Maße des Menschlichen

Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft, 2003, Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Maße von Menschsein und Bildung – evangelische Perspektiven

Überzogene Erwartungen an lebenslanges Lernen können leicht bestimmte Grenzen des Menschen aus den Augen verlieren. Alles ist lernbar, scheint manchmal die Botschaft zu lauten, wenn nicht heute, dann doch morgen. Suggestiv entfaltet sich eine ideale Welt. Aber die Verhältnisse sind nicht so. An dem inneren Widerstand, bei allem Lernen auch die Einsicht in die den Menschen gesetzten Grenzen zu lernen – dies wäre ein anderes, weises Lernen – zeigt sich, dass die Wissens- und Lerngesellschaft Anteil an einer verschärften Moderne hat. Für die Neuzeit ist die Verschiebung der Grenzen des Menschenmöglichen in vorher ungeahnte Sphären kennzeichnend. Es fällt schwer, nicht zu tun, was möglich ist.
Der »homo optionis« (U. Beck) wird als ein freier Mensch gepriesen. Die Vision des grenzenlos Möglichen verursacht jedoch erstens permanenten Entscheidungsdruck und macht zweitens für das anfälliger, was in nicht vorhersehbarer Weise anders ausgeht, als man es im Griff zu haben wähnt: Lebens-, Sinn- und Existenzkrisen im individuellen Leben und ökologische Schäden sowie wechselseitige zerstörerische Gewalt auf der Erde als Ganze. Wenn die das eigene Selbst umgreifende transzendente Lebensperspektive verloren geht, hängt alles von einem selber ab. An dieser Stelle wird die Frage nach Maßen und Maßstäben zu einer dringlichen Frage nach dem Beitrag der Religionen.
In diesem zentralen Kapitel wird begründet, was evangelische Christen ermächtigt, mit nachzudenken und Position zu beziehen. Die Kirche ist kein abstraktes, distanziertes Gegenüber, sondern ein konkreter, lebendiger Teil der Gesellschaft. Ihre Glieder sind als Bürger des Gemeinwesens und Teilnehmer an allen binnengesellschaftlichen Prozessen von den Veränderungen mit betroffen. Die Kirche maßt sich kein Urteil in Dingen an, von denen sie nichts versteht; Christen machen jedoch mit allen anderen zusammen vergleichbare Erfahrungen. Als große Institutionen sind die Kirchen auch Arbeitgeber. Damit gehen wirtschaftliche Entwicklungen, finanzielle Ressourcenknappheit und Arbeitsplatzprobleme mitten durch die Kirche hindurch. Ihre Mitglieder tragen als Erzieherinnen und Erzieher, Lehrer und Lehrerinnen, Schulverwaltungsbeamte und Bildungspolitiker, wissenschaftliche Pädagogen und Theologen in allen Sparten öffentliche Mitverantwortung.
Wie bekannt, gilt dies besonders für zwei gesellschaftliche Bereiche, in denen christliche Kirchen seit Jahrhunderten geschichtliche Erfahrungen gesammelt haben; die ebenso umfangreichen wie gleichrangigen Felder von Erziehung und Bildung und von Diakonie. Es handelt sich damit genau um die beiden Brennpunkte, denen die zwei vorausgegangenen Kapitel ihre Aufmerksamkeit zugewandt haben: Wissen und Lernen nicht im Prozess ihrer Selbststeigerung, sondern hinsichtlich der Menschen in ihren Lebenssituationen. Der Aufwand für öffentliche bildungsbezogene Umstrukturierungen und Programme in Deutschland ist kein Selbstzweck, sondern er geschieht durch Menschen und für Menschen. Steht diese Perspektive mit ihrem verpflichtenden Sinn immer klar vor Augen?


3.1 Weltgesellschaftliche Veränderungen und biblisches Menschenbild

Die alle Einzelnen »mitreißenden« Veränderungen vollziehen sich auf vier Ebenen, auf der räumlichen, der zeitlichen, der sachlichen und der sozialen. Man erkennt schnell, dass die Kirche auf allen diesen Ebenen auch spezifische Erfahrungen gesammelt und Einsichten gewonnen hat.

1. Auf der räumlichen Ebene vollzieht sich die weltgesellschaftliche Globalisierung als Entgrenzung: durch Weltwirtschaft, Weltpolitik, Globalisierung der Finanzmärkte, das Ziel einer internationalen Verfassungsordnung, durch globale Umweltpolitik und nicht zuletzt eine vollständige informationstechnologische Vernetzung. Die Kirche hat andere Erfahrungen gemacht; ihre Sorge ist heute schwerpunktmäßig die globale Verständigung.
Das Christentum ist räumlich als Weltreligion präsent. In Europa sind frühere sogenannte Fremdreligionen zu Nachbarschaftsreligionen in der eigenen Gesellschaft geworden. Darum ist weltweit der Dialog zwischen Glaubensgemeinschaften durch interreligiöses Lernen zu stärken. Zugleich existiert in allen Kontinenten unter verschiedenen politischen und kulturellen Bedingungen eine christliche Ökumene. Die ökumenische Bewegung hat schon vor Jahrzehnten erkannt, wie sehr die zentrifugale, vom eigenen Lebensstandort wegführende globale Ausdehnung ein Gegengewicht braucht. In der Orientierung gebenden heimatlichen Vertrautheit soll Verantwortung für das Ganze konkret und anschaulich werden: »Global denken, lokal handeln.« Dieses Prinzip dient nicht nur der Überbrückung großer Entfernungen. Kirchlich gesprochen geht es darum, die Gemeinde vor Ort mit den Augen der anderen zu sehen, »Konvivenz als Grundstruktur ökumenischer Existenz heute« (Th. Sundermeier). Allgemein ist es nötig, das Fremde in den Gemeinsamkeiten und den Differenzen so zu verstehen, dass sich das Verhalten vor Ort verändert. Menschen aus anderen Teilen der Welt und Fremde aus anderen Herkunftskulturen in unserem Land sollen dem eigenen Handeln zustimmen können. Genau auf eine solche Haltung der Interkulturalität als »innere Kultur« (R.A. Mall) zielt der Begriff der Bildung.

2. In zeitlicher Hinsicht werden alle globalen Entwicklungen von dem Diktat der Beschleunigung beherrscht. Bildung aus christlicher Sicht lebt auch hier von anderen Einsichten. Die Kirche hat seit ihren Anfängen gegenüber der chronologischen Zeitmessung Erfahrung mit rhythmisierter Zeit in Lebenslauf und Kirchenjahr gemacht. Sie stellt den inzwischen hoch abstrakten, der sinnlichen Wahrnehmung sich völlig entziehenden Zeittakten in Bruchteilen von Sekunden in den elektronischen Medien die mit allen Sinnen spürbare Zeit gegenüber. Die Kirchen feiern die Feste des Glaubens, die zugleich Zeiten symbolisch bedeutsamer grundsätzlicher Besinnung sind. Sie heben Lebensschwere und Lebensschuld ins Bewusstsein (Karfreitag, Buß- und Bettag), ebenso den immer wieder möglichen befreienden neuen Anfang (Weihnachten, Ostern, Pfingsten). Nach wie vor wissen sich viele Menschen durch die kirchlichen Kasualien wie Taufe, Konfirmation, Firmung, Trauung, Beerdigung im zeitlichen Verlauf des eigenen Lebens angesprochen. Vor allem erhält sich als das wöchentlich erlebte Grundmaß aus der jüdisch-christlichen Tradition bis heute, wenn auch gefährdet, die Unterscheidung von Werktag und Sonntag oder Sabbath.
Alle diese Zeiterfahrungen sind andere als die der gleichmäßig schwingenden Uhrzeit; Zeit wird im Kontrast zu leerer oder verschwendeter Zeit als dichte, erfüllte Zeit bewusst, statt bloßer Chronologie Besinnung und Sammlung: Zeit als Kairos.
Die Kirchengemeinden sind mit ihren Feiern und Festen an Lebenswendepunkten, an denen in zeitlicher Vorschau, Rückschau und erfüllter Gegenwart die Gezeiten des Lebens zusammengebunden werden, der Ort, an dem lebensbezogene Zeit erlebt und kultiviert wird. Sie tragen über den Kirchenraum als Ort der Sammlung auch die bergende Raumerfahrung weiter, die oben anklang, Raum- und Zeitverdichtung in einem.

3. Entgrenzung und Beschleunigung in Raum und Zeit wirken sich in ihrer Rasanz massiv auch auf den Umgang mit den Dingen und auf sie selbst aus; die Sachen werden kontingent, und eine Folge ist ihre Entwertung. Mit dem Wort Kontingenz ist gemeint, dass anstelle des einen auch etwas anderes geschehen könnte; Sachen werden austauschbar. Das Mögliche wird wichtiger als das Wirkliche; das vielleicht Erreichbare zieht vom Erreichten weg nach vorn; was war, wird schneller vergessen. Erfahrung von früher wird zusammen mit den Gegenständen, mit denen man einst zusammenlebte, entwertet (vgl. 2.3). Das Gefühl für Unersetzbares wird geschwächt.
Sofern sich seit alters her auch die Existenz von Christen nach vorn zur Zukunft hin erstreckt in Erwartung des Reiches Gottes in Frieden und Gerechtigkeit, das schon hier zeichenhaft aufleuchten soll, haben christliche Glaubensüberzeugungen zum Ideal der Verbesserbarkeit der Welt beigetragen. Im 17. Jahrhundert hat Johann Amos Comenius als herausragender Klassiker eines christlichen Reform- und Bildungsdenkens alle drei Dimensionen zusammengefasst. Räumlich zeigt es sich in seinem leidenschaftlichen Bemühen, als Asylant quer durch Europa die Völker und Kirchen zum friedlichen Zusammenleben zusammenzuführen (»die ganze Menschheit ist ein Stamm, ein Geschlecht, eine Familie, ein Haus«, »Unum necessarium«). Im Blick auf die Sachwelt, den Umgang mit der Welt der Dinge in Natur und Kultur, ging es ihm darum, das Wissen über den rechten Gebrauch der Dinge zu erschließen, damit zeitlich gesehen heute schon dem entsprochen werde, was Gott für die Zukunft verheißen hat.
Im Umgang mit Natur und Kultur folgt biblisches Denken einem Maßstab von größter und weitreichender Bedeutung, der Bestimmung des Menschen als »Ebenbild Gottes« (1. Mose 1, 27). Diese Bestimmung schließt ein, dass der Mensch unter dem Segen Gottes über die Erde herrschen und sie sich untertan machen darf (1.Mose 1, 28). Heute ist es unerlässlich, Herrschaft und Macht über Lebensressourcen mit dem unmittelbar anschließenden biblischen Auftrag an die Menschheit zu verbinden, die Erde als »Garten« zu »bebauen und zu bewahren« (1. Mose 2, 15, vgl. 4.5). Der Umgang mit unserem Planeten ist prekär geworden und nicht so, wie Gott es will. »Die Dinge sind zwar bereit zu dienen; sie können es aber nicht, wenn unwissend mit ihnen umgegangen wird.« »In diesem Falle wird der natürlichen Ordnung (natura) der Sachenwelt Gewalt angetan; sie wird unter dem Joch stöhnen und klagen, der Nichtigkeit preisgegeben zu sein« (Comenius, Pampaedia III, 28). Gewalttätigkeit äußert sich auch als Gigantomanie, die keine Grenzen dulden will. Dies ist im Mythos von Babel der Unvernunft zur Warnung vorgeführt (1. Mose 11) und seitdem von Dichtern und Zeitzeugen immer wieder vergegenwärtigt worden, denn »Babel ist überall« (H. Krellmann).

4. In der sozialen Dimension der Veränderungen macht das Stichwort der Individualisierung von sich reden, und wieder ist der Bereich der Religion mit betroffen – individualisierte und pluralisierte Religion als Ausdruck persönlicher Freiheit. Evangelische Christen sind sich bewusst, dass der Protestantismus zur Individualisierung beigetragen hat, weil Glaube ein persönlicher, selbständiger Glaube sein sollte. Wie in Kapitel 1 und 2 ausgeführt, wird jedoch durch die vielfältige Vergesellschaftung der Individuen aus Freiheit oft Scheinfreiheit. In ihren Abläufen baut sich die Weltgesellschaft nicht über Individuen auf, sondern über Relationen und Operationen (ökonomische Beziehungen, Expansionen und Zusammenbrüche, Finanztransfers und Kapitalvernichtung, multinationale Bündnisbildungen, globale Kommunikationsnetze), denen gegenüber sich das Individuum als abhängig, unzuständig und unvollständig erfährt, angesiedelt am Rande. Es wird auch nur unzureichend bewusst, wie beeinflussbar jeder ist. Wahlfreiheit verwandelt sich in verdeckten Zwang. Ist dies ein unveränderbares Schicksal? Wie ist das Bild vom Menschen angemessen zu fassen (vgl. 2.4)?
Der gegenwärtigen Diskussion mangelt eine tiefer reichende anthropologische Reflexion; Bildungspolitik hält sich mit ihr nicht auf. Christliche Anthropologie kann und muss auf folgende grundsätzliche Momente im biblischen Menschenbild aufmerksam machen:

– Die Bestimmung des Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes bezeugt zugleich die Zuwendung Gottes zum Menschen; denn Gott liebt seine Schöpfung. »Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?« (Psalm 8, 4-5)
– Das biblische Bild vom Menschen, an das die Kirche erinnert, wenn es um Bildung geht, gewinnt sie von Gott her. Es ist einerseits realistisch, indem es nüchtern die weltgeschichtlich vor Augen liegende moralische Natur des Menschen beschreibt, die nicht nur zum relativ Guten, sondern auch zum abgrundtiefen Bösen fähig ist (Kain und Abel). Es enthält andererseits die Antwort Gottes auf die Natur des Menschen im Zeichen der ursprünglichen und erneuerten Schöpfung: seine vergebende Liebe – Neuanfang durch das Evangelium in Jesus Christus. Auf diesem Grund ergeht an die Menschen seit uralten Zeiten Gottes Gebot, das Böse zu meiden und das Gute zu tun (vgl. Micha 6, 8; Römer 12, 21).
– Das Beziehungsgefüge von Gott und Mensch, Mensch und Mitmensch sowie Mensch, Natur und Kultur, wird nicht von Gesetzmäßigkeiten im naturwissenschaftlichen Sinne beherrscht, obwohl der Mensch von Anfang an ein Teil alles Lebendigen ist. Es wird auch nicht von ökonomischen Gesetzen bestimmt, obwohl treuhänderische ökonomische Haushalterschaft geboten ist. Es ist auch nicht mehr nur gegenseitigen moralischen Selbstrechtfertigungen im Sozialbereich unterworfen, obgleich die Reziprozität der Goldenen Regel Schlimmes verhüten kann. Die neue Logik ist weder die Logik des Geldes noch die der aufrechnenden Moral, sondern in der Sprache des Apostels Paulus und der Kirche die der unverdienten »Rechtfertigung« »allein aus Glauben« und »allein aus Gnade«.
– Dass sich der Mensch Gott verdankt, ist schon im Gedanken der Welt als Schöpfung beschlossen und gipfelt im Glauben an Gottes Neuschöpfung, die mit Ostern begann. Darum ist zwischen dem Menschen als Subjekt und als Person zu unterscheiden: »Subjekt« hat jeder zu werden, auch kraft lebenslangen Lernens; »Person« ist er dagegen immer schon in unveräußerlicher Menschenwürde durch seinen Schöpfer (E. Jüngel). Der moderne Grundwert der Würde des Menschen hat neben antiken Quellen seinen maßgeblichen Ursprung in der Bibel.

Der Hinweis auf das biblische Menschenbild mag zunächst sperrig erscheinen, ist aber in seinem grundsätzlichen Sinn gerade die befreiende Bedingung der Möglichkeit menschlich maßvollen, der eigenen Grenzen bewussten Denkens und Tuns. »Unter allen Geschöpfen ist der Mensch das Einzige, das nach sich selbst fragen kann – und muss« (Synode der EKD 2002). Der Blick wendet sich hierbei um. Statt einseitig in Kategorien von Zielen wird in der Kategorie des Grundes gedacht. Nicht was alles erreichbar ist, sondern was human begründbar ist, für Christen in Verantwortung vor Gott, wird zur Leitfrage von allem anderen. Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland hat bereits 1978 in Bethel die dort behandelte, zielorientiert formulierte Frage »Leben und Erziehen – wozu?« mit der Umwendung hin zur Frage nach dem Grund des Lebens beantwortet: Das Menschliche ist in der Menschlichkeit Gottes, die Möglichkeiten des Menschen sind in den Möglichkeiten Gottes gegründet.


3.2 Grundsätze evangelischen Bildungsverständnisses

Bilder vom Menschen und die Bildung des Menschen hängen zwar miteinander zusammen, aber für die komplizierten bildungspolitischen Probleme und pädagogischen Aufgaben lassen sich aus den biblischen Grunderfahrungen des Glaubens und aus theologischen Glaubenslehren konkrete Folgerungen nicht einfach deduzieren. »Grundsätze« haben eine andere Funktion, sie bezeichnen positiv allgemeine Richtlinien und markieren negativ Grenzen. Grundsätze sind situationsgerecht zu konkretisieren; deshalb sind in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Empfehlungen angezeigt. Grundsätze verkörpern kein starres dogmatisches Gefüge, sondern verlangen erneute Auslegung. Diese Denkschrift will nichts vorschreiben, aber zu erwägen geben, welche humanen Verluste eine Gesellschaft erleidet, wenn sie Grundlagenfragen von Bildung und Erziehung vernachlässigt.
Das Verständnis von Bildung auf der Grundlage des christlichen Glaubens variiert zwischen den Konfessionen und hat sich geschichtlich entwickelt. Bildung erhielt ihren Sinn Ende des 18. Jahrhunderts als Gegenbegriff gegen die Funktionalisierung und drohende Selbstentfremdung des einzelnen Menschen in der Moderne. Der bedeutendste theologische und pädagogische evangelische Klassiker in dieser Zeit, Friedrich Schleiermacher, betonte die unvertretbare persönliche »Selbständigkeit« jeder Person für den rechten evangelischen Glauben. Sie galt grundsätzlich für Denken und Handeln überhaupt. Mit dem Blick auf das eigene »Selbst« ist nicht ein Kult des Individualismus gemeint, sondern selbstverantwortliche Selbstprüfung, die Selbstreflexion voraussetzt. Dies ist die bis heute gebliebene selbstreflexive Struktur des Bildungsbegriffs.
Gegenüber den Formeln einer »Wissens-» und »Lerngesellschaft« gilt daher: Erst als eine »Bildungsgesellschaft« – in diesem präzisen, auf verantwortliche Mündigkeit gerichteten Sinn – wird auch ein Gemeinwesen selbstreflexiv und kann sich Demokratie als partizipatorische Bürger- und Zivilgesellschaft gestalten. Wenn eins heute unumstritten sein sollte, ist es dies: Die Veränderungen, die in Kapitel 1 und 2 entfaltet und im ersten Abschnitt dieses Kapitels auf vier Ebenen gebündelt worden sind, können ganz und gar nicht erfasst und bewältigt werden, wenn nicht in der Breite der Bevölkerung und zumal der jungen Generation selbständiges Denken, soziale Sensibilität und kulturelle Kompetenz gefördert werden. Das christliche Verständnis von Selbständigkeit als Grundmerkmal von Bildung betrifft allerdings konstitutiv verantwortungsbewusste Mündigkeit: die Verantwortung vor Gott und den Mitmenschen schließt auf den obigen vier Ebenen (vgl. 3.1) folgende Grundsätze ein:

1. Gott ist der Inbegriff von »Gerechtigkeit und Frieden«; er verkörpert einen Raum des Lebens, in dem »Güte und Treue sich begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen« (Psalm 85, 12). Aus der »Gerechtigkeit Gottes« strömt die »Rechtfertigung des Sünders« über in die Welt. Diese befreiende Frohe Botschaft – das Evangelium – muss auch pädagogisch ausstrahlen.
Martin Luther drängte die Schulen, zu »Frieden, Recht und Leben« beizutragen. Er konnte sich noch nicht vorstellen, was das heute binnen- und weltgesellschaftlich bedeuten könnte. Aber sein Ansatz bleibt gültig. Rechtserziehung als Bildung des Rechtsbewusstseins im Namen der Menschenrechte, Grundrechte und Grundwerte sowie die Sensibilisierung für soziale Ungerechtigkeit sind Grundbedingungen für effektiven Frieden weltweit und beginnen vor Ort. Globalisierung als Kategorie neuer räumlicher Ausdehnung und Vernetzung ist auf rechtliche und ethische Maximen zu verpflichten.

2. Menschen leben zugleich in der Zeit. Aufgrund der Erfahrungen, welche die Kirche mit Zeit gewonnen hat und die primär individuell den Lebenslauf jedes Einzelnen meinen, tritt sie daher für das Konzept von »Bildung als Lebensbegleitung« ein, das in der Gemeindepädagogik, Religionspädagogik und kirchlichen Erwachsenenbildung entwickelt wurde. In diesem Grundsatz sind drei Aspekte eingeschlossen:

– Erstens ist Bildung auf Lebensphasen zu beziehen (vgl. Kap. 2). Das Programm »lebenslangen Lernens« betrifft in hoch industrialisierten Gesellschaften in seinem geläufigen Verständnis im Grunde nicht in derselben Weise auch den Ruhestand wie die Phase des Erwerbslebens, wo sie auf die Notwendigkeit der laufenden Anpassung der Kompetenzen an neue Arbeitsplatzherausforderungen antworten will (vgl. 2.3 zu den älteren Menschen). Neues zu wissen und neue Fähigkeiten anwenden zu können, neue Techniken zu beherrschen und die Effektivität zu steigern, kann positive Auswirkungen auch auf das eigene Selbstbild und Selbstgefühl haben, es »rechnet sich« nicht nur für das Unternehmen. Wachsende Kompetenzen in der Sphäre beruflicher Tätigkeit gehören ebenso zum ganzen Menschen, wie die darauf gerichtete (Weiter-)Bildung zum vollen Spektrum von Bildung. Das Konzept des »lifelong learning« macht dies volle Spektrum jedoch nicht zum ausdrücklichen Thema, wie dies bei dem hier vertretenen Ansatz von »Bildung als Lebensbegleitung« der Fall ist, der dem Leitbild der »gelebten Zeit« folgt. Er achtet auf Fortschritt und Rückschritt, auf Erfolg und Versagen, auf Höhen und Tiefen.
– Aus den Erfahrungen der Kirche ist oben zweitens der mechanistisch-chronologischen Perspektive die Kategorie der verdichteten, erfüllten Zeiterfahrung gegenübergestellt worden. Das heißt für jegliche Bildung, die Gegenwart nicht der Zukunft »aufzuopfern« (F. Schleiermacher). Zwar kann nicht jede Lernaufgabe als unmittelbar sinnerfüllt erlebt werden, aber Lernen muss insgesamt als persönlich sinnvoll bewertet werden können. Wenn der »durchgenommene« »Stoff« im Doppelsinn des Wortes nur »erledigt« wird, ist er meist »gestorben«, bevor er überhaupt lebendig werden konnte. Die anzustrebende neue Unterrichtskultur muss »bildendes Lernen« sein. Ein solches »sinnvolles« Lernen bedeutet: einhalten, nachdenken, sich sammeln, Zeit lassen zum Begreifen, zu sich selbst kommen – und so auch zu den Sachen.
– Der Aspekt der Zeit betrifft drittens das kollektive Gedächtnis, die gesellschaftliche »Leistung«, sich gemeinsam schmerzlichen und hoffnungsvollen Erinnerungen zu stellen (vgl. 4.7).

3. Bildung dient in Raum und Zeit menschlichem Handeln als Umgang mit der Sachwelt von Kultur, Zivilisation und Natur. Worum es geht, ist im Namen des Ersten Gebotes sehr einfach als Grundsatz zu formulieren. Es ist immer wieder zu prüfen, woran Menschen »ihr Herz hängen« (M. Luther). Die Grundsatzunterscheidung zwischen dem Schöpfer und allem Geschaffenen macht fähig, Verabsolutierungen zu erkennen und Indoktrinationen zu durchschauen. »Ich bin der Herr, Dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.« (2. Mose 20, 2, 3)

4. Gottes barmherzige und vergebende Zuwendung zu seinen Geschöpfen hat weitreichende Konsequenzen für das soziale Zusammenleben. Bildung und Erziehung haben in christlicher Sicht nicht nur jene Fähigkeiten zu wecken und zu stärken, die gerechten, sondern die zugleich auch fürsorglichen Lebensverhältnissen dienen: einer Kultur des Mitgefühls, der Barmherzigkeit und der Hilfsbereitschaft. Wie ernsthaft wird der Umgang mit Schwachen, Kranken, Alten, Benachteiligten und Behinderten eingeübt (vgl. 1.5), das »Miteinander der Verschiedenen«? Wenn oben auf die Analyse der Wissensgesellschaft (Kap. 1) die der menschlichen Lebenslagen folgte (Kap. 2), ist bereits diese Anordnung als Essential eines christliches Bildungsprogramms zu lesen. Die Kirche vertritt auf dieser Ebene als Grundsatz ein integratives diakonisches Bildungsverständnis, das besonders kirchliche Schulen und evangelische Jugendarbeit bestimmt. Je rasanter die Wissens- und Lernansprüche werden und nicht von allen in gleichem Ausmaß erfüllbar sind – mit gravierenden Folgen für den eigenen Wert –, desto wichtiger wird das soziale Lernklima in den pädagogischen Institutionen wie in der Gesellschaft insgesamt. Eine überfordernde Rücksichtslosigkeit ist mit der Geschöpflichkeit des endlichen Menschen und der Fürsorge für versehrbares Leben unvereinbar.
Die Kategorien der »Individualisierung« und persönlichen »Freiheit«, des »Subjekts« und der »Selbständigkeit« reichen trotz ihrer öffentlichen Verbreitung und positiven Wertung – auch in dieser Denkschrift – nicht aus. Sie sind nicht imstande, auf der sozialen Ebene die Bedürfnisse menschlichen Zusammenlebens voll zu erfassen. Der Mensch ist nicht das isolierte Ich, die Gesellschaft nicht die Summe von Individuen. Wir leben durch und durch in Beziehungen.

5. Zusammengefasst gilt:

– Bildung ist aus evangelischer Sicht räumlich auf dieser Erde auszurichten auf Erziehung zum Frieden, Achtung der freiheitlichen Rechtsordnung, Förderung sozialer Gerechtigkeit, Fürsorge für das versehrbare Leben und Verständigung mit Menschen anderer Kulturen und Religionen.
– Bildung hat zeitlich die individuelle Entwicklung und Lebensgeschichte jedes Kindes, Jugendlichen und Erwachsenen zu berücksichtigen, das verständnisvolle Verhältnis zwischen den Generationen zu unterstützen und selbstkritisch aus geschichtlicher Erinnerung und Überlieferung zu schöpfen.
– Bildung erinnert an die Güter des Lebens als Gottes Gaben, erzieht zu Dankbarkeit, schärft ein, Maße und Grenzen menschlicher Geschöpflichkeit ernst zu nehmen, und ermutigt, in der Kraft des befreienden Evangeliums von Jesus Christus bei allen gesellschaftlichen Aufgaben verantwortungs- und hoffnungsvoll mitzuwirken.
– Bildung bezieht sich auf alle Menschen in allen Lebens- und Bildungsbereichen. Dies muss die Kirche stets zuerst für sich selbst beherzigen. In dem schon einleitend begründeten umfassenden Sinn entfaltet sich die Bildungsverantwortung der Kirche zum einen in Gottesdienst, Gemeindearbeit, Arbeit mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren in den Kirchengemeinden, zum anderen als kirchliche Bildungsmitverantwortung in der Kinder- und Jugendhilfe sowie in der Arbeit in Kindergärten, Schulen, Betrieben, Universitäten und anderen Einrichtungen. Wie der ganze Mensch ist Bildung in ihrem menschlich verpflichtenden Sinn unteilbar.

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