Maße des Menschlichen

Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft, 2003, Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Lebenslagen und Menschenbild

Eine Schwäche vieler Programme und Konzeptionen der Wissens- und Lerngesellschaft besteht darin, dass sie auf eine Explikation des zugrunde liegenden Menschenbildes beziehungsweise Verständnisses vom Menschen verzichten. Ohne eine zumindest ansatzweise versuchte Beantwortung der Frage, was den Menschen zum Menschen macht (vgl. 2.4), fehlen aber anthropologisch begründete ethische Maße zur Beurteilung der in Kap. 1 skizzierten Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen auf den einzelnen Menschen und der sich an sie anschließenden Bildungsplanung. In diesem Zusammenhang stellt sich der Gesellschaft das Grundproblem ihrer ethischen Selbstvergewisserung.
In einer pluralen und marktangepassten Gesellschaft, deren Grundstrukturen geeignet sind, die Individualisierung voranzutreiben, lassen sich verallgemeinernde Aussagen über »den« Menschen allerdings nur bedingt treffen. Über das Menschenbild ist bezogen auf die tatsächlichen Lebenslagen und in einer am Lebenslauf orientierten Perspektive nachzudenken. Darum wird zum einen nach dem Alter gegliedert, nach Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (vgl. 2.1-2.3). Das Lebensalter ist allerdings nicht allein ausschlaggebend. Lebensphasen haben einen Wert in sich. Im interkulturellen Vergleich zeigt sich jedoch, dass die Lebensepochen unterschiedlich sozial erkannt und anerkannt, das heißt normiert werden. Die daraus hervorgehenden Definitionen sind gesellschaftliche Konstruktionen. Die Beschreibung der Lebenslagen muss daher zum anderen aufnehmen, wie die auf sie wirkenden, für unsere Gesellschaft typischen Vorgänge der Vergesellschaftung aussehen und was daraus pädagogisch folgt. Der Begriff der Lebenslagen ist schließlich anthropologisch unerlässlich: Er verweist Bildungspolitik und -planung auf das konkret gelebte und erlittene »ganze Leben«.


2.1 Lebenslagen von Kindern

Mit den sozialen Veränderungen des eben vergangenen Jahrhunderts – zum Beispiel zurückgehende Kinderzahlen, Freistellung der Kinder von Erwerbsarbeit, veränderte Rolle von Kindern in Familien, kindbezogene medizinische und soziale Dienste – ist eine neue Sicht auf Kindheit und eine vermehrte Aufmerksamkeit für Kinder, für ihre Denk- und Handlungsweisen entstanden. Kinder leben heute anders als frühere Kindergenerationen. Familie, Arbeitswelt, Bildungs- und Freizeitangebote, besonders auch Angebote der kommerziellen Welt – all dies gestaltet Kindheit heute in spezifischer Weise.
In der Kindheitsforschung ist die Familienkindheit am aufmerksamsten untersucht worden. Im Gegensatz zu Katastrophenmeldungen über den »Zerfall« und die Erziehungsunfähigkeit der Familie vermittelt die Forschung ein im Ganzen positives Bild. Allerdings hat die moderne Gesellschaft für Kinder ein Leben in Spannungen und widersprüchlichen Verhältnissen mit sich gebracht. Kinderleben ist bei der sozialen Vielfalt von Familienleben und den regionalen Unterschieden sehr breit gefächert. Der »Individualisierungsschub« hat auch die Kinder nicht ausgelassen. Die EKD-Synode hat sich 1994 unter dem Thema »Aufwachsen in schwieriger Zeit« ausführlich mit der Situation von Kindern befasst und die Erwachsenen zu einem Perspektivwechsel aufgefordert, der Kinder im Zusammenhang ihrer tatsächlichen Lebenswirklichkeit wahrnimmt. Das ist keineswegs einfach und selbstverständlich. Zu oft wird der Blick der Erwachsenen von eigenen Kindheitserinnerungen und -erfahrungen verstellt – und von den Wünschen und Ängsten, die Erwachsene heute haben. Die unverfälschte Wahrnehmung der Lebenslagen von Kindern beginnt für Erwachsene deshalb mit der Bereitschaft, sich selbst in der Differenz zu Kindern wahrzunehmen und das eine vom anderen getrennt zu halten.

1. Es zählt zu den Merkmalen gegenwärtigen Kinderlebens, dass Kinder vorwiegend in kleinen Haushalten aufwachsen, häufig auch ohne Geschwister. Ein Teil lebt in Ein-Eltern-Familien. Vielfältige Lebensformen wie nichteheliche Gemeinschaften, Zweitfamilien, Wechsel von einer zur anderen Familienform gehören heute zur sozialen Wirklichkeit, die Kinder erleben und in der sie sich arrangieren müssen. Kinder haben zunehmend mit variablen und instabilen Familienbeziehungen zurechtzukommen. Viele Kinder wachsen in kulturell heterogenen Zusammenhängen auf und machen früh die Erfahrung, dass es unterschiedliche Werte, Religionen und Lebensformen gibt. Typisch für jüngere Kinder in hoch entwickelten Industriegesellschaften ist, dass sie außerhalb der Familie kaum noch am sozialen Leben der Umgebung teilhaben können. Städtebauliche Entwicklungen haben mit der fortschreitenden Funktionalisierung öffentlicher Räume und der Dominanz des Straßenverkehrs gerade für jüngere Kinder die Zugänglichkeit der Wohnumgebung und der Straße verbaut. Kinder haben in diesem Prozess solche Orte verloren, an denen sie ihre eigene Sozialwelt aufbauen können. Die geringere Zahl der Kinder und moderne Wohnformen haben gerade auch nachbarschaftliche Kindernetzwerke reduziert. Das Wohnumfeld ist für Kinder sehr unterschiedlich. In Wohngebieten mit engen und ärmlichen Wohnverhältnissen mangelt es häufig an Qualität für Kinder im Nahbereich: Parkplätze statt Grünflächen, zu wenig Spielplätze und unverbauter Raum zum Umherstreifen, kaum Freizeitangebote. Untersuchungen zur regional unterschiedlichen sozialen Infrastruktur verweisen darauf, dass in schlecht situierten Wohngebieten auch die Versorgung mit Kindereinrichtungen ungünstiger ist.
Die Schere zwischen begünstigten und benachteiligten Lebenslagen geht immer weiter auf, wenn man nicht nur die familiäre Lebenssituation, sondern auch die Teilhabechancen der Kinder an den Angeboten von Jugendhilfe und Kinderkultur betrachtet. Es entstehen völlig neue Linien der Chancenungleichheit je nach dem, welche öffentlichen Angebote am Ort zugänglich sind. Die industrialisierte Gesellschaft hat Kindern viele traditionelle Einbindungen (wie die Geschwistergruppe, die Kinderclique in der Nachbarschaft) genommen, sie hat aber auf der anderen Seite neue Möglichkeiten und Freiräume geschaffen (wie z.B. erweiterte Angebote der Kinderkultur). Um aber die Chancen heutigen Kinderlebens zu nutzen, sind Kinder davon abhängig, ob sie in gut ausgestatteten Regionen leben und ob sie Eltern haben, die ihnen soziale Kontakte erschließen und Angebote der Kinderkultur finanzieren können. Sie selbst müssen dabei initiativ, kontaktfreudig und flexibel sein. Viele Kinder schaffen das hervorragend, andere tun sich damit schwer.
Ähnlich ambivalent ist der Einfluss der kommerziellen Welt: Die von Erwachsenen gestaltete Kinder- und Medienkultur erreicht die Kinder immer früher. Gezielt werden sie als potentielle Kunden und Nutzer angesprochen. Damit erschließen sich den Kindern zwar neue Handlungs- und Erfahrungsräume, aber sie werden auch zunehmend für eine kommerzielle Freizeitwelt und für Konsumgewohnheiten instrumentalisiert. Insgesamt sind die Modernisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts für Kinder zweischneidig: »Kinder erhalten einerseits viel mehr Aufmerksamkeit, mehr Entwicklungschancen, mehr Förderung; andererseits erfahren sie auch viel mehr gesellschaftlichen Druck. Aus Familienkindern, die mitleben in der Lebens- und Arbeitswelt ihrer Eltern, sind Institutionenkinder und Laufbahnkinder geworden, deren Vorankommen an Leistungen, Prüfungen und Anpassung gebunden ist« (A. Flitner). In der sozialpädagogischen Diskussion wird die Widersprüchlichkeit des zunehmenden Institutionenlebens von Kindern problematisiert: Mit der Chance, Kindern auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Lebensräume zu sichern, findet auch eine zunehmende Ausgrenzung der Kinder und der ihnen zugewiesenen Lebenswelten statt. Mit den Gestaltungsmechanismen von geplanten und organisierten Veranstaltungen für Kinder greift die Rationalität des Erwachsenenlebens auf die Kinder über und setzt letztlich eine wirksame Vergesellschaftung der Kinder durch.

2. Mit Blick auf die Lebenslagen und Bildungswege von Kindern ist grundsätzlich zu bedenken, dass Kinder nicht zuletzt aufgrund demographischer Entwicklungen zunehmend eine benachteiligte Bevölkerungsgruppe darstellen. Der Rückgang der Kinderzahl zeigt sich sowohl auf der Ebene der Familie als auch auf der Ebene der Gesellschaft: Die Zahl der Kinder geht absolut ebenso zurück wie ihr relativer Anteil an einer älter werdenden Gesamtbevölkerung. Kinder und deren Anliegen könnten – so wird befürchtet – mehr noch als bisher randständig werden. Familien mit Kindern sind materiell massiv benachteiligt, das ist allen politischen Parteien bewusst. Der größte Teil der »Kinderkosten« muss von der Familie aufgebracht werden, und die Erwerbschancen von Erwachsenen, die sich auf das Leben mit Kindern einlassen, sind vermindert. Lebensräume und Zeit für Kinder in Familien wie auch in Bildungsinstitutionen müssen mühsam gegen andere Interessen behauptet werden. Bei der in ökonomischen Mechanismen verankerten »strukturellen Rücksichtslosigkeit« (5. Familienbericht 1994) unserer Gesellschaft gegenüber Kindern und Familien werden inzwischen die »gesellschaftliche Sicherung frühkindlicher Bildungsprozesse« (U. Peukert) und eine neue »Kultur des Aufwachsens« (L. Krappmann) angemahnt.
Auch wenn die Mehrheit der Kinder, was Ernährung, Wohnbedingungen und Konsummöglichkeiten angeht, in unseren Wohlstandsgesellschaften im historischen Vergleich unter günstigen materiellen Verhältnissen aufwächst, belegt der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung »Lebenslagen in Deutschland« von 2001, dass das Armutsrisiko mit der Kinderzahl überproportional ansteigt. Die »Armut von Familien hat viele Gesichter«. Sie hat vor allem einschneidende Folgen für die Kinder, weil Armut für sie nicht nur bedeutet, dass »die für ein einfaches tägliches Leben erforderlichen Mittel unterschritten werden«, sondern dass es zugleich »an unterstützenden Netzwerken für ihre soziale Integration mangelt«, dass Kinder »von den für die Entwicklung von Sozialkompetenz wichtigen Sozialbeziehungen abgeschnitten bleiben«, »Bildungsmöglichkeiten für ihre intellektuelle und kulturelle Entwicklung fehlen« und sie »in ihrem Umfeld gesundheitlichen Beeinträchtigungen ausgesetzt sind«. Entsprechende Befunde haben in der Vergangenheit das Bundesverfassungsgericht zur wiederholten Aufforderung an die Regierenden veranlasst, den Familienlastenausgleich gerechter zu regeln. Kinderarmut darf ferner nicht nur materiell verstanden werden. Es gibt auch eine emotionale Armut, weil Eltern und andere Bezugspersonen nicht die Zeit haben oder sich nicht die Zeit nehmen, den Kindern die Zuwendung zu geben, die sie brauchen. Nicht selten werden Kinder in der Familie vernachlässigt und sind Gewaltanwendung ausgesetzt.
Faktische Schwächen der Familie mindern nicht ihre konstitutive gesamtgesellschaftliche Rolle, weil man gesellschaftliche Zukunft »ohne Familie gar nicht haben kann« und deshalb auch ihre Erziehungskompetenz vorrangig zu stärken ist. »Es muss die Einsicht wachsen, dass der Aufbau und die Erhaltung des Humanvermögens einer Gesellschaft in den Familien-Hauswirtschaften und die Produktion von Gütern und Diensten in den Wirtschaftsbetrieben zwei sich einander bedingende und einander fördernde Seiten der Wohlstandsentwicklung und der Kultur des Zusammenlebens und Wirtschaftens in Gegenwart und Zukunft sind.« (R. von Schweitzer)

3. Kinder brauchen grundlegende Bildungsprozesse, die sie in die Lage versetzen, in ihrer Welt zu bestehen und für sich soziale Lebenszusammenhänge schaffen zu können. Grundbedingung hierfür sind anregungsreiche Umwelten in der Familie und im weiteren Umfeld. Die Familie hat als Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und Gesellschaft eine herausragende Bedeutung. Sie gewährt in der Regel einen grundlegenden emotionalen Rückhalt, indem sie Gefühle der Zugehörigkeit und des Vertrauens erzeugt. Im Unterschied zur funktional differenzierten Gesellschaft, die ihre Mitglieder nach bestimmten Rollen definiert, sieht die Familie die Kinder als »ganze Personen« (L. Liegle). Erwachsene müssen das Lernen der Kinder interessiert begleiten und unterstützen. Die Familie ist der erste soziale Ort, wo auf der Grundlage wechselseitiger Liebe und Zuwendung sowie gemeinsam geteilter Bedeutungen gelernt werden kann, das Leben zuversichtlich anzugehen. Die Familie ist ferner die Stätte der »Verwirklichung Generationen übergreifender Solidarität«, der Ort, »wo Eltern Verantwortung für ihre Kinder übernehmen ... und an dem Kinder Verantwortung für ihre Eltern tragen« (Landessynode Bayern). Die Leistungen der Familie für das je einzelne Kind und für die Gesellschaft können jedoch nur unter bestimmten Bedingungen erbracht werden.
Für ihre Entwicklungswege und Bildungsprozesse brauchen Kinder insbesondere Zeit; diese ihre Eigenzeit lässt sich nicht unter »Effizienzdruck« verkürzen. Wenn aber Erwachsene sich auf ein Zusammenleben mit jüngeren Kindern und auf deren Bedürfnisse einlassen, müssen sie sich gesellschaftlichen Beschleunigungsprozessen entziehen und geraten in Gefahr, in anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht mithalten zu können. Viele Mütter – und zunehmend auch Väter – die der Kinder wegen eine Beeinträchtigung der Berufsperspektiven und ihrer Berufsbiographie in Kauf nehmen müssen, spüren dies schmerzlich in ihrer weiteren beruflichen Laufbahn.
Unbestritten ist ferner, dass Familien unter heutigen Lebensbedingungen nicht mehr allein die erforderlichen sozialen, emotionalen und kognitiven Erfahrungen und Lernmöglichkeiten bieten können, die grundlegende Bildungsprozesse der Kinder sichern. Eltern sind auf gesellschaftliche Unterstützung in Form von Arbeitsplatz-, Steuer-, Wohnungs- und Infrastrukturpolitik angewiesen – ein Anliegen, das nicht zuletzt im Interesse gelingender Bildungsprozesse von Kindern ernst genommen werden muss. Die PISA-Ergebnisse haben überzeugend aufgewiesen, dass in Deutschland eine frühe Förderung der Kinder im Vergleich zu anderen Ländern nicht ausreichend erfolgt. In sehr frühen Jahren werden die Grundlagen zum Lernen gelegt. Kleinkinder werden in ihrem unbändigen Verlangen nach Entdeckungen und Wissensdurst unterschätzt. Das »Weltwissen der Siebenjährigen« (D. Elschenbroich) spricht eine beredte Sprache. Spätere Lernunlust und schwache Lernleistungen, wie sie durch PISA für Deutschland festgestellt worden sind, haben mehrere Ursachen. Es ist richtig, dass fördernde Lernanregungen durch die Eltern in den allerersten Jahren eine unwiederbringliche Funktion haben. Aber bei den Eltern die Hauptursache für die schlechte Platzierung im Leistungsvergleich zu sehen, wäre nur halb richtig. Die Gesellschaft muss die Familie insgesamt stützen und in die Lage versetzen, ihren Teil beizutragen. Es kann nicht angehen, dass Eltern Defizite von Schulen in der Leistungsförderung des einzelnen Kindes durch eigene oder fremde Nachhilfe ausgleichen müssen. Die Familien wenden jährlich ca. 5 Milliarden Euro für Nachhilfeunterricht auf. Damit sind vor allem Kinder aus sozial schwächeren Familien benachteiligt, die solchen Unterricht meist nicht bezahlen können.
Die Familie ist primär nach ihrer kompetenten Erziehungsleistung gefragt. Kinder brauchen Eltern, die nach dem Erziehungsprinzip »Freiheit in Grenzen« (K.A. Schneewind) auf die Bedürfnisse der Kinder einerseits liebevoll eingehen, andererseits jedoch auch begründet Forderungen stellen, Regeln verabreden und Grenzen ziehen. Diese Erziehungsleistung können außerfamiliale Einrichtungen nicht ersetzen, wohl aber ergänzen. Hier kommen zuerst Kindergärten und Kindertagesstätten in den Blick. In diesem Kontext unterstreicht die evangelische Kirche, die selbst vielfach Trägerin von Einrichtungen im Elementarbereich ist, dass der Elementarbereich einen eigenständigen Bildungsauftrag hat. Er meint nicht schulförmige Bildungsprozesse, die sich fachlich aufgliedern und zu verfrühten Forderungen führen, wohl aber die oben betonte frühe Förderung in allen Dimensionen einer kindgemäßen Grundbildung. Auszugehen ist von der Eigentätigkeit der Kinder, ihrem Interesse und Vermögen zu Selbstbildung. Schon diese prinzipielle Bildsamkeit und Bildungsoffenheit verlangt jedoch je nach den mitgebrachten Voraussetzungen und Lebenslagen des einzelnen Kindes eine entsprechende spezielle Anregung und Unterstützung. Zusammen mit der Anregung von Phantasie und Kreativität ist die geistige Förderung und hierbei die nach PISA zentrale Bedeutung der Entwicklung des sprachlichen Vermögens der Kern des Bildungsauftrags. Migrantenkinder verdienen darin besondere Unterstützung.
Darüber hinaus umschließt die Bildung des Kindes die Bedeutung tragender emotionaler Beziehungen. Kinder müssen heute schon sehr früh mit allerlei kleineren und größeren Schwierigkeiten fertig werden. Sie suchen nach Strategien zur Lebensbewältigung. Die Konfrontation mit Hindernissen regt ihre geistige Entwicklung an; diese Entwicklung als mechanistischen Verlauf aufzufassen, wäre schon aus neurologischer Perspektive falsch. Für einen kraftvollen, zuversichtlichen Einstieg ins Leben und eine ausgeglichene geistige Entwicklung brauchen die Kinder jedoch Vertrauen in die Eltern und andere nahe Personen. Aus Vertrauen erwächst Zutrauen zu sich selbst und zum Leben.

4. Schon im frühen Alter tragen Kinder ferner auf oft überraschende Weise ihre Sicht der großen und kleinen Lebensprobleme nach außen. Sie drücken ihre Gefühle aus und fragen nach dem »Warum«. Häufig haben derartige Formulierungen eine philosophische Tiefendimension, die oftmals auch religiös-theologisch verstanden werden kann. Biblische Geschichten und andere Erzählungen, die sich auf die Fragen der Kinder beziehen, werden daher gern angenommen, mitvollzogen und nachgespielt. Sie sind wichtige Orientierungshilfen.
Über ihr religiöses Interesse können Kinder anders als Erwachsene oft ganz unbefangen kommunizieren. In der Begegnung mit Erwachsenen brauchen sie allerdings einen Freiraum für ihre eigenen Erfahrungen und Deutungen, nicht nur Korrektur oder Belehrung. Erwachsene sollten erkennen, dass die Kinder selbständig ihre eigene Religion entwerfen. Hierbei verwenden sie zwar, was sie vom Christentum beziehungsweise den anderen Religionen sehen und hören; aber nie übernehmen sie einfach nur, um sich damit zu begnügen. Dafür sind sie viel zu sehr aktive Erkunder ihrer sie immer wieder neu überraschenden Welt und eigenständige Entdecker von möglichen Antworten auf die Rätsel, die sich ihnen auftun. Jedes Kind entwickelt gleichsam seine eigene Theologie; dies ist zumindest sehr wahrscheinlich dort der Fall, wo in einer Gesellschaft insgesamt noch von Gott die Rede ist und es Ausdrucksformen von Religion gibt. Darum ist es unerlässlich, dass die Interessen und die Rechte der Kinder auch in diesem Bereich geachtet werden (vgl. EKD-Stellungnahme »Religion in der Grundschule«, 2000).


2.2 Lebenslagen Jugendlicher

Ähnlich wie bei der Situation der Kinder ist auch im Blick auf die Jugendlichen eine kulturpessimistische Verzerrung unangebracht. Analog zur Kindheit wird jedoch die Jugendzeit ebenfalls von Spannungen und Widersprüchen bestimmt. Die früher relativ einheitliche »Statuspassage Jugend« zerfällt heute in plurale Verlaufsformen und Zeitstrukturen – je nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des individuellen Aufwachsens. Die Unterschiede zwischen Geschlechtern, sozialen Verhältnissen, schulischer Laufbahn, ethnischer Zugehörigkeit, beruflichem Werdegang, materiellen Möglichkeiten, ökonomischer und soziokultureller Selbständigkeit, regionaler Herkunft etc. sind so stark, dass gleichsam mehrere »Jugenden« nebeneinander existieren, die in unterschiedlichen Altersphasen beginnen und enden. Bleibt dieses unberücksichtigt und wird dennoch ein einheitliches »Konstrukt Jugend« als Orientierungsrahmen für bildungspolitisches, jugendpolitisches und jugendpädagogisches Handeln beibehalten, kommt es unweigerlich dazu, dass Lebensrealität und politisch-pädagogische (Bildungs-)Programme auseinander klaffen, weil junge Menschen als Subjekte nicht wirklich ernst genommen werden.

1. Der bildungsoptimistische Lebensentwurf, der von Jugendzeit als Vorbereitung und Qualifizierung – im Sinne von Bildung und Identitätsbildung – und von einem Erwachsenenleben als Lebensphase der »verschobenen Belohnung« und Bewährung ausging, hat seine Plausibilität weithin verloren. Selbstsuche, experimentelle und expressive Selbstinszenierungen haben sich biographisch bis in das Alter der 10-14-Jährigen vorverlagert. Ebenso schieben sich die typischen Problemlagen der Erwachsenenwelt immer stärker in das Jugendalter hinein. Jugendliche stehen frühzeitig vor der Aufgabe, Probleme ihrer Zukunft bewältigen zu müssen. Diese Zukunft empfinden sie als ausgesprochen unberechenbar, weil sie nicht wissen, welche gegenwärtigen Entscheidungen und Weichenstellungen sich als biographisch tragfähig erweisen. Viele beschäftigt das Thema Arbeitslosigkeit beziehungsweise die Frage nach einer verlässlichen beruflichen Perspektive heute mehr als die klassischen Selbstfindungsfragen der Jugend- und Adoleszenzphase.
Besonders prekär ist die Lage für diejenigen jungen Menschen, die ohne abgeschlossene Schul- und/oder Berufsausbildung die Zeit ihres Erwerbslebens bewältigen müssen. Für diese sogenannten »gering qualifizierten« jungen Menschen bietet unser Beschäftigungssystem kaum mehr Möglichkeiten, weil entsprechende Stellen aus Kostengründen immer häufiger abgebaut werden. Die Gründe, weshalb Jugendliche in unserem Bildungswesen scheitern, sind vielfältig und unterschiedlich. Sie liegen teilweise sicher auch an der Persönlichkeit oder an einer verzögerten Entwicklung, aufgrund derer junge Menschen den Anforderungen im maßgeblichen Alter (noch) nicht gewachsen sind. In nicht unerheblichem Maße spielen aber auch benachteiligende Umstände eine Rolle – etwa mangelnde Sprachkenntnisse von jungen Menschen, die erst im höheren Alter nach Deutschland kommen, oder ein soziales und familiäres Umfeld, das die Entwicklung der nötigen Potentiale behindert.
Der wirtschaftliche Selektions- und Konkurrenzdruck wird von den Jugendlichen deutlich empfunden. Was dabei vielleicht erstaunt, ist die Tatsache, dass die meisten jungen Menschen dies nicht resignierend beklagen, sondern ein hohes Maß an Bereitschaft und Fähigkeiten entwickelt haben, sich flexibel und optimistisch dieser Herausforderung zu stellen: »Der Virus der Unübersichtlichkeit bereitet den meisten Jugendlichen vermutlich weniger Schlaflosigkeit als den Funktionären, Lehrmeistern und Jugendforschern« (J. Goebel/C. Clermont). Die meisten von ihnen sammeln mit großer Virtuosität möglichst viele Optionen in der Hoffnung, dass daraus ein Puzzle von verschieden kombinierbaren Qualifikationen und Kompetenzen entsteht, die durch das Leben tragen. Ehrenamtliches Engagement zum Beispiel wird – auch in der kirchlichen Arbeit – zunehmend unter dem Gesichtspunkt bewertet, ob und inwiefern die investierte Zeit und Kraft für eine spätere Berufstätigkeit nützlich sind. Festzustellen ist, dass sich viele Jugendliche damit weder hinsichtlich der Fragen und Probleme noch der Bewältigungsstrategien und Grundhaltungen von den heute Erwachsenen unterscheiden. Auch hier verschwimmt eine klare Abgrenzung zwischen Jugendlichen und Erwachsenen immer mehr.

2. In einer gewissen Gegenläufigkeit dazu steht die Tatsache, dass unser Bildungssystem in Verbindung mit den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zu einer immer längeren Verweildauer junger Menschen in vorbereitenden Bildungseinrichtungen führt: Bis zur Volljährigkeit, ja bis weit in das dritte Lebensjahrzehnt hinein heißt Jungsein für die Mehrheit heute Schülersein. Zwischen 16 und 20 Jahren ist nur 1 % erwerbstätig, ein Drittel sind Auszubildende, aber gut 50 % sind Schüler. Dadurch verfestigt sich die Entmischung der Generationen. Junge Menschen geraten in eine Situation, die ihrer sonstigen Lebensrealität nicht mehr entspricht: Sie bleiben gezwungenermaßen unter sich und werden auf die Rolle von Schülern festgelegt, die von Erwachsenen unterrichtet werden. Außerhalb dieses Schul- und Bildungssystems befinden sie sich jedoch längst in einer anderen Situation. Dort begegnen Lehrerinnen und Lehrer ihren Schülerinnen und Schülern nicht selten in ganz anderen Rollenkonstellationen wieder. Darin, so sagen nicht wenige junge Leute, machen sie die eigentlichen Erfahrungen und sammeln sie Kompetenzen, die sie für ihre biographische Zukunft für entscheidend halten.

3. Jugendliche leben gleichzeitig in mehreren »Welten«. Sie haben einerseits gelernt, durch diese Lebenswelten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen zu »surfen«, die entsprechenden (oft stark differierenden) Rollenanforderungen auszufüllen und damit verbundene Widersprüche zu integrieren; also jugendlich zu leben und dennoch hinsichtlich wichtiger sozialer Kriterien längst erwachsen zu sein. Sie stehen andererseits vor der schwierigen Aufgabe, nicht länger als von ihnen selbst gewollt in der Lebenslage Jugend gefangen zu bleiben, sondern sie einigermaßen erfolgreich, also auch mit einer ausreichenden wirtschaftlichen Unabhängigkeit, zu beenden. Je weniger beziehungsweise je später dies gelingt, desto mehr scheint – trotz damit verbundener im Durchschnitt höherer formaler Bildungsabschlüsse – das subjektive Empfinden von Orientierungslosigkeit und verpasster Chancen zu wachsen. Jugendliche spüren, dass die immer noch von der Erwachsenengesellschaft versprochene Gleichung, eine gelingende Jugend führe zu einer gelingenden Zukunft, nicht mehr stimmt.

4. Die Mehrzahl junger Menschen weiß also sehr genau, dass sie nach eigenen Wegen suchen und eigene Lebensstile und Lebensführungen entwickeln muss. Sicherheit und Orientierung finden sie dabei mehr in der Gruppe der Gleichaltrigen, die vor ähnlichen Schwierigkeiten stehen, als bei den Erwachsenen. Traditionelle Muster und Leitbilder haben darum in den Augen junger Menschen ihre verbindliche (sozial-kontrollierende) und allgemein orientierende (und damit individuell entlastende) Funktion verloren. Sie wissen um die tendenziell gestiegenen Möglichkeiten und legitimen Lebensmuster, spüren aber auch den höheren Druck und die Verantwortung, inmitten aller Unübersichtlichkeiten den individuell eigenen Lebensweg finden zu müssen. Es ist ihnen durchaus bewusst, dass ihre Chancen dabei mehr als früher abhängig sind von individueller Leistungsbereitschaft, flexibler und risikobereiter Nutzung verschiedener, manchmal auch nur vermeintlicher Möglichkeiten, einem breit gefächerten Spektrum erworbener Grund- und Ausgangsqualifikationen sowie hohen sozialen Kompetenzen und Selbstmanagementfähigkeiten.
Geschlossene Konzepte der Lebensführung und der Identität erweisen sich angesichts der genannten Lebenslagen kaum noch als sinnvoll. Die jungen Leute müssen vielmehr mitten in einem Prozess ständiger Wandlungen ihre Identitätsbildung leisten. Dies erfordert die Kunst, Balance zu halten zwischen dem »eigenen roten Faden im Leben«, also der Selbstinterpretation und der »Einheit des Selbst« auf der einen und dem flexiblen Rollenwechsel je nach Anforderungen der Umwelt auf der anderen Seite.

5. Auf diesem Hintergrund fragen junge Menschen – vielleicht sogar intensiver als vor Jahren – nach Werten und Lebenssinn, also nach typisch religiösen Kategorien. Sie thematisieren auch diese Fragen nicht grundsätzlich und losgelöst vom Horizont ihres Lebensalltags, sondern im Rahmen des Erreichbaren und einer notwendigen, praktikablen Lebensführung, die keine geschlossenen und ausschließenden Antwortsysteme verträgt. Sie wollen ernst genommen werden, nicht nur als religiös suchende, sondern auch als religiös produktive Personen. Sie suchen nach Orientierungshilfen, die sich als plausibel erweisen und hilfreich für die Bewältigung der eigenen Biographie, die nicht von der sie umgebenden gesellschaftlichen Realität loszulösen ist.
Jugendliche empfinden den weltanschaulichen Pluralismus als etwas Normales. Die Unterschiede zwischen den Konfessionen und zwischen den Religionen werden relativiert. Letztlich messen viele Jugendliche und junge Erwachsene vor allem in Westdeutschland Kirchen, Konfessionen und Weltreligionen an der Frage nach Gott und den sie umgebenden Lebensfragen. Letztere bilden den Ausgangspunkt. Auch wenn Jugendliche und junge Erwachsene ungern offen über Religion reden, machen ihnen die Rätselhaftigkeit und Schwere des Lebens an seinen Grenzen und die Widersprüchlichkeit des Alltags vielfach so zu schaffen, dass sie über diesen Alltag hinaus nach – auch religiöser – Orientierung fragen. Zunächst messen sie die Kirche gewöhnlich an einfacheren Erwartungen, auf die jedoch bereits sehr genau zu hören ist. Sie betreffen die alltagsbezogenen Probleme der Lebensbewältigung. Eine Kirche, die zu diesen Problemen auf Distanz geht und theologisch über sie hinwegredet, hätte verspielt. Unter der Oberfläche des Alltags aber warten Fragen auf Antwort wie die nach dem Tod und einem möglichen Weiterleben, nach einer Welt ohne Hass, Gewalt und Krieg, nach mehr Gerechtigkeit und dem Lebenssinn überhaupt. Problemloses Desinteresse ist keineswegs überall verbreitet. Die Frage nach Gott berührt eine untergründige Vermutung; denn es steht die Sinnhaftigkeit alles Einzelnen wie des Ganzen auf dem Spiel (vgl. »Identität und Verständigung«, EKD-Denkschrift zum Religionsunterricht in der Pluralität, 1994).
In bemerkenswerter Weise wirkt es sich bis in die Alltagsethik und entsprechende öffentlich wichtige Bildungsbereiche hinein aus, wenn Jugendliche zu den kirchlich-konfessionell Engagierten zu zählen sind. Ihre Mobilitätsbereitschaft ist durchgehend am höchsten; bei der Berufsorientierung haben sie die höchsten Mittelwerte; im Blick auf Zukunfts- beziehungsweise Partnerschaftsorientierung wollen sie zum kleinsten Anteil keine Kinder. Bedeutsame ethische Auswirkungen religiöser Bindung zeigen sich ferner im Blick auf das Politikinteresse: 55% der männlichen Katholiken, 50% der männlichen Evangelischen und 46% der männlichen Muslime haben Interesse an Politik; geringes Interesse zeigen Jugendliche, die keiner Religionsgemeinschaft zugehören (32%), und weibliche islamische Jugendliche (28%) (Shell-Studie 2000).
Zusammengefasst fordern die dargestellten Kennzeichen jugendlicher Lebenslagen unsere Gesellschaft in einschneidend veränderter, grundsätzlicher Weise dazu heraus, jungen Menschen Ressourcen in Form von förderlicher Begleitung und Orientierung eröffnenden (Lebens-)Räumen zur Verfügung zu stellen. Angesichts der komplexen, vielschichtigen und uneinheitlichen Lebenslagen lässt sich diese Aufgabe nur mit einem konsequent entwickelten Netz von Angeboten beantworten. Neben Schule und Elternhaus muss ein breites Spektrum strukturell und funktional aufeinander bezogener Bildungsorte gewährleistet bleiben, die sich wechselseitig durchdringen und die für die prinzipielle Vielgestaltigkeit subjektiv erforderlicher Bildung offen sind. Dazu gehören alle Formen der Jugendhilfe und insbesondere Angebote der Jugendarbeit, die freiwilliger Natur und nicht auf das Erreichen eines bestimmten Bildungsziels ausgerichtet sind. Durch sie entsteht ein besonderer Freiraum auch für ungeplante und nicht intendierte, sehr wohl aber reflektierte Bildungsprozesse, die sich im Alltag und in der Freizeit ergeben. Zwischenmenschliche Begegnungen und Erfahrungen bilden ein breites, notwendige Begegnungen zwischen einheimischen und ausländischen jungen Mitbürgern und Mitbürgerinnen ein zum Teil brisantes Handlungsfeld.


2.3 Lebenslagen Erwachsener

In den westlichen Industriegesellschaften ist eine Dreiteilung des Lebenslaufs institutionalisiert worden, in Vorbereitungs-, Arbeits- und Ruhestandsphase (M. Kohli). Sie gilt noch im Ganzen, verändert sich jedoch im Zuge der oben umrissenen gesellschaftlichen Wandlungen:

– Hinsichtlich der zeitlichen Abgrenzungen hat sich die vorbereitende Ausbildungszeit historisch ausgedehnt, die Erwerbsarbeitszeit zusammengezogen, der Ruhestand verlängert. Er macht bereits mehr als ein Drittel des Erwerbslebens aus, sodass man nicht mehr von »Restzeit« sprechen kann.
– Durch die Forderung »lebenslangen Lernens« durchdringt Bildung in historisch neuen betrieblichen und staatlichen Institutionalisierungen auch die späteren Erwachsenenphasen, Bildung als »wiederkehrendes« Phänomen (»recurrent education«).
– Zwar betreffen die meisten gesellschaftlichen Herausforderungen mit ähnlichen Auswirkungen alle Teile der Bevölkerung; die Einzelnen gehen aber mit diesen Herausforderungen individuell unterschiedlich um. »Vergesellschaftung« und »Singularisierung« finden gleichzeitig statt (M. Kruse). Vom Anfang ihres Lebens an sind zwar alle Menschen Einflüssen von außen ausgesetzt, sie haben aber prinzipiell die Freiheit, ihr Leben selbst zu gestalten. Wie diese Spielräume zur Selbstbestimmung faktisch beschaffen sind oder erweitert werden können, ist eine zentrale Bildungsfrage.
– Gesellschaftliche Leitbilder wirken sich vereinheitlichend aus und nähern Erwartungen, Haltungen und Bewältigungsstrategien von Jungen und Alten einander an. Nachhaltigen Einfluss bis ins Alter haben die Vorstellungen vom »Immer-jugendlich-Sein« und von »Leistungsfähigkeit«.
– Das Leben der Erwachsenen zeigt durchgehend beides, Veränderung und Konstanz. Während einerseits unvorhersehbare Schicksalsschläge biographische Umbrüche, geographische Verwerfungen und tiefe seelische Veränderungen bewirken können, kann andererseits ein Leben als Erwachsener am selben Ort und in ruhigen Bahnen noch relative Stetigkeit mit sich bringen.

1. Grundsätzlich stehen Erwachsene mit Heranwachsenden in Beziehung, weil sie als Eltern, Erzieher, Lehrer und Ausbilder mit ihnen zu tun haben. Besonders Eltern sehen ihre persönlichen Sorgen doppelt, für sich selbst und für ihre Kinder. Sie haben ihre eigenen Probleme und müssen sie zugleich für ihre nachwachsenden Familienmitglieder befürchten. Anders als früher ist ihr pädagogisches Verantwortungsgefühl wegen der generellen Einschätzung der Kinder als kostbares Gut gewachsen. So ist heute die Beziehung zu den Kindern erwartungsvoll besetzt und zugleich belastend beschwert. Ein charakteristisches Merkmal der Lebenslagen Erwachsener, sofern sie Eltern sind, besteht mithin bereits in den schwieriger gewordenen Erziehungsaufgaben und den ungewissen Zukunftsaussichten.
Auf ihre Lebenslage angesprochen, werden Erwachsene zunächst meist an ihre gesundheitliche, familiäre und berufliche Situation denken sowie an sich selbst als Mann oder Frau: im einen Fall physische Stabilität und Tätigkeit über den Eintritt in das Rentenalter hinaus, im anderen frühe Invalidität, im einen verheiratet mit Kindern in derselben Ehe, im anderen mehrfache Lebenspartnerschaften, Kinderlosigkeit, Alleinerziehung, Singleexistenz; hier ein und derselbe Beruf, dort ein Driften zwischen wechselnden Anstellungsverhältnissen; hier Balance zwischen unterschiedlichen Rollenanforderungen, dort der Zusammenbruch vom Traum eines erfolgreichen Lebens in Familie und Beruf.
Sozialpolitisch gemünzte und wissenschaftliche Einteilungsversuche sind fragwürdig geworden. Von sozialen »Klassen«, selbst von sozialen »Schichten«, wird kaum noch geredet. Trotzdem sind bei den Lebenslagen Erwachsener erhebliche soziale Differenzen festzustellen. Manche sprechen von einer Zwei-Drittel-Gesellschaft und meinen damit, dass ein Drittel unserer Gesellschaft von der gesellschaftlichen Entwicklung abgekoppelt ist. Obwohl sich stabile Milieus kaum noch feststellen lassen, liegen zwischen den Lebenslagen von Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen, von Migranten und Einheimischen, von Managern und Obdachlosen Welten. Diese großen Differenzen werden zudem von den »feinen Unterschieden individueller Habitus-Bildung« (P. Bourdieu) überlagert.
Eine Unterteilung des Erwachsenenlebens nach »Lebensphasen« behält zwar ebenfalls ihren Sinn, zumindest aufgrund des nicht aufzuhaltenden, irreversiblen Älterwerdens; aber sonst verflüssigen sich die Phasen. Zu rechnen ist mit gewissen lebenslauftypischen »Krisen«, mit kritischen »Passagen« oder »Übergängen«, zumindest mit »kritischen Lebensereignissen«. Schwere Erkrankung, der Tod des Lebenspartners oder der Tod des Kindes wie auch andere Verlusterfahrungen erschüttern die Betroffenen meist sehr und können den Lebenslauf tiefgreifend verändern. Dennoch werden sie stets individuell erlebt. Ebenso sind die klassischen Annahmen von einem relativ fest diagnostizierbaren Ablauf von »Entwicklungsstadien« aufgrund von »Entwicklungsaufgaben«, auch in religiöser Hinsicht – hier etwa im Blick auf eine »Glaubensentwicklung« in »Stufen« –, auf der einen Seite hilfreiche Ansätze, um auf typische religiöse Lebenslagen aufmerksam zu werden und prinzipiell zu begreifen, dass Kinder anders glauben und selbst Erwachsene sich noch religiös entwickeln. Gleichzeitig bleibt auf der anderen Seite jede individuelle Situation und jede persönliche Glaubensgeschichte unvergleichbar. Darum seien Lebenslagen von Erwachsenen heute im Folgenden nach zwei Seiten hin nur exemplarisch angedeutet.

2. Die neuere Biographieforschung macht auf die biographischen Erfahrungen von Frauen aufmerksam. Seit längerer Zeit weisen besonders junge Frauen eine erkennbar höhere Bereitschaft auf, neue Lebenswege zu beschreiten und sich mit großem Einsatz eine Basis für eine selbständige Lebensführung einschließlich Berufstätigkeit zu erarbeiten. Mit der männlichen Seite eint sie die Vorstellung, dass sich Familie und berufliches Engagement verbinden lassen. Diese Sichtweise ändert sich allerdings bei den etwa 22-24-jährigen Frauen: die Balance zwischen Familien- und Berufsleben verlagert sich zugunsten von Familie und Partnerschaft. Wegen des geschlechtsspezifisch geteilten Arbeitsmarktes und höherer Zugangsbarrieren erfahren sie eine stärkere Verunsicherung, ob sie ihre Lebens- und Berufspläne verwirklichen können. Zudem zeigen die Befunde, dass die Ehe- und Lebenspartner zwar mehrheitlich und voller guter Absichten Bereitschaft zeigen, eine partnerschaftlich geteilte Verantwortung für Haushalt und Familienarbeit zu praktizieren, dies aber schon bald – aufgrund der beruflichen Anforderungen und spätestens bei Geburt eines ersten Kindes – wenig realisiert wird. Wenn junge Frauen dann ihre ehemals verfolgten Lebensvorstellungen nicht ganz aufgeben, nehmen sie in der Regel eine Doppelbelastung in Familie und Beruf in Kauf, die – je nach Art und Verantwortungsgrad der beruflichen (Teilzeit-)Tätigkeit – ihnen nicht nur enorme Kraft und Selbstvertrauen abverlangen, sondern auch phantasievolle Gestaltungsfähigkeit jenseits traditioneller Muster von Lebensführungen.
Aus kirchlicher Sicht ist es wichtig festzustellen, dass die Lebenslagen von Frauen in den westlichen Bundesländern oft noch mehr oder weniger eng, deutlicher jedenfalls als bei Männern, mit religiösen Orientierungs- und Bildungsbedürfnissen verbunden sind, während in den ostdeutschen Bundesländern Frauen zumeist weder getauft noch konfirmiert sind. Jüngere Frauen entdecken ihre Verlegenheiten gegenüber Religion und zu ihrer Überraschung zuweilen auch ihr wieder erwachtes Interesse an Religion, wenn sie als Mütter auf religiöse Fragen ihrer Kinder antworten sollen. Ihr Blick auf das Kind umschließt verschwiegen auch seinen spirituellen Weg als Weg unter dem Segen Gottes. Bei Taufen und Konfirmationen ist daher der Segen heute besonders wichtig.
Wenn die Kirche Raum geben will für den genuinen Glaubensvollzug, dann muss sie ein Raum sein, wo Frauen und Männer ihre eigenen Glaubensüberzeugungen und -aufgaben (Berufungen) entdecken und leben können, ohne dass diese mit vorgegebenen Rollenstereotypen gesellschaftlich oder kirchlich vorweg definiert sind. Ihre Glaubenserfahrungen und -vorstellungen und ihre religiöse Sprache als Frauen und Männer müssen in spürbarer Weise wahrgenommen und anerkannt werden.

3. Das Nachdenken über Kinder und ältere Menschen – um den Kreis der Generationen zu schließen – muss zu einer wichtigen Perspektive des Nachdenkens über die Zukunft der Gesellschaft werden. Wenn nämlich neben der Familie und ihrer bleibenden Hochschätzung (nebst sozialen Netzwerken und Freizeit) das Leben in »Arbeitsgesellschaften« zentral um Arbeit kreist, stehen Lebensphasen vor oder jenseits der Erwerbsarbeitsphase auf dem Prüfstand gesellschaftlicher Wertschätzung. Die Gesellschaft braucht die Bildung der jungen Generation aus Gründen der allgemeinen Reproduktion und erwartet heute verstärkt ständige Weiterbildung; hinsichtlich der Ruhestandsgeneration fragt sich dagegen, ob Gesellschaften unseres Typs mit der erwähnten Dreiteilung in Vorbereitungs-, Arbeits- und Ruhestandsphase auch die älteren Menschen noch brauchen. »Senioritätsgesellschaften« vermeiden abrupte Rollenwechsel; im interkulturellen Vergleich sind unsere einschneidenden Übergänge eher selten. Nur für wenige privilegierte Berufsgruppen (z.B. in freien Berufen, Politik und Wissenschaft) gilt das Gesetz der rigiden Verabschiedung so nicht. Insgesamt steht die Gesellschaft vor der Entwicklung einer »differenzierten ›Kultur des Alterns‹« (P.B. Baltes/J. Mittelstrass) für alle. Dabei sind eine verklärende Sicht auf historisch vergangene Epochen oder einseitige Beschreibungen der Beschwernisse des Alters zu vermeiden. Für eine »Kultur des Alterns« ist Bildung ein Kernmoment, allerdings in anderen Gestalten als in ihrem Bezug zur Erwerbs- beziehungsweise Lohnarbeit. Bildung zielt nun verstärkt auf »Orientierungswissen« (vgl. 4.1) und »weisheitsbezogenes Wissen« (U. Staudinger/J. Smith/P. B. Baltes). Folgende Faktoren sind relevant:

– Altern geschieht mehrdimensional, als physisches, willentlich-handelndes und geistiges, psychisches und soziales Altern. Schon der kognitive Bereich, auf den bei dem Stichwort »Bildung« im Kontext sogenannter »geistiger Frische« zuerst der Blick fällt, zwingt zu einer Differenzierung. Während die »fluide Intelligenz«, die sich besonders bei abstraktem Problemlösen und figuralem Denken zeigt, in der Regel nachlässt, erhält sich meist eine »kristalline Intelligenz« als angesammeltes kulturelles Erfahrungswissen und als bereichsspezifisches Expertenwissen. Die Generationen der Jüngeren sind gefragt – wenn denn die intergenerationelle Verständigung nicht eine Leerformel bleiben soll –, ob sie auf dies Erfahrungswissen zugehen wollen oder nicht.
– Altern ist ein objektives Faktum; manches ist unvermeidlich, vieles nicht. Die in dieser Denkschrift weit gefasste Bildung des Menschen meint immer den ganzen Menschen. Ein noch wacher, gebildeter und sich weiter bildend umsehender Geist (ein Aspekt des »weisheitsbezogenen Wissens«) lässt körperliche Gebrechen weniger schwer erscheinen. Falls auch die geistigen Kräfte und Handlungsaktivitäten wesentlich nachlassen, also das physische wie das geistige Altern unumkehrbar sind, bleibt in der Sphäre des psychischen Altwerdens das emotionale Erleben erhalten. Liebe kann von anderen erfahren und auch in aller Schwäche anderen gegeben werden. »Bildung« erscheint als »Haltung« und »Lebensform« im Zusammensein mit anderen Menschen bis hin zur »Würde« im Sterben. Im Angesicht der Unausweichlichkeit des Todes ist die Generationenbeziehung ganz besonders herausgefordert. Der alte Mensch darf gerade jetzt nicht von anderen verlassen werden – Einsamkeit als soziales Altern. In der Sphäre der letztgültigen sozialen Kommunikation ist aus christlicher Sicht Gott die unversiegliche Quelle von Lebendigkeit, die Verheißung »ewiger« Kommunikation unter dem von ihm empfangenen »Namen« (Jesaja 43,1). Darauf kann vorbereitet werden. Gebet und Meditation, Gesten und Riten, Symbole und Bilder sind Elemente »spiritueller Bildung«.
– Auf dem Hintergrund dieses Spektrums sei der Blick auf Sachverhalte der Bildung im Einzelnen fokussiert:
 • Es ist ein gesichertes Ergebnis, dass Bildungsaktivitäten im späteren Lebenslauf, die zu der einen oder anderen Sphäre beitragen können, am ehesten durch eine gute Allgemeinbildung gefördert werden.
 • Benachbart gilt das »eherne Gesetz« der Bildungsakkumulation im Lebenslauf: Weiterbildung als Erwachsener wirkt nicht einfach kompensatorisch in dem Sinne, dass Personen mit geringer Ausbildung Bildung nachholen; vielmehr erlangen bereits Gebildete zusätzliche Bildung (K. U. Mayer).
 • Alter ist weiblich; Frauen bilden die Mehrzahl der älteren Generation.
 • Neben den Unterschieden im Bildungs- finden auch die im Einkommensniveau gerade im Alter als soziale Ungleichheit »ihren deutlichsten und letztgültigen Niederschlag. Weniger gebildete und weniger wohlhabende ältere Menschen sterben im Durchschnitt früher« (P. B. Baltes/J. Mittelstrass/U. Staudinger).
– Freiheit und Würde stehen besonders bei älteren Menschen auf dem Spiel. Bildung öffnet immer wieder Türen; der Zugang zu Bildung muss allerdings seinerseits ebenso offen sein. Der Blick auf ältere Menschen zeigt in einmaliger Klarheit, wie vieldimensional Bildung beschaffen ist und entsprechend vieldimensional gefördert werden muss. Krasse Übergänge erschweren das Streben gerade älterer Menschen nach äußerer und innerer Kontinuität. Besonders prekär kann der Zeitpunkt des Abbruchs der Kontinuität werden, die vorzeitige Entlassung in die Arbeitslosigkeit, weil sie nicht nur mit neu gewonnener Freiheit, sondern auch mit Selbstwertverlust einhergehen kann.

4. Die evangelische Kirche drängt darauf, dass Bildungsplanungen die Lebenslagen der Menschen nicht außer Acht lassen. Es geht bei Bildung um das Leben als Individuum. Erst auf seinem ganzen Lebensweg bildet sich der Mensch als Mensch. Diese biographieorientierte Leitperspektive lenkt den Blick auf die Beziehung zwischen den Generationen. Alle müssen von- und miteinander lernen. Darum brauchen Schülerinnen und Schüler Schulen, die sich außerschulischen Bildungsräumen öffnen – unter besonderer Beachtung sozialen Lernens und der Bildung von Einstellungen wie Empathie, Fürsorglichkeit, Hilfsbereitschaft, Gemeinsinn, Gerechtigkeitsgefühl, Solidarität, Kinderfreundlichkeit und Freundlichkeit gegenüber alten Menschen und Fremden. Auf diese Weise kann primär an Vorbildern und durch eigenes Engagement erfahren werden, was Menschsein und menschliche Gemeinschaft meint. Als außerschulische Bildungsräume bieten sich auch Kirchengemeinden und kirchliche Einrichtungen an. Bestimmte gesellschaftliche Veränderungen unserer Zeit bergen die Chance zu neuen Formen des Lernaustausches und damit wechselseitiger Wertschätzung: Eltern lernen von Kindern, Lehrer von Schülern, Alte von Jungen. Gefährdet sind Menschen der »mittleren Erwerbsgeneration«. Sie können den menschlichen Gewinn einer gelebten »Mehrgenerationen-Gesellschaft« verspielen, wenn die Tagesgeschäfte sie derart absorbieren, dass der Sinn für die tragende Bedeutung der jungen Generation im Blick auf den Lebens- und Kulturtransfer und der Dank für die ältere Generation verloren gehen. Was immer den Menschen als Menschen ausmacht (vgl. 2.4) – wenn er hinsieht und hinhört und seine Wahrnehmungsfähigkeit von frühauf gebildet wird, erlebt er die Mehrsprachigkeit der Generationen und damit die soziale Mehrdimensionalität der conditio humana (vgl. 1.2).


2.4 Was ist der Mensch?

Was den Menschen ausmacht, ist strittig. Sichere Pfade der Erkenntnis gibt es nicht, weder empirisch noch normativ. Manche Anthropologen haben darauf mit Historisierung reagiert. Was Menschlichkeit bedeutet, könne man nur noch momentan, im Blick auf eine gegebene Zeit, und regional, im Blick auf einen gegebenen Ort, bestimmen. Die Debatte über westliche Menschenrechte und »asiatische Werte« weist eine solche Tendenz auf. Was der Mensch sei, bestimme sich also in Beziehung auf jeweils konkret gegebene raum-zeitliche Situationen, das heißt relational. Eine solche geschichtsbewusste Auffassung ist zweifelsfrei ein Fortschritt gegenüber allgemeinen und abstrakten Entwürfen des Menschen und erst recht gegenüber fixen Menschenbildern. Gleichwohl führt auch ein solcher Weg der Historisierung nicht aus dem Dilemma von Partikularität und Universalität. Welche Beschreibung des Menschen gilt nur kulturell partikular? Welche sollte universale Geltung erlangen?
Hinsichtlich übergreifender Maßstäbe besteht Konsens über die Rolle der Grundrechte. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert diese Grundrechte in der Menschenwürde und den Menschenrechten (Art. 1 GG). Die Menschenwürde ist jedem Menschen unveräußerlich gegeben. Dieser »souveräne Indikativ« (E. Jüngel) besagt, dass sie unmittelbar aus dem Menschsein beziehungsweise dem Personsein des Menschen folgt und weder durch menschliche Tätigkeiten erzeugt, noch durch menschliches Handeln genommen oder »angetastet« werden kann. »Verletzbar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt« (BVerfG 1992). Diese grundgesetzliche Normierung erinnert an die reformatorische Einsicht, wonach nicht das Werk die Person macht, sondern dank göttlicher Anerkennung die Person das Werk. Daran ist in diesem Zusammenhang erneut zu erinnern. Zugleich wird mit der Unterscheidung zwischen Mensch und Gott, wie sie in der Präambel des Grundgesetzes anklingt, an die Grenzen des Menschen erinnert. Ihrer eingedenk wird der Mensch als Person sichtbar, der als aktives Wesen zu achten, dessen »freie Entfaltung der Persönlichkeit« zu fördern und der zu selbstverantwortlichem Handeln zu befähigen ist.
Bei der Frage nach dem Menschenbild helfen allerdings abstrakte Antworten nicht weiter. Außerdem gibt es selbst für das Grundprinzip der Menschenwürde eine Mehrzahl miteinander konkurrierender Begründungen. Für das, was über die unantastbare und unveräußerliche Würde hinaus vom Menschen konkreter gesagt werden kann und muss, sind bestimmte Unterscheidungen hilfreich, die an den geschilderten konkreten menschlichen Lebenslagen ansetzen.

1. Grundsätzlich ist zwischen der äußeren und inneren Lebenslage zu unterscheiden; wenn man so will zwischen »Oberfläche« und »Tiefe«. Unsere Wahrnehmung wird von »Hochglanzoberflächen und einfachen Botschaften, die für globale Produkte werben«, geprägt, von der »Verbindung des Fließenden mit dem Oberflächlichen« (R. Sennett). Dadurch können wir unsere Welt und uns selbst nur schwerlich genau in der Tiefe »lesen«. Dies ist aber notwendig, um die Folgen zeitlicher, räumlicher und sozialer Flexibilität für menschliche Charaktere überhaupt zu verstehen.

2. Ferner ist prinzipiell zwischen der Lebenslage als objektiver »Gegebenheit« und als subjektivem »Bild« (»Konstrukt«) zu unterscheiden. Die Lebenslage eines Menschen besteht nicht nur aus den von ihm unabhängig gegebenen Momenten (Arbeit haben oder nicht haben, behindert sein oder nicht, Mann oder Frau sein), sondern auch daraus, wie man sich selbst sieht und deutet: die eigene Lage als Sicht dieser Lage, traditionell gesprochen als geistige Realität. Wer dies nicht berücksichtigt, verdinglicht den Menschen. Er stellt ihn und seine Lage als etwas Äußerliches und noch dazu unbeeinflussbares Schicksal hin. Gegen diese gesellschaftlich und wissenschaftlich bewirkte »Selbstentfremdung« (W. v. Humboldt) hat ein selbst-reflexives Bildungsverständnis seit zweihundert Jahren immer wieder aufbegehrt (vgl. 3.2). Erwachsene müssen genauso wie Kinder und Jugendliche als Subjekte darauf angesprochen bleiben, dass sie sich selbst bestimmen können und dürfen.

3. Auf die gleiche Weise wie sich der individuelle Einzelne ein Bild von sich selbst und seiner Lage macht, können freilich auch Kollektive sogenannte »Menschenbilder« entwerfen, propagieren oder verdeckt mitschleppen. Sie stellen die umfassendste Versuchung dar, über Menschen zu verfügen – besonders dann, wenn sie im Mantel hehrer Werte und religiöser Überzeugungen daherkommen, für deren Durchsetzung im Extrem jedes Mittel recht ist. Es ist kein Zufall, dass im Namen des Ersten Gebots auch jüdisches Denken eine Menschenbildpädagogik dieser Art – nicht die Frage nach dem Bild des Menschen als solche – zurückgewiesen hat.
Die theoretischen Einteilungen, Kategorisierungen, Typologien helfen mithin nur als vorläufige Suchinstrumente. Sie sollten zurückgelegt, geradezu vergessen werden, wenn jeder es mit dem anderen in seiner unverwechselbaren einmaligen Lebenslage zu tun bekommt, weil er sich auf ihn ganz und gar konkret einlassen muss. »Die immer wieder vorgebrachte Frage: ›Wohin, worauf zu soll erzogen werden?‹ verkennt die Situation. Auf sie wissen nur Zeiten, die eine allgemeingültige Gestalt – Christ, Gentleman, Bürger – kennen, eine Erwiderung … Wenn aber alle Gestalten zerbrachen …, was ist da noch zu bilden? Nichts anderes mehr als das Ebenbild Gottes. Das ist das undefinierbare, nur faktische Wohin des gegenwärtigen Erziehers, der in der Verantwortung steht« (M. Buber). In dieser verantwortlichen Freiheit vor Gott liegt die Freiheit und Würde des praktischen Umgangs der Menschen untereinander beschlossen.
 
4. Lebenslagen sind durch Lebensannahmen (Lebenshypothesen) mitgeprägt, die im Laufe des Lebens fragwürdig werden, weil sie falsch sind. Eine heute verbreitete Annahme ist die, das Leben sei – wenn man nur wolle – leicht zu meistern, die dazu notwendigen Potentiale seien in einem jeden Menschen vorhanden. Eine andere Annahme ist jene, die erreichten Stützen zur Wertgebung des eigenen Lebens wie Beruf, Partnerschaft, eigenes Haus, Wohlstand, Freizeit trügen ihren Sinn hinreichend in sich selbst. Die dadurch erreichbare »Lebenssicherheit« ist aber oft nur durch ein funktionelles Verständnis (»Was bringt es?« und »Wie gefällt es?«) abgestützt. Vor allem ist die Annahme falsch, das Lebenslaufsymbol sei eine aufsteigende Linie. An diesem Punkt wird deutlich, wie sich das »Bild« von der Lebenswirklichkeit und vom Menschen auswirkt, das man hat oder das gesellschaftlich medial suggeriert wird. In die Spur dieser Analyse zielt auch der Begriff der »virtuellen Wirklichkeit« (»virtual reality«, J. Lanier). Virtuelle Wirklichkeit kann nicht ersetzen, etwas wirklich erfahren zu haben. Die künstliche digitale Welt bietet zwar enorme Möglichkeiten des Zugriffs auf Informationen; sie schafft jedoch zugleich einen fiktiven Spielraum für Phantasien über menschliche Möglichkeiten, die von einer konkreten, in bestimmten Lebenserfahrungen gegründeten Lebenswirklichkeit nicht mehr gedeckt sind. Virtuelle Wirklichkeiten nähren den Traum, Zeit und Raum zu überqueren, bald alles zu erschließen und so über alles verfügen zu können.
Solchen unrealistischen Bildern gegenüber wird in dieser Denkschrift ein Bildungsansatz vertreten, der eine nüchterne Analyse der Wirklichkeit einschließt. Sie nimmt die Natur des Menschen in ihren Möglichkeiten und Grenzen, im Guten wie in den Abgründen des Bösen, ehrlich und unverstellt wahr, in der Gesellschaft wie in Erziehung und Bildung. Sollten solche Bilder dazu tendieren, den Menschen unter gnadenlose Imperative eines vermeintlichen »Müssens« zu zwingen, hat der christliche Glaube kraft der »Botschaft von der freien Gnade Gottes« zu widersprechen (Barmer Theologische Erklärung 1934, These 6).

5. Die allgemeine Kritik an falschen Bildern vom Menschen berührt im Zusammenhang dieser Denkschrift auch die spezielle Prüfung falscher Annahmen über die menschlichen Lernmöglichkeiten. Im Anschluss an bestimmte neuere, nicht mehr einseitig deterministisch denkende Erkenntnisse der Evolutionären Psychologie und Ethik kann man fragen, ob nicht auch sie die Einsicht in Grenzen unterstützen. Die Evolutionäre Psychologie belegt, dass sich die Lernfähigkeit des Menschen in der längsten Zeit seiner Entwicklungsgeschichte herausgebildet hat und damit den tatsächlichen oder vermeintlichen Anforderungen einer sich in den letzten zwanzig Jahren herausbildenden Wissensgesellschaft nur bedingt angepasst ist. Die Lernfähigkeit des Menschen darf man sich darum nicht als einen Allzweckcomputer vorstellen, der alles umsetzt, was von außen eingegeben wird. Vielmehr ist die Lernfähigkeit von Menschen als eine komplizierte evolvierte Strategie zu verstehen, die sich in der frühen Menschheitsgeschichte ausprägte. Die individuellen Möglichkeiten, etwas zu lernen, lassen sich zwar vielfältig variieren und ausdehnen; sie sind aber nicht beliebig erweiterbar. Menschen von heute lernen im Prinzip in derselben Form und in derselben Geschwindigkeit wie die Menschen vor fünftausend Jahren:

– Wir lernen leichter durch die unmittelbare Anschauung, die persönliche Erzählung oder die Erlebnisse in einer Gruppe. Je größer die räumliche (z.B. Fernkurse) oder die persönliche Distanz (z.B. Vorlesungen), desto schwerer fällt das Lernen.
– Abstrakte Zusammenhänge – sehr kleine und sehr große Größen, sehr hohe Geschwindigkeiten und sehr kleine wie sehr große Zeiteinheiten – begreifen wir schwer beziehungsweise wir müssen sie über didaktische Veranschaulichungen und die Vehikel der Sprache mühsam lernen.
– Wir können komplexe Wechselwirkungen schlecht durchschauen. Dazu benötigen wir abstrakte Kategorien, die zu lernen uns schwer fällt.
– Unser Denken wird von mächtigen Gefühlen überlagert. Wut, Zorn, Liebe oder Angst gehorchen anderen Gesetzen, als es die postmoderne Wissensgesellschaft verlangt. Diese Gefühle zeigen uns am ehesten unsere Angepasstheit an andere Lebensformen auf, die für die heute geforderte Coolness bei Entscheidungen häufig nicht funktional erscheint.
– Offensichtlich verfügen Menschen über sehr feine innere Zeitprogramme, die den Anforderungen einer globalisierten Gesellschaft hinsichtlich Zeitverschiebungen, verloren gegangenen Ruhepausen und ewiger Jugend oft nicht entsprechen.
– Lernen bereitet Lust. Besonders Kinder lernen häufig gern und von sich aus. Sie sind neugierig und möchten die sie umgebende Welt kennen lernen und in ihr agieren.
– Mit der Pubertät verändert sich der neuronale Aufbau des Gehirns. Das wirkt sich im weiteren Lebenslauf auch auf die Formen und Möglichkeiten des Lernens aus. Zwar können Erwachsene bis ins hohe Alter wie junge Menschen dazulernen, aber während beim Lernen einiges leichter fällt, wird anderes deutlich schwieriger.

Wie die Evolutionäre Ethik nahe legt, wirkt sich die unvorstellbar lange menschheitsgeschichtliche Lerngeschichte nicht zuletzt verhängnisvoll auf die hier durchgehend vor Augen geführte zentrale Aufgabe aus, mit anderen als Fremden zusammenzuleben; Bildung im Rahmen des für die Zukunft hoch wichtigen Verständigungsparadigmas. Die Erblast der menschlichen Spezies besteht aus beidem, aus der Bereitschaft und Fähigkeit von Menschen zu friedlicher Kooperation und aus der Neigung zu Abgrenzung, Aggression und Gewalt. Was nutzt die Logik »lebenslangen Lernens« und potenzierten »Wissens«, wenn nicht gleichzeitig die Logik der Versöhnung gelernt wird und das Wissen über Wege zur Überwindung von Ausgrenzung und der Schaffung von Frieden und Gerechtigkeit wächst?

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