wie Peter L. Berger sprechen inzwischen mit Nachdruck von einer »Entsäkularisierung« (»desecularization«).

2. Die deutsche Vereinigung hat zu einer insgesamt neuen Situation geführt. Dabei hat sich an der religiösen und besonders der kirchlichen Situation in Ostdeutschland wenig geändert. Nach wie vor gehören 70 bis 80% der Bevölkerung in den östlichen Bundesländern keiner Konfession an. In Westdeutschland sind hingegen durchaus Tendenzen zu beobachten, die der Erwartung einer »Entsäkularisierung« entsprechen können. Stichworte wie »Wiederkehr der Religion«, »neue Spiritualität«, »Generation der religiösen Suche« etc. machen deutlich, dass wir es nicht einfach mit einem Religionsverlust oder einem Abnehmen des religiösen Interesses zu tun haben, sondern mit einem Wandel von Religion. Rückläufige Kirchlichkeit im Sinne der Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen oder – wie besonders in Ostdeutschland – geringe Kirchenzugehörigkeit sind nicht gleichzusetzen mit dem Schwinden oder dem völligen Ausfall von Religiosität und – freilich oft diffuser – Spiritualität. Gerade für Jugendliche, aber auch für Erwachsene spielt die individuelle Sinnsuche nach wie vor eine wichtige Rolle – manchen Untersuchungen zufolge sogar in zunehmendem Maße. Den evangelischen Religionsunterricht besuchen in Ostdeutschland zum Teil über 50% konfessionslose Jugendliche, und zwar aus Neugier, wegen des offenen Gesprächsklimas und aus Interesse an der Gottesfrage. In den alten wie den neuen Bundesländern stehen allerdings weder die Kirchen noch neue religiöse Gruppierungen im Zentrum der in sich noch einmal sehr unterschiedlichen Aufmerksamkeit auf Religion. Die Individualisierung hat auch den religiösen Bereich erfasst. Darin kann die vielleicht am weitesten reichende Folge des genannten Wandels von Religion identifiziert werden.

3. Der religiösen Individualisierung entspricht im Blick auf die Gesellschaft eine zunehmende religiöse Pluralität, sei es innerhalb des Christentums oder hinsichtlich der Präsenz unterschiedlicher Religionen in Deutschland und Europa. Auf die Bedeutung eines interkulturellen und interreligiösen Lernens wurde im Zusammenhang der Globalisierung bereits hingewiesen (vgl. 4.4). Sie gründet in der allgemeinen anthropologischen und ethischen Unverzichtbarkeit religiöser Bildung. Im Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen brechen unvermeidlich anthropologische Fragen auf, die eine zumindest potentiell religiöse Bedeutung besitzen (vgl. 2.2). Be-sonders deutlich ist dies bei der Frage nach Leben und Tod überhaupt. Ähnliches gilt ethisch für die Suche nach einem unverbrüchlichen, tragenden Grund für gerechtes Handelns in einer ungerechten Welt. Eine Bildung, die Kindern und Jugendlichen gerecht werden will, kann auf diese Dimension grundsätzlich nicht verzichten. Zusammengefasst geht es um das Lebensverständnis im Ganzen und um die Bestimmung des Menschen. Aus christlicher Sicht gehört zum Menschsein konstitutiv der Bezug auf Gott.

4. Hinter der Transzendenzvergessenheit heutiger gesellschaftlicher Bildungsdiskurse steht neben einem verfehlten Säkularisierungsglauben noch eine weitere Entwicklung: Während früher ganz selbstverständlich von religiöser Bildung auch ein Beitrag zur ethischen Bildung erwartet wurde, gilt dies angesichts der religiösen und weltanschaulichen Pluralität in der Gesellschaft heute als fraglich. In einer multikulturellen Gesellschaft brauche die ethische Bildung, so wird argumentiert, gerade eine nicht-religiöse Basis, eben weil eine religiöse Begründung der Ethik nicht mehr konsensfähig sei. Dabei bleibt freilich umstritten, woher eine solche ethische Bildung die Motive für ein entsprechendes Handeln beziehen soll. Wie aber die Antwort auch ausfallen möge, die Gesellschaft braucht den ethisch-religiösen Diskurs, und Schulen brauchen die Kooperation zwischen Religions-, Philosophie- und Ethikunterricht, um den Kindern und Jugendlichen zu einem begründeten, wertbezogenen Urteil zu verhelfen und verantwortliches Handeln anzubahnen (vgl. »Identität und Verständigung«, EKD-Denkschrift zum Religionsunterricht in der Pluralität, 1994).

5. In der Frage nach Glaube, Religion und Transzendenz verdichten sich somit noch einmal mehrere in diesem Kapitel erörterte Rückfragen an den heutigen Bildungsdiskurs (vgl. auch Kap. 3). Transzendenzbewusstsein ist nicht etwas, das einfach durch den Hinweis auf religiöse Mehrheits- oder Minderheitssituationen begründet oder abgewiesen werden kann. Es steht auch hier – ähnlich wie in Recht und Politik (vgl. 2.4) – für eine dem Gemeinwohl dienende kritische Selbstrelativierung im Sinne der Unterscheidung von Letztem und Vorletztem, wobei allerdings auch das Vorletzte aus der Perspektive des Letzten betrachtet und beurteilt werden muss (D. Bonhoeffer). Transzendenz ist nicht darum eine Zukunftsherausforderung, weil alle zum (Gottes-)Glauben (zurück-)geführt werden sollen. Sie ist es vielmehr deshalb, weil das Leben und Überleben aller Menschen auf Grenzen angewiesen bleibt, die nur um den Preis der Menschlichkeit vergessen oder verletzt werden dürfen. Unter diesem Blickwinkel ist die Frage nach Gott geradezu als Schlüssel zukunftsfähiger Bildung anzusprechen – nicht so, dass es zum Gottesglauben bildungstheoretisch keine Alternativen gäbe, wohl aber so, dass die mit der Gottesfrage verbundenen Fragen bildungs-theoretisch unausweichlich sind.

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