Maße des Menschlichen

Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft, 2003, Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Neue Bedingungen und Herausforderungen

Bildung ist auf eine starke und mit anderen Politikbereichen vernetzte Bildungspolitik angewiesen. Besonders relevant sind Familien-, Sozial- und Zuwanderungspolitik, Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Umweltpolitik. In alledem steht Deutschland in europäischen wie anderen internationalen Zusammenhängen und braucht Richtlinien. Die Zukunft der Bildung ist daher ein Spiegel der politischen Frage: Was will die Gesellschaft?

1.1 PISA – eine mehrfache Herausforderung

Bildungspolitik soll Bildung ermöglichen. Manche Voraussetzungsfragen erreichen die politische Ebene jedoch nicht oder berühren sie nur indirekt. Zu ihnen gehören die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Lernfähigkeit, die normativen Grundlagen von Erziehungs- und Bildungszielen sowie der Charakter einer förderlichen Lern- und Schulkultur. Die PISA-Untersuchungen sind ein Anlass für weiter reichende Reflexionen; sie sollen mit dieser Denkschrift nachdrücklich unterstützt und aus evangelischer Sicht akzentuiert werden. Bildung steht in zwei Zusammenhängen: In der Koppelung mit dem Beschäftigungssystem ist das Bildungssystem das Schlüsselsystem jeder modernen Gesellschaft. Hier verweist Bildung auf Bildungsabschlüsse. Bildung ist aber auch Ausdruck für den Vorgang der Aneignung von Welt und der Entwicklung der Person. Darauf legt diese Denkschrift den Schwerpunkt.

Die besondere Bedeutung der PISA-Befunde ist darin zu sehen, dass dieser weltweit größte Schulleistungstest aus dem Sommer 2000 in 32 Industrienationen (zusätzlich einer nationalen Ergänzungsstudie) gerade hinsichtlich der genannten Relation von Bildung als messbarem Resultat und Bildung als Prozess aufschlussreich ist und weiterführt. Folgende Punkte sind hervorzuheben:

  1. PISA stellt Leistungsniveaus in den Basiskompetenzen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften im internationalen und bundesinternen Leistungsvergleich fest.
  2. PISA untersucht die Bildungssysteme in den teilnehmenden Staaten im Kontext von Schule und Unterricht daraufhin, ob sich die einzelnen Schülerinnen und Schüler nachhaltige Kompetenzen aneignen (vgl. 1.2).
  3. An die nationalen Bildungssysteme wird die Erwartung herangetragen, ob es ihnen gelingt, gleichzeitig einen großen Anteil von Schülern und Schülerinnen zu Spitzenleistungen und viele schwächere zu einer ordentlichen Durchschnittsleistung zu bringen (vgl. 1.5).
  4. Damit ist das Problem verknüpft, wie gut der Ausgleich von Benachteiligungen gelingt, die aus der sozialen Herkunft oder einem Migrationshintergrund resultieren und sich in Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb niederschlagen (vgl. 1.6).
  5. Eine Schlüsselrolle fällt der frühen Förderung zu. Sie wird in anderen Ländern vor allen Dingen im Blick auf die Beherrschung der Landessprache konsequenter gehandhabt. Damit sind Fragen nach Gestaltung und Förderung sowie nach der Verbindlichkeit des Elementarbereichs gestellt (vgl. 2.1).
  6. Die Eigenverantwortlichkeit der Schulen ist in einer Reihe von Staaten viel deutlicher ausgeprägt. Zwar müssen die Schulen regelmäßig Rechenschaft ablegen und sich Qualitätskontrollen unterziehen, die sich an verbindlichen Standards ausrichten, aber ansonsten wird ihnen ein großes Maß an Gestaltungsfreiheit eingeräumt. Dabei ist die hohe Wertschätzung hervorzuheben, die Bildung, Schule und Lehrkräfte genießen (vgl. 1.4).

PISA ist als Ganzes ernst zu nehmen, in allen Problemdimensionen. Die Befunde betreffen nicht nur Leistungsvergleiche, sondern auch gesellschaftspolitische Probleme wie das der Chancengleichheit und Integration. Zu Recht wird Bildung für die gesellschaftliche Entwicklung eine hohe Priorität eingeräumt. Worum es geht, berührt Jung und Alt, Eltern und Lehrer, Einheimische und Migranten, Fachleute und Betroffene, insgesamt den allgemeinen gesellschaftlichen, die Generationen übergreifenden Diskurs.

1.2 Mehrdimensionale Bildung

Der niederschmetternde internationale Rückstand des deutschen Schulwesens in den Schulleistungen ist inzwischen allgemein bekannt und wird am stärksten diskutiert. Institutionelle Schritte zur Abhilfe werden eingeleitet. Frühe Förderung, Ganztagsbetreuung und eine grundlegende Revision von Lehreraus- und -weiterbildung sowie neue Formen der Zusammenarbeit mit den Eltern sind nachdrücklich zu unterstützen. Überall verlangen sie aber die Antwort auf die Frage, was Bildung substantiell meint und als inneren Vorgang ermöglicht. Aus bildungstheoretischer Sicht kommt es daher darauf an, die genannten organisatorischen und institutionellen Vorschläge mit inhaltlichen Verbesserungen zu verbinden. Von allen Beiträgen zur Bildungsdebatte kommen die Maßstäbe der PISA-Untersuchungen einem Konzept »bildenden« Lernens noch am nächsten. Ein solches Lernen ist konsequent von einer inhaltlich ausgewiesenen Konzeption von Bildung her zu qualifizieren, denn:

  • Lernen, das wirksam »bildet«, ist erstens intensiver in seiner den Lernenden geistig einbeziehenden inneren Reichweite: Es umfasst Fleiß und Neugier, sorgfältige Aufgabenerledigung und selbständige, eigensinnige Suche, Kenntnisse und Verständnis, Wissen und Reflexionsfähigkeit, Problemwahrnehmung und Problemlösungskompetenz, disziplinierte Anstrengung und kreative Muße.
  • »Bildendes« Lernen muss zweitens auf Basiswissen in Kernbereichen ausgerichtet sein und »Grundbildung« sichern. PISA konzentriert sich mit Bedacht auf sprachlich-literarische, mathematische und naturwissenschaftliche Grundkompetenzen.
  • Ein klassisches Merkmal von Bildung ist drittens mehrdimensionales geistesgegenwärtiges Problembewusstsein einschließlich Handlungsfähigkeit.

An die in dem letzten Punkt eingeschlossenen Bildungsdimensionen und -aufgaben reichen die Untersuchungsperspektiven der PISA-Erhebungen von ihrem Design her allerdings nicht heran. Daher erweitert die vorliegende Denkschrift den Radius um den Blick auf

  • ethische Bildung: Wertbewusstsein, Einstellungen und Haltungen, moralisches Verhalten und Handeln, Verlässlichkeit und Verantwortlichkeit,
  • soziale Bildung: Umgang mit Aggression, Abbau von Gewalt, Kompromiss- und Friedensfähigkeit,
  • religiöse Bildung: Offenheit für Transzendenz und die Frage nach Gott, einschließlich interreligiösem Lernen als »Dialogfähigkeit«,
  • interkulturelle Bildung als Bereitschaft zum Zusammenleben mit Fremden,
  • ästhetische Bildung: Sinn für »übernützliche« kulturelle (ästhetische) Zeugnisse und Gestaltungsfähigkeit,
  • medienkritische Bildung: Kenntnis der problematischen Veränderungen der Wirklichkeitswahrnehmung aufgrund virtueller medialer Einflüsse und besonnener Umgang mit ihnen,
  • ökologische Bildung: Sensibilität angesichts ökologischer Gefahren und Bereitschaft zu Verhaltenskonsequenzen,
  • geschichtliche Bildung, Erinnerung und Gedenken, Wissen um Schuld und Scheitern,
  • zukunftsfähige Bildung als Offenheit für das Unerwartete,
  • lebensphasengerechte Bildung, die sich hinsichtlich aller Bildungsbereiche Zeit nimmt.

Alle diese Aspekte gehören entweder ebenfalls zu unerlässlicher »Grundbildung« oder zu heute besonders dringlichen Aufgaben (vgl. Kap. 4); erst sie zusammen machen eine zeitgemäße »allgemeine Bildung« aus.

1.3 Unterrichtserneuerung und Lernkultur

Bildender Unterricht erfordert didaktisch-methodische Vielfalt. Deutsche Schulen brauchen eine zu Leistungen herausfordernde und die Lust zum Lernen ansprechende Lernkultur. Sie brauchen aber auch die Wertschätzung der Bevölkerung und vor allem der Eltern für die tägliche und oftmals schwierige Arbeit der Lehrer und Lehrerinnen.
Für das Gelingen der inhaltlichen Bildungsaufgaben ist die Qualität der unterrichtlichen Feinstruktur ausschlaggebend. Dabei ist zu bedenken, dass wir auf das Lernen von Menschen nie einen direkten Zugriff haben und beanspruchen dürfen. Lernen ist ein Vorgang im Innern und damit zugleich individueller Natur (F. Schleiermacher). Es ist ein aktiver, letztlich selbstorganisierter Prozess des Subjekts, der allerdings angeregt werden muss. An dieser Stelle kommt es auf die Unterrichtsgestaltung an. Kindern macht Unterricht vor allem dann Spaß, wenn er abwechslungsreich ist. Interessant ist für Kinder das Arbeiten mit neuen Medien. Sie wünschen aber ebenso eine Begegnung mit dem realen Umfeld der Schule. Spannend sind Diskussionen mit Experten und Exponenten politischer oder weltanschaulich-religiöser Gruppen. Schülerinnen und Schüler arbeiten in der Grundschule gern selbständig in der sogenannten Freiarbeit oder in höheren Klassen in Bibliotheken, Museen etc. Ebenso schätzen sie darstellende Formen zur Aneignung von Sachverhalten oder zur Vertiefung in menschliche Probleme (Pantomime, Rollenspiel). Wissenschaftspropädeutische Methoden, selbst gesteuertes Lernen und kreatives Handeln sollten zusammen mit unterschiedlichen Sozialformen des Unterrichts (Gruppenarbeit, Projektunterricht) zu einer die Lust am Lernen motivierenden Lern- und Schulkultur zusammenfinden. Nicht wenigen Lehrenden gelingt dies. Man kann kaum überschätzen, wie stark pädagogischer Erfolg von der täglich erfahrenen Unterrichts- beziehungsweise Lehrkunst abhängt. »Bildendes Lernen« braucht auch hoch professionelles »Lehren«, das ohne in eintöniges Belehren zu verfallen nachhaltiges Lernen ermöglicht. Wie die PISA-Ländervergleiche nahe legen, ist an deutschen Schulen systematisch eine Lernkultur vielseitiger und herausfordernder Anregung und selbständiger individueller Aneignung zu verstärken, für die auch Zeitmaße und Interaktionsstrukturen verändert werden müssen.

Dies alles hat Konsequenzen für die Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung. Es geht um die Qualifikation und um die Person der Lehrenden, um ihr spürbar persönliches Verhältnis zum Unterrichten insgesamt, zur Sache des Unterrichtsfachs und zu den Schülerinnen und Schülern.

1.4 Unterrichtsqualität und Qualitätskontrolle

Bildung ist nach der Präambel des »Forum Bildung« (2001) der »Schlüssel zum Arbeitsmarkt und Grundlage für wirtschaftliche Entwicklung«. Als Konsequenz wird die allgemeine Anhebung von Schulleistungen gefordert. Das ist unbestritten richtig; in allen gesellschaftlichen Bereichen wird nach Kompetenz gefragt. In dieser Hinsicht denken offensichtlich Schülerinnen und Schüler, Studierende und Eltern sowie Abnehmer in Staat und Gesellschaft ganz ähnlich. Auch die Kirche schlägt ökonomische Erfordernisse nicht weltfremd in den Wind. Die Mehrheit der Bevölkerung hat vermutlich immer schon eine gewisse Kundenorientierung gegenüber den Bildungseinrichtungen. Zu Recht besteht ein Interesse daran, dass Bildung auf unterschiedliche Weise zur Lebensbewältigung und besonders zu Berufschancen beiträgt. Nachweislich wird in westlichen Industriegesellschaften das eigene Leben in zentraler Weise neben der Familie um Beruf und Einkommen herum geplant. Ob man berufstüchtig ist und einen möglichst befriedigenden Arbeitsplatz hat, ist für einen Menschen lebenswichtig. Die Verflechtungen zwischen Bildung und Ökonomie werden heute allerdings unter dem Erfordernis von globalisiertem Wettbewerb und Standortsicherung immer enger und entwickeln eine eigene Dynamik, ohne dass dadurch Arbeitsplätze sicher sind. Nicht wenige können dieser Dynamik nicht standhalten; Arbeitslosigkeit ist strukturell geworden. Die Zahl der Arbeitslosen zu verringern, ist nicht nur ein Gebot humaner Bildungspolitik; es hilft auch, das Sozialsystem finanziell zu entlasten.

Im Wirtschaftsleben ist die betriebskostengünstigste Produktion bei gleichzeitiger Gewinnsteigerung das zentrale Motiv aller Tätigkeit. Die Kosten-Nutzen-Abwägung spielt zunehmend auch im Bereich von Schule und Hochschule eine Rolle. Die PISA-Vergleiche deuten an, dass hohe Bildungsausgaben sich auszahlen, wenngleich als solche nicht genügen. Es kommt darauf an, wofür die Mittel aufgewendet werden. Von entscheidender Bedeutung sind Qualitätskontrollen, die Unterrichtsqualität und Lernkultur in einer Weise überprüfen, die nicht dirigistisch ist. An Qualitätskontrollen sind viele noch nicht gewöhnt. Hier rächt sich die mangelnde Entwicklung qualitätsbezogener inhaltlicher Bildungsstandards ebenso wie der weitgehende Verzicht auf die pragmatische Entwicklung empirisch kontrollierter Evaluationskriterien. Ohne solche Standards bleiben viele Formen der Qualitätskontrolle letztlich defizitär, weil ihr die übergreifenden Kriterien fehlen. Bildungsinvestitionen sind also notwendig, müssen sich jedoch qualitativ lohnen.
Maßstab aller Kosten-Nutzen-Rechnungen können im pädagogischen Feld nur die Erfolge einer auf die individuellen Bedürfnisse und Leistungserwartungen bezogenen Förderung sein.

1.5 Vielschichtigkeit von Leistungserwartung und Förderung

Die Erziehungs- und Unterrichtsarbeit sollte von einem pädagogischen Leistungsbegriff bestimmt werden: Wer Leistung fordert, muss die Leistungsfähigkeit fördern. Dabei ist von der Tatsache auszugehen, dass Kinder Freude an der Erprobung ihrer Fähigkeiten haben. So finden sie auch innere Befriedigung, wenn ihnen bestätigt wird, dass sie etwas geleistet haben. Die Leistungsanforderung kann produkt- oder prozessorientiert sein; sie kann individuell oder im Team erfüllt werden.

Im Blick auf die Ergebnisse der PISA-Studien (vgl. 1.1) muss es sehr nachdenklich stimmen, dass in Deutschland der Abstand zwischen den leistungsschwächsten und leistungsstärksten 15-jährigen Schülerinnen und Schülern im Vergleich mit den anderen Ländern hinsichtlich der Lesekompetenz am größten ist. Mit etwa 20% des Altersjahrgangs ist der Anteil schwacher und schwächster Leser ungewöhnlich groß. Auch bei den Mathematikleistungen ist der Anteil derjenigen, die über das Rechnen auf Grundschulniveau nicht hinauskommen und der Risikogruppe zuzuordnen sind, außerordentlich hoch. Ferner gelingt es ebenso wenig in der naturwissenschaftlichen Grundbildung, die schwachen Schülerinnen und Schüler ausreichend zu fördern. Aber auch bei den Spitzenleistungen schneidet Deutschland auf allen diesen Feldern nur unterdurchschnittlich ab. Abhilfe schaffen könnte nach PISA eine größere gesellschaftliche Wertschätzung der Naturwissenschaften und eine didaktische Weiterentwicklung des naturwissenschaftlichen Unterrichts, der interdisziplinäre Fragen der Fächer Physik, Biologie und Chemie in einer problemorientierten, anwendungsbezogenen Weise einbezieht. Problembezogenes Lernen regt nicht nur das kreative Nachdenken über alternative Lösungswege an, sondern schärft auch das Bewusstsein für die Zwecke des Lernens im Leben. Ein solcher Unterricht bietet Anschlussmöglichkeiten für philosophische, ethische und religiöse Reflexionen. Dies ist im Zeichen der Auseinandersetzung um »Ethik in den Wissenschaften« eine derzeit zu wenig erörterte Perspektive.

Leistung muss schließlich als soziale Verpflichtung verstanden werden. Es muss jungen Menschen deutlich gemacht werden, dass die Gesellschaft als Ganze allen Menschen dient. Zu ihr gehören alte, schwache und kranke Menschen, die ohne eigenes Verschulden nichts oder nur wenig leisten können. Um auch ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, bedarf es der Leistung anderer, die über den Zweck der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse hinausgeht. Das öffentliche Leben in Staat und Gesellschaft ist von einer differenzierenden und Generationen übergreifenden Solidarität abhängig. So dient der Ertrag der Leistung nicht nur dem eigenen Leben, er ist vielmehr in das gesamte soziale Gefüge eingebettet.

Damit klingt die Vielschichtigkeit von Leistung an, grundsätzlich ihre messbare Oberflächenstruktur und ihre nicht messbare Innenseite. Der herkömmliche Leistungsbegriff orientiert sich an Noten und Bildungsabschlüssen, an messbaren Intelligenzleistungen, abfragbaren Kenntnissen, technischen und körperlichen Fähigkeiten; er gerät immer wieder in Gefahr, den personalen Grund und sozialen Zusammenhang menschlicher Tätigkeit zu vernachlässigen. Individuelle Leistung wird außerdem meist am Vergleich mit den Leistungen anderer gemessen. Leistungsbereitschaft und -fähigkeit werden aber auch durch den »Wettbewerb mit sich selbst« – den Willen, die eigene Person zu entwickeln – gefördert. Außerdem gehören zur Mehrdimensionalität von Bildung und damit zur Vielschichtigkeit von Leistung menschlich wertvolle und gesellschaftlich (auch ökonomisch) wichtige Fähigkeiten wie Phantasie, Originalität, Verantwortungsgefühl, Kooperationsfähigkeit, moralische und soziale Empfindsamkeit. Unternehmen fordern diese Kompetenzen bei ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein.

Angesichts der Relation zwischen Leistung und der sie voraussetzenden Förderung der Einzelnen – und zwar nach beiden Richtungen, zu den Begabten und den schwächeren Lernenden hin – sollten die Schulen differenzierende Unterstützungen anbieten. Ein Unterricht mit fehlender Binnendifferenzierung geht nach beiden Seiten an den Erfordernissen vorbei; er ist unpädagogisch für die Heranwachsenden und unproduktiv für die Gesellschaft.

1.6 Bildung und soziale Lage

Die Befunde von PISA 2000 belegen für Deutschland einen »straffen Zusammenhang zwischen Sozialschichtzugehörigkeit und erworbenen Kompetenzen über alle untersuchten Domänen hinweg« (vgl. 1.1). Zu den familiären Lebensverhältnissen zählt auch Migration. In diesem Zusammenhang sind Kommunikationsfähigkeit und Leseverständnis für den Bildungsweg und die Integrationschancen besonders wichtig; eine zeitig einsetzende frühe Förderung ist dringend geboten. Wissenschaftliche Untersuchungen sowie Statistiken haben schon Jahre zuvor deutlich dasselbe wie PISA aufgedeckt (M. Buchmann u.a. 1998; C. Ehmann 2001): Sozial bedingte starke oder schwache Bildungsbeteiligung und -förderung in den Familien wirkt sich erheblich aus. »Wenn uns die PISA-Studie eines lehrt, dann dass es immer noch zu viele soziale Schranken gibt« (J. Rau). Wie andere Untersuchungen (J. Dronkers/W. Hemsing 1999; K. Klemm 1999) zeigen, ist dieser Zusammenhang in den Schulen in evangelischer Trägerschaft nicht so eng, weil diese den einzelnen Lernenden samt seinem sozialen Umfeld stärker im Blick haben.
Folgende Maßnahmen sind notwendig:

  • Erstens ist eine lokal oder regional spezifische Bildungsstrukturförderung notwendig, welche die Bildungsbedingungen im Stadtteil oder in der Region verbessert (Anzahl und Erreichbarkeit der Bildungsangebote, Entlastung der Familien durch einen breit geöffneten, nicht nur betreuenden, sondern bildungsförderlichen Elementarbereich, Ganztagsschulen, Schulsozialarbeit). Die Schere zwischen bildungsbegünstigten und benachteiligten Wohn- und Schulbezirken, die im Einzelnen unterschiedliche Gründe haben kann, darf sich nicht noch weiter öffnen; sie muss im Gegenteil verringert werden.
  • Zweitens sollte jede Schule zusätzlich zu der individuell mitlaufenden, aber sehr begrenzten Einzelförderung im normalen Unterricht Zeit für gezielte individuelle Lernförderung haben.
  • Drittens sollten die Entwicklung standardisierter wie nicht-standardisierter Leistungsüberprüfungen stärker unterstützt und die vorhandene Formenvielfalt zum individuellen Leistungsanreiz besser genutzt werden.
  • Viertens sind ebenso die Eltern gefordert, ihren Erziehungspflichten nachzukommen und den Lehrenden partnerschaftlich gegenüberzutreten. In nicht wenigen Elternhäusern werden Kinder und Jugendliche vernachlässigt und unbequeme Erziehungsaufgaben an andere gesellschaftliche Instanzen delegiert. Das betrifft gerade auch Familien, die über ausreichende finanzielle Ressourcen verfügen.

1.7 Selbstverantwortlichkeit und Selbstwert

Seit den achtziger Jahren entwickeln sich in der Wirtschaft neue Produktionsverfahren, die an die Selbständigkeit und Produktverantwortung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhöhte Anforderungen stellen. Das verlangt Verhaltensweisen, die den bisherigen Kenntnis- und Fähigkeitsgrad überschreiten, wie Teamfähigkeit, methodische Flexibilität, Zeitpräzision und Arbeitsprozesskontrolle. Moderne Computertechnik hat parallel dazu das Bewusstsein vom Zusammenhang aller Arbeitsschritte revolutioniert. Die hier angesprochenen Kompetenzen gehen über die von PISA untersuchte Grundbildung hinaus. Sie richten sich zusammengefasst auf die Forderung nach mehr selbstverantwortetem Lernen als Grundmerkmal von Bildung.

Insgesamt gilt die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit neben vielen Faktoren, die nicht an den Einzelpersonen hängen, als Voraussetzung für ein erfolgreiches Bestehen auf den Märkten der Zukunft. Aus dem klassischen Arbeitnehmer, der seine Arbeitskraft lediglich verkauft, wird der Arbeitskraft-Unternehmer, der für den Marktwert seiner Arbeitskraft selbst verantwortlich ist, also Unternehmereigenschaften gewinnt. Dabei ist zu fragen, ob die unternehmerische Freiheit nicht zu einem Etikett wird, mit dem neue Abhängigkeiten kaschiert werden. Im Hintergrund dieser Entwicklung stehen kontroverse gesellschaftstheoretische und -politische Grundanschauungen und Erwartungen an den freien Markt. Halten die einen ihn bereits in sich selbst für ein ethisch empfehlenswertes Instrument, eben weil er für Ausgleich und gerechte Verteilung sorge, verweisen die anderen darauf, dass auf einem solchen Markt prinzipiell keine ethischen Rücksichten gelten können, weil sie das freie Spiel der Kräfte zwischen Angebot und Nachfrage verzerren würden.

In Aufnahme der Veränderungen der Produktionsorganisation in der Wirtschaft wird heute oberhalb der Ebene der persönlichen Eigenverantwortung auch die Selbstverantwortung der Einzelschule betont. Sie soll als Ganze ihre Leistungsfähigkeit erhöhen. Der Grundgedanke ist die Annahme, dass durch die Anknüpfung an die konkreten Potentiale einer Schule die einzelnen Lehrkräfte zu mehr Leistung und Verantwortung angespornt werden und dieser Elan auch die Schülerschaft ergreift. Im außerschulischen Bereich bestimmt ebenfalls selbstverantwortliches Lernen zum Beispiel Jugendarbeit und Erwachsenenbildung, besonders dort, wo Aufgaben im Ehrenamt wahrgenommen werden.

Allerdings vermag etwa eine Hauptschule als »teilautonome« Einzelschule nicht ohne weiteres die Benachteiligungen auszugleichen, die sich besonders in sozialen Brennpunkten ergeben können. Was bedeutet es für ein sozial benachteiligtes Kind, wenn die anderen Mitschülerinnen und Mitschüler in der eigenen Klasse und Schule ebenfalls sozial benachteiligt sind? Wer Kinder, die sich in der Eingangsklasse der Hauptschule versammeln, fragt: »Was könnt ihr besonders gut?«, trifft oft auf bedrückte Gesichter und erhält nach verlegenem Zögern die Antwort: »Wir sind doch hier, weil wir schlecht sind und nichts können.« Schulen sind aber allen jungen Menschen gegenüber verpflichtet. Vor allem Hauptschulen müssen gezielt pädagogisch fördern und menschlich Rücksicht nehmen – hierzu brauchen sie entsprechende Arbeitsbedingungen –, damit Schwächere nicht vorzeitig »auf der Strecke bleiben«. Das aber setzt bereits eine fördernde Arbeit in der Grundschule voraus; Bildungsdefizite der ersten vier Schuljahre lassen sich später nur sehr schwer wieder ausgleichen. Das gilt vor allem für den Spracherwerb und die Lesekompetenz.

Die rasanten Prozesse der globalen Entwicklung reißen viele in einen Strudel der Beschleunigung hinein, bei dem sie nur mit Mühe oder gar nicht mitkommen. Es gibt junge Menschen, die in ihrer Kindheit nicht in »haltenden Umgebungen« aufwachsen konnten, um stabile seelische Strukturen wie Ich-Identität und Selbstwertgefühl auszubilden. Bildung betrifft wesentlich auch diese persönliche seelische Innenseite, die nicht übersehen werden darf. »Selbstverantwortlichkeit« ist ein schönes Wort, aber eine Fiktion hinsichtlich der jungen Menschen, die kein »Selbst« in Gestalt eines sie tragenden, Lebenszuversicht verleihenden Selbstbewusstseins entwickeln konnten. Zu den Ich-Funktionen, die für Gemeinschaftsfähigkeit elementar wichtig sind, gehören ferner Gewissen und Empathie für andere. Ohne ein positives Gefühl für den eigenen Wert ist man aber innerlich nicht frei genug, sich in andere einzufühlen und von ihnen her zu denken und zu handeln. An den extremen Rändern kann im Gegenteil die schwache Ich- und Gewissensentwicklung plötzlich zusammenbrechen; Jugendliche agieren dann mit Depression oder mit Gewalt und wollen in erschreckender, negativ gewendeter Verkehrung zeigen, dass sie doch noch jemand sind. Wer »Bildung« will, ist folglich auf die Sozialisations- und Erziehungsaufgaben verwiesen, die den kognitiven Bildungsleistungen voraufgehen und sie begleiten müssen (vgl. Kap. 2).

1.8 Lebenslanges Lernen

Wissensmanagement und lebenslanges Lernen werden als unumgängliche Voraussetzungen für ein erfülltes und erfolgreiches Leben sowie als Grundlage für eine wissensbasierte Wirtschaft hervorgehoben: Die umfassende Entwicklung einer Lerngesellschaft gilt als die Antwort auf den »Quantensprung, der aus der Globalisierung und den Herausforderungen einer neuen wissensbasierten Wirtschaft resultiert« und der sich auf jeden Aspekt des Alltagslebens der Menschen auswirkt (Europäischer Rat, Lissabon 2000).

Es soll eine »lernende Gesellschaft« entstehen, in der man künftig seltener lebenslang gültige und verwertbare Kenntnisse und Qualifikationen erwerben und häufiger seinen Beruf wechseln wird. Bedingung ist die Bereitschaft zu »lebenslangem Lernen«. Diese Erwartung ist nicht nur aus wirtschaftsbezogenen, sondern auch unter berufs- und persönlichkeitsbezogenen Perspektiven einsichtig. Erwachsene können sich bis ins Alter hinein lernend weiterentwickeln; ihnen eröffnen sich Chancen, neue Fähigkeiten zu erwerben. Im ganzen Leben zu lernen, stärkt Mündigkeit. Jedes neue Können vermehrt das Selbstvertrauen.

Die Evangelische Kirche in Deutschland erkennt und würdigt den Sinn von Lernen und Kompetenzzuwachs im Lebenslauf. Für Martin Luther gilt, dass Christen ihr Leben hindurch »Schüler des Katechismus« bleiben sollten. Lernen vor Gott und in der Lebenswirklichkeit ist unbegrenzbar. Zusammengefasst trägt lebenslanges Lernen zur beruflichen und allgemein-menschlichen Bildung und Reife des Menschen bei. Mit dem Akzent auf der Bildung der Person folgt die Kirche allerdings einem umfassenderen Verständnis lebenslangen Lernens. Sie verweist zugleich auf die Grenzen und Ambivalenzen der Erwartungen, die sich in der gegenwärtigen Diskussion mit diesem Begriff verbinden.

Unsere Gesellschaft muss unter neuen Bedingungen nach neuen Maßen des Lernens fragen. Sind es Not-Wendigkeiten oder Maß-Losigkeiten, die zum permanenten Lernen verpflichten? Hiervon ist abhängig, ob man im lebenslangen Lernen und Umlernen überzeugenden eigenen Einsichten und Antrieben folgt.

Dem Konzept lebenslangen Lernens ist ferner ein zunächst nur formales Steigerungsprinzip eingeschrieben. Es drückt sich in der viel gebrauchten Formel vom »Lernen des Lernens« aus. Gemeint sind Methoden des Lernens, die schnell und sicher immer wieder eine neue Einarbeitung ermöglichen. Solche Lernstrategien geben noch nicht an, was gelernt werden soll und welchen Wert die neue Lernherausforderung hat. Die Begründung, das Neue sei besser als das Alte, kann zutreffen, sich aber auch als substanzlos entpuppen.

Was im andauernden Prozess des Weiterlernens abverlangt werden wird, ist offen. Das macht neugierig und setzt Energien frei, kann aber ebenso verunsichern: »Ob ich auch das noch schaffen werde?« Dies Gefühl stellt sich nicht ein, wenn erfolgreiches Lernen schon in der Schulzeit Erfolgszuversicht anstelle Misserfolgsängstlichkeit erzeugt hat. Das Programm lebenslangen Lernens braucht Erfahrungen des Gelingens.

Neu ist das Tempo des Umlernens in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt. Die einem »bildenden Lernen« verpflichtete Gesellschaft darf Anstrengungen abverlangen, hat jedoch gleichzeitig Zeit für Einübung und Aneignung zu lassen. Menschliche Zeitmaße sind andere als maschinelle; sie sind in Lebensläufe und Lebenslagen (Kap. 2), Sinn- und Weiterleben (Kap. 3) und in das geschichtliche Zeitspektrum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingebettet (Kap. 4).

Was heute für nicht wenige am meisten zählt ist, sich in einer flexiblen Gesellschaft auf veränderte Bedingungen rasch einzustellen nach der Devise: »Bleib in Bewegung, geh keine Bindungen ein und bring keine Opfer!« (R. Sennett). Dieser Punkt berührt zentrale ethische Aspekte mit Rückwirkungen auf den »Charakter« (vgl. 2.4). Ein neuerer Begriff ist der des Profils. Wissensprofile spiegeln Persönlichkeitsprofile und müssen sich heute vielfach weiterentwickeln. Ehemals Gelerntes wird hierdurch jedoch nicht entwertet. Was veraltet? Was veraltet nicht? Was darf nie veralten? Solche Fragen zu verfolgen und unterscheiden zu lernen, macht Bildung aus (vgl. Kap. 4).

Die Formel vom lebenslangen Lernen ist außerdem gegen das mögliche Missverständnis zu schützen, alles könne und solle durch formelles Lernen bearbeitet beziehungsweise gelöst werden: Arbeitslosigkeit, Armut, Rechtsradikalismus, familiäre Probleme, individuelle Lebenskrisen. Diese Entgrenzung des Lernens überschätzt zunächst formelles Lernen; informelles Erfahrungslernen hat im Leben sehr oft größeres Gewicht (vgl. 4.1).

Es ist ein relativ junges Phänomen, dass Lernen als ein selbstverständlicher Teil des beruflichen aber auch des privaten Lebensvollzugs verstanden und akzeptiert wird. Die Vorstellung, dass man ein Leben lang lernt und dabei nie auslernt, taucht zwar seit der Antike immer wieder auf, aber weitgehend nur als Verweis auf die Lernmöglichkeiten und Bildungserfahrungen, die der Alltag des Lebenslaufes en passant bereithält. Neu ist die Vorstellung von einem lebenslangen Lernen, das von kontinuierlichen Lernabsichten bestimmt und zum Gegenstand systematischer Organisation wird. Dazu zählt ebenso der Sachverhalt, dass sich Perioden organisierten Lernens altersunspezifisch ausweiten. Bis hin zum individuellen Todesfall wird Lernen durch diese Expansion zu einem immer wichtigeren Teil der allgemeinen Vergesellschaftung. Demgegenüber achtet ein Verständnis von lebenslangem Lernen als »lebensbegleitendes Lernen« auf die Formen, die Leben in den verschiedenen Lebensaltern annimmt (vgl. Kap. 2).

1.9 Bildung, Lebenssinn und der »ganze Mensch«

Das erste Kapitel zeigt einerseits, dass sich Deutschland mit einem Bildungssystem, das international gesehen nur mittelmäßig ist, nicht zufrieden geben kann. Bei Bildung geht es andererseits um mehr als um Lernleistung und Wettbewerb. Beides kann wie folgt zusammengefasst werden:

  1. Die Arbeitsbereitschaft, mit der Wirtschaft und Gesellschaft rechnen und von der unser Wohlstand abhängt, wurzelt in einem kulturellen Selbstverständnis, das in Generationen gewachsen und auch durch das protestantische Arbeitsethos geprägt ist. Dieses Verständnis muss sich nach wie vor am »ganzen Menschen« orientieren. Wenn man an der Verantwortung des Subjekts festhalten will, wenn Mündigkeit das Leitziel bleiben und nicht substanzarm ins Leere laufen soll, gewinnt gerade in der Wissensgesellschaft ein lebendiges Wertbewusstsein an Bedeutung. Wissen wozu? Die Frage ist durch einen Bildungsdiskurs und eine Bildungspolitik zu beantworten, die bestimmten Wertmaßstäben folgt.
  2. Für die Beurteilung der Qualität einer Gesellschaft und ihres Bildungssystems kommt es entscheidend darauf an, ein differenziertes Leistungsverständnis in Wirtschaft und Gesellschaft zugrunde zu legen, das individuelle Leistungsfähigkeit und Anstrengungsbereitschaft entsprechend unterstützt und in der Dialektik von Fordern und Fördern das Wissen um die unantastbare Würde des Menschen vor aller Leistung bewahrt. Es ist unterstrichen worden, dass die zukünftige Gesellschaft an ihre Mitglieder und Heranwachsenden erhebliche Leistungsanforderungen stellen und auf  ihrer Erfüllung bestehen muss. PISA hat dies radikal vor Augen geführt und zugleich Bedingungsfaktoren zur Verbesserung von Leistung erhellt: es geht um »bildendes Lernen« durch verbesserte Unterrichtsqualität, den Abbau sozialer Schranken und die Stärkung der Eltern und Familien.
  3. Die ziel- und zweckgerichtete Optimierung eines flexiblen und mobilen Lebensmusters für die Menschen in der Zukunft beantwortet weder für den Einzelnen noch für die Gesellschaft die Frage nach einem sinnvollen Leben. Materielle Sicherheit und marktgerechtes Verhalten sind zwar notwendige Voraussetzungen beziehungsweise gesellschaftliche Integrationsmomente eines menschenwürdigen Daseins, aber noch nicht dieses selbst. Ohne Lebensgenuss und zweckfreie Kreativität, ohne Selbstentfaltung und Sorge für andere, ohne Freundschaft und Liebe, ohne das Streben nach Wahrheit und ohne jene innere Befriedigung, die aus Quellen wie der philosophischen Einsicht oder dem religiösen Glauben erwächst, verarmt menschliches Leben. Es wird sinnleer und vielfach auch so empfunden. Menschen, die flexibel und mobil auf Außenanforderungen reagieren, sind zu hohen Anpassungsleistungen fähig, machen sich aber von jeder neuen Information abhängig und definieren sich nicht aus sich selbst, sondern aus ihrem Funktionieren.
  4. Die Rede davon, dass Wissen immer schneller verfalle und eine »Halbwertszeit« von nur noch wenigen Jahren habe, wird nicht selten, glücklicherweise aber nicht überall und nicht ohne Widerspruch, als Begründung dafür genommen, alles für veraltet zu erklären, das sich nicht entsprechend verwenden lässt. Der Typus des allumfassenden, hoch flexiblen Zeitmaximierers scheint dabei das Leitbild der Subjektentwicklung darzustellen. Den Horizont einer solchen Vorstellung bildet eine Gesellschaft mit einem Bildungssystem, in dem alle Pausen tendenziell als Brachland für eine zu optimierende zeitökonomische Bewirtschaftung betrachtet werden. Dabei wird unterschlagen, dass es für die Frage nach Gott ebenso wenig eine Halbwertszeit gibt wie für alle philosophischen, ethischen und historischen Grundfragen. Die Fragen nach dem Woher und Wohin, dem Zusammenhalt der Menschen in Solidarität und sozialer Gerechtigkeit, dem Leben zwischen den Generationen, dem Erhalt von Frieden und dem Umgang mit der Natur und der Schöpfung sind keine Halbwertszeit-Fragen. Ohne diese substantiellen Fragen gibt es keine Entwicklung zur Selbständigkeit, zum qualitätsvollen Umgang mit Sachen und Menschen und zum sinnvollen Gebrauch neuer Kommunikationstechniken. Der Mensch gewinnt seine Würde daraus, wie er seine Erfahrungen, Gefühle, Hoffnungen und Ängste verarbeitet und auf dem Hintergrund einer konkreten Lebenslage denkt und handelt.
Nächstes Kapitel