Kirche und Staat: „Getrennt und doch partnerschaftlich verbunden“

Der ehemalige Bevollmächtigte des Rates der EKD, Martin Dutzmann, zum Staat-Kirche-Verhältnis in der Bundesrepublik Deutschland

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschreibt das „getrennte Miteinander“ von Staat und Kirche, das bis heute gilt. Was bedeutet das konkret? Der Bevollmächtigten des Rates der EKD, Martin Dutzmann, erklärt das Verhältnis von Kirche und Staat und seine eigene Rolle als Vertreter der evangelischen Kirche bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union.

Blick aus der gläsernen Kuppel des Reichstagsgebäudes, in der Besucher herumlaufen, auf ein Türmchen des Gebäudes, auf dem ein Kreuz steht.
Blick aus der Kuppel des Reichstagsgebäudes in Berlin.

Es begann mit dem „Kulturkampf“. Seit dem Mittelalter war die Kirche staatstragend und -prägend gewesen, nun, um 1871, konkretisierten sich erste Absetzbewegungen. Otto von Bismarck war die zentrale Figur dieses „Kulturkampfes“ in Deutschland. Mit dem so genannten Kanzelparagraphen untersagte er Theologen, sich in der Öffentlichkeit zu politischen Fragen zu äußern. Wer es dennoch tat, musste damit rechnen, bestraft zu werden. Außerdem führte Bismarck die Zivilehe und die Schulaufsicht durch den Staat ein. Diese Maßnahmen sollten vor allem den Einfluss der katholischen Kirche einschränken, trafen aber auch die evangelische. Manches wurde bald wieder abgemildert oder sogar rückgängig gemacht, aber: Die Grundlagen für die Trennung von Kirche und Staat waren gelegt.

Rechtlich vollzogen wurde die Trennung von Kirche und Staat 1919 durch die Weimarer Reichsverfassung. Auf sie verweist das 30 Jahre später geltende Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, wenn es das „getrennte Miteinander“ von Staat und Kirche beschreibt, das heute selbstverständlich ist.

Theologische und rechtliche Grundlagen

Die theologischen Grundlagen des Verhältnisses von Kirche und Staat sind vielfältig; eine besondere Bedeutung hat aber unzweifelhaft die Barmer Theologische Erklärung. Die fünfte These dieser Schrift, der zentralen theologischen Äußerung der Bekennenden Kirche unter der nationalsozialistischen Herrschaft, ordnet Staat und Kirche in noch heute gültiger Weise einander zu und nimmt gleichzeitig eine Unterscheidung der beiden Bereiche vor. Die These steht unter dem biblischen Leitwort „Fürchtet Gott, ehrt den König.“ (1. Petr 2, 17) Im Anschluss daran heißt es:

„Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.

Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.“

Zweierlei ist hier besonders wichtig. Die fünfte Barmer These beschreibt im Anschluss an Martin Luther[1] präzise die Aufgabe des Staates: Der Staat hat nach göttlicher Anordnung für Recht und Frieden zu sorgen. Wie wichtig es ist, dass er diese Aufgabe erfüllt, muss angesichts von Unrecht und Gewalt in vielen Staaten der Erde kaum weiter entfaltet werden. Funktionierende Rechtsstaaten hingegen wie etwa die Bundesrepublik Deutschland und ihre europäischen Nachbarn bieten eine nicht zu unterschätzende Voraussetzung für Frieden im jeweiligen Land und in der ganzen Welt.

Weil sie darin eine Wohltat erkennt, unterstützt die Kirche den Staat bei seiner Aufgabe, für Recht und Frieden zu sorgen. Sie tut dies nicht von oben herab, denn – so die fünfte Barmer These – auch die Kirche steht in der noch nicht erlösten Welt, hat also keine „höheren“ Einsichten in das politisch Gebotene. Das bedeutet auch, dass jene, die Lebenszeit und Lebenskraft für eine gerechte und demokratische Gestaltung des Gemeinwesens aufwenden, wie es die überwiegende Mehrheit der politischen Akteure in Deutschland tut, nicht als „die da oben“ verunglimpft werden dürfen, die angeblich nur den eigenen Vorteil, vor allem aber den Machterhalt im Sinn haben. Menschen, die politische Verantwortung tragen, bedürfen der Solidarität der Bürgerinnen und Bürger und des Gebetes der Kirche. Es hat schon seinen guten Sinn, dass das Gebet „für die Obrigkeit“ Sonntag für Sonntag Teil des Allgemeinen Kirchengebets ist.

Die Solidarität mit und das Gebet für die politisch Verantwortlichen – das ist das Zweite – bedeuten nun aber nicht, dass die Kirche ihnen nach dem Mund zu reden hätte. Denn für den Staat gilt wie für alle anderen Bereiche unseres Lebens, was die zweite Barmer These so formuliert: „Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben (…) Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.“ Für den politischen Bereich folgert Barmen V: „Sie (die Kirche) erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.“ Die Solidarität der Kirche mit den politisch Verantwortlichen ist also eine kritische. Dabei kommt es darauf an, die Kritik theologisch begründet zu äußern. Bei jeder politischen Einlassung muss erkennbar sein, warum Kirche sich durch das Zeugnis der Schrift verpflichtet sieht, gerade hier und gerade jetzt und gerade so Stellung zu nehmen. Wichtig ist der Hinweis von Barmen V, dass auch die Regierten politische Verantwortung tragen. Deshalb wird die Kirche nicht müde, vor demokratischen Wahlen dazu aufzurufen, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen.

Für die Betrachtung der rechtlichen Grundlagen des Verhältnisses von Kirche und Staat in Deutschland sind die Religionsbestimmungen der Weimarer Reichsverfassung von 1919 in den Blick zu nehmen. Sie folgten drei Grundsätzen: Religionsfreiheit, weltanschauliche Neutralität des Staates, Selbstbestimmung aller Religionsgemeinschaften. Dieses Regelwerk sollte die Freiheit und Gleichberechtigung aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gegenüber dem säkularen Staat garantieren. Es schrieb eine Trennung von Kirche und Staat fest, allerdings nicht in der Weise des Laizismus, der alles Religiöse im Privaten verortet sehen will. Die Weimarer Reichsverfassung und ihr folgend das Grundgesetz beschreiben vielmehr – so hat es der Staatsrechtler Hans Michael Heinig formuliert – eine „freiheitsdienende Offenheit des Staates für die Religionen seiner Bürger“[2]. Das Bundesverfassungsgericht nennt die Neutralität des Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften eine „fördernde“; man könnte sogar sagen: Es besteht ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Staat und Kirche.

Die Rechte, die die beiden großen Kirchen in Anspruch nehmen, sind keine Privilegien, die anderen nicht zustünden. Sie leiten sich aus dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ab, der unter bestimmten Voraussetzungen allen Religionsgemeinschaften und nicht-religiösen Weltanschauungsgemeinschaften zuerkannt werden kann. Heute sind beispielsweise auch die Zeugen Jehovas und die muslimische Ahmadiyya-Gemeinde Körperschaften des öffentlichen Rechts.

Am klarsten spiegelt sich unser auf Kooperation ausgerichtetes Staatskirchenrecht in den Verträgen zwischen staatlichen Körperschaften des Bundes und der Länder mit den Kirchen wider. Sie bringen schon durch ihre Form zum Ausdruck, dass die Beziehungen durch Unabhängigkeit und Kooperation geprägt sind: Staat und Kirche sind getrennt und doch aufeinander bezogen. Die in den Länderverträgen ausgestalteten Regeln orientieren sich am Grundgesetz, gehen aber auch darüber hinaus: Sie erstrecken sich zum Beispiel auf den Bereich der Hochschulen, der Friedhöfe, der Denkmalpflege und des Rundfunks – oft ist die ganze Bandbreite des staatlich-kirchlichen Zusammenwirkens daran abzulesen.

Die grundlegenden „Schnittstellen“, die das Verhältnis zwischen Kirche und Staat charakterisieren, finden sich indes im Grundgesetz. Zu diesen „Schnittstellen“ – oft werden sie auch „gemeinsame Angelegenheiten“ oder „res mixtae“ genannt – fallen beispielsweise der Religionsunterricht, die Kirchensteuer, die Seelsorge in der Bundeswehr, in Krankenhäusern und Gefängnissen.

Der Religionsunterricht ist eine Konsequenz der durch das Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit und auf partnerschaftliche Zusammenarbeit ausgerichtet. Art. 7 GG schreibt fest, dass der Staat das Aufsichtsrecht wahrnimmt, während die Religionsgemeinschaften den Unterricht inhaltlich verantworten. Der Religionsunterricht soll der freien religiösen und ethischen Orientierung von Kindern und Jugendlichen dienen. Das gilt auch für muslimischen Religionsunterricht, dessen Einrichtung die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) befürwortet.

Häufig in der Kritik ist ein weiterer grundgesetzlich festgeschriebener „Berührungspunkt“ zwischen Kirche und Staat: die Kirchensteuer. Der Begriff „Steuer“ ist missverständlich. Bei der Kirchensteuer geht es nicht um eine staatliche Steuer, sondern im Kern um einen Mitgliedsbeitrag. Der oder die Kirchensteuerpflichtige kann sich durch Kirchenaustritt der Steuerpflicht entledigen, was gegenüber dem Staat undenkbar wäre. Die Kirchen können – ebenso wie alle anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, die den Status einer Körperschaft des Öffentlichen Rechts haben – den Kirchensteuereinzug auf den Staat übertragen. Was die wenigsten Kritiker dieser Kooperation wissen, ist, dass davon beide Seiten in erheblichem Maße profitieren: Die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sparen sich den Aufbau einer diesbezüglichen Finanz-Verwaltungsstruktur. Der Staat wiederum lässt sich seine Hilfe mehr als kostendeckend bezahlen, denn er behält zwei bis vier Prozent der Kirchensteuer ein.

Immer wieder fällt der kritische Blick der Öffentlichkeit auch auf die so genannten Staatsleistungen. Dabei handelt es sich um Ersatzleistungen des Staates an die Kirchen. Ein wichtiger Grund dafür liegt mehr als 200 Jahre zurück: Mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 enteignete das Reich kirchliche Güter rechts des Rheins, um damit Landesherren zu entschädigen, die in den inzwischen zu Frankreich gehörenden linksrheinischen Gebieten Grundbesitz verloren hatten. Diesen Schaden ersetzt der Staat den Kirchen bis heute dadurch, dass er die entgangenen Erträge aus dem enteigneten Grundbesitz regelmäßig erstattet. Die Weimarer Reichsverfassung sah und das Grundgesetz sieht die Ablösung der Staatsleistungen vor. Mit „Ablösen“ ist allerdings nicht „entschädigungsloses Enteignen“ gemeint. Eine Ablösung – der sich die EKD grundsätzlich keinesfalls versperrt! – sollte aber zu rechtsstaatlichen, fairen Bedingungen erfolgen. „Fair“ heißt in diesem Zusammenhang, dass die Kirchen, die die laufenden Staatsleistungen in ihren Haushalten eingeplant haben, einen Ersatz erhalten, aus dem sie langfristig wirtschaftlichen Nutzen ziehen können.

Nicht unumstritten ist auch die enge Zusammenarbeit von Staat und Kirche bei der Seelsorge in der Bundeswehr. Rechtsgrundlage dafür ist der Militärseelsorgevertrag von 1957. Darin ist vereinbart, dass die Militärseelsorge im Auftrag und unter Aufsicht der Kirche geschieht, der Staat aber für den organisatorischen Aufbau sorgt und die Kosten trägt. Letzteres geschieht, weil der Staat jedem Bürger und jeder Bürgerin die grundgesetzlich garantierte freie Religionsausübung ermöglichen muss. Da der Staat diese Möglichkeit einschränkt, indem er Soldatinnen und Soldaten kaserniert, ins Manöver schickt oder zu monatelangen Auslandseinsätzen verpflichtet, muss er für Ersatz sorgen. Das gilt übrigens nicht nur bei Soldaten sondern auch, wenn Menschen zu Haftstrafen verurteilt werden. Deshalb werden auch die Kosten für Gefängnispfarrstellen vom Staat refinanziert.

Kirche als gesellschaftliche Kraft und Stütze des demokratischen Rechtsstaats

Das Staat-Kirche-Verhältnis in der Bundesrepublik ist also von seinen gesetzlichen Grundlagen her auf eine Trennung und zugleich auf ein partnerschaftliches Miteinander ausgelegt, das sich immer wieder bewähren muss und bewährt. Der Staat erkennt die Kirchen und Religionsgemeinschaften als wichtige gesellschaftliche Akteure an. Leitend ist dabei das Prinzip der Subsidiarität, demzufolge der Staat Leistungen im sozialen und kulturellen Bereich nur dann selbst erbringt, wenn es keine gesellschaftlichen Träger gibt, die dazu bereit sind. Auf diese Weise werden vorhandene Kompetenzen genutzt, das Tun in der Gesellschaft verankert, Vielfalt gefördert und Gleichschaltung verhindert. Indem die Kirchen mit dafür sorgen, dass das Subsidiaritätsprinzip seine Wirkung entfalten kann, tragen sie zur Stabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft bei.

Konkret findet dies vorwiegend im diakonischen Bereich statt. Die Zahl der hauptamtlich Beschäftigten bei der Diakonie Deutschland ist aktuell auf 525.700 angewachsen.[3] Rund zehn Millionen Menschen nehmen deren Dienste in Anspruch. Aus dem diakonischen Engagement der evangelischen und der katholischen Kirche zieht das Gemeinwesen mehrfachen Gewinn: Es profitiert von der besonderen Kompetenz der Mitarbeitenden von Diakonie und Caritas, von dem finanziellen Eigenanteil, den die Kirchen erbringen, und nicht zuletzt von dem zusätzlichen Engagement der sage und schreibe 700.000 Freiwilligen, die in den diakonischen Einrichtungen tätig sind[4]. Kirchen, Diakonie und Caritas stellen Möglichkeiten und Kräfte zur Verfügung, die allen Bürgerinnen und Bürgern zugutekommen. Damit wird ein Beitrag zur Funktionsfähigkeit unserer Gesellschaft geleistet, der seinesgleichen sucht.

Wichtige Partner des Staates sind die Kirchen auch in den Bereichen Bildung und Kultur. Der Anspruch des Religionsunterrichts, in unserer multireligiösen Gesellschaft einen Beitrag zu Sinnstiftung und Orientierung, Verständigungsfähigkeit und Toleranz zu leisten, gilt in allen Bildungsbereichen, in denen die evangelische Kirche sich engagiert; sei es als Trägerin von Schulen, Hochschulen, Akademien oder Kindertagesstätten. Die hohe Nachfrage nach diesem kirchlichen Dienst lässt sich belegen: Jeder sechste Platz einer Kita wird von der evangelischen Kirche getragen. Kirche und Diakonie tragen darüber hinaus mehr als 1.000 evangelische Schulen aller Schulformen[5].

Die Bedeutung des Religionsunterrichtes wird in diesen Tagen, in denen Religionszugehörigkeit zur Ab- und Ausgrenzung missbraucht wird, besonders offensichtlich. Es steht zu befürchten, dass mit der wachsenden Unkenntnis über Religion und Glauben in unserer Gesellschaft auch die Neigung zunimmt, sich von gläubigen Menschen und religiösen Handlungen bedroht zu fühlen. Dem kann ein guter Religionsunterricht entgegensteuern.

Im Kulturbereich bringen die katholische und die evangelische Kirche jährlich erhebliche Mittel auf. Mit dem Denkmalschutz und der Musik seien hier nur zwei Bereiche genannt, in denen sich die Kirche besonders engagiert.

Eine wichtige staatliche Aufgabe, an der sich die Kirche im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips beteiligt, ist die Entwicklungszusammenarbeit. Mehr als 150 Millionen Euro erhält das evangelische Hilfswerk Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst jedes Jahr vom Staat; hinzu kommen weitere rund 120 Millionen Euro, die über Kirchensteuereinnahmen und Spenden von der EKD und den Gliedkirchen zur Verfügung gestellt werden. Damit werden Projekte in Afrika, Asien und Lateinamerika gefördert. Anders als der Staat kann die Kirche dabei auf ein Netz von mehr als 2000 Partnerorganisationen vor Ort zurückgreifen, die auch in sehr abgelegenen Regionen oder unter sehr gefährlichen Bedingungen tätig sind. Diese Partner vor Ort können Menschen erreichen und mobilisieren, die für staatliche Organisationen nicht ohne weiteres erreichbar sind.

Diese Beispiele zeigen: Kirche wirkt über ihr Kerngeschäft hinaus. Sie stützt, tröstet und begleitet viele Millionen Menschen in unserem Land durch die Verkündigung des Evangeliums, und sie bietet ihnen eine geistliche und soziale Heimat in der Gemeinde. Das ist ihre erste und vornehmste Aufgabe. Darüber hinaus leisten die evangelische wie die katholische Kirche einen sozialproduktiven und die Demokratie stabilisierenden Beitrag, der nicht nur ihren jeweiligen Mitgliedern, sondern allen Menschen in unserem Land und auch Menschen jenseits der deutschen Grenzen zugutekommt.

Diese Funktion der Kirche als Leistungsträgerin in der Gesellschaft und Stütze staatlicher Strukturen legitimiert den kirchlichen Anspruch, das Gemeinwesen mit zu gestalten. Zugleich erwächst dieser Anspruch aus den Erfahrungen kirchlichen Versagens in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. Die Kirche darf und will die Gestaltung gesellschaftlichen Lebens nicht allein dem Staat überlassen. Deshalb hat sie zum Beispiel eigene Akademien errichtet und deshalb gibt es das Amt des Bevollmächtigten des Rates bei der Bundesrepublik Deutschland.

Politik kritisch begleiten und das Gemeinwesen mitgestalten – das wollen die christlichen Kirchen selbstverständlich auch aufgrund ihrer grundsätzlichen Zustimmung zur Demokratie, die die Übernahme von Verantwortung durch die Kirchen erfordert wie ermöglicht. In dem von EKD und Deutscher Bischofskonferenz verfassten Text „Demokratie braucht Tugenden“ aus dem Jahr 2006 ist die Überzeugung formuliert, dass unsere freiheitliche Demokratie „in besonderer Weise dem christlichen Menschenbild entspricht“[6]. Tatsächlich gibt es eine deutliche Konvergenz zwischen Art. 1 des Grundgesetzes, der die unantastbare Würde des Menschen konstatiert, und der biblischen Anthropologie, wie sie etwa im ersten Schöpfungsbericht zum Ausdruck kommt. In dem Sozialwort der Kirchen von 1997 haben der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und der Ratsvorsitzende der EKD es als zentrales Anliegen der Kirchen bezeichnet, „zu einer Verständigung über die Grundlagen und Perspektiven einer menschenwürdigen, freien, gerechten und solidarischen Ordnung von Staat und Gesellschaft beizutragen“.[7] Dabei nimmt die Kirche immer auch die Situation der Menschen weltweit in den Blick und erinnert an die Verantwortung für kommende Generationen.

Die Kirchen melden sich also in zahlreichen politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen zu Wort. Sie tun dies ungefragt, werden aber auch nicht selten gebeten, sich mit ihrer Expertise in gesellschaftliche und politische Prozesse einzubringen. So haben Vertreterinnen und Vertreter der EKD ihren Platz beispielsweise im Rundfunkrat öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten oder im Deutschen Ethikrat; auch in punktuell berufenen Gremien wie der Expertenkommission, die die Suche nach einem Atommüll-Endlager vorzubereiten hatte, oder einer Arbeitsgruppe der Islamkonferenz beim Bundesminister des Innern, waren bzw. sind EKD-Repräsentanten tätig.

Solche explizit gewünschten Kooperationen zeigen, wie selbstverständlich die Beteiligung der Kirchen für den Staat ist. Neben diesen erbetenen politischen Beteiligungsformen äußert sich die EKD natürlich immer wieder anlassbezogen. Ihre Stellungnahmen werden gehört, mögen sie auch nicht in allen Fällen wohlgelitten sein. Im Blick auf den offiziellen Kontakt der EKD zu den politischen Akteuren in Berlin und in Brüssel will die Kirche nach Möglichkeit mit einer Stimme sprechen. Hier kommt der Bevollmächtigte des Rates ins Spiel.

Evangelische Kirche in Berlin und Brüssel

Die Dienststelle des Bevollmächtigten ist das Scharnier zwischen Evangelischer Kirche und Politik in Berlin und Brüssel. Der Bevollmächtigte ist zuständig für die politische Information des Rates und die politische Kommunikation der EKD. Damit ist er an einer Vielzahl gesellschaftlicher Diskussionen beteiligt und in besonderer Weise mit den Berührungspunkten von Staat und Kirche befasst. Seine Kommunikationsaufgabe erfüllt er mit einem kleinen Stab an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die meisten Theologen oder Juristen. Sehr eng arbeiten der Bevollmächtigte und sein Team mit ihren katholischen Kollegen des Kommissariats der Deutschen Bischöfe in Berlin zusammen. Die Erfahrung hat gezeigt: Je enger der ökumenische Schulterschluss, desto wirksamer die kirchlichen Stellungnahmen.

Aufgabe des Bevollmächtigten ist es zuerst, Kirche für die in Berlin und Brüssel tätigen Politikerinnen und Politiker zu sein. Dazu gehört die Feier von Gottesdiensten. In den Sitzungswochen des Bundestages werden zweimal wöchentlich Andachten angeboten. Von den politischen Büros der Kirchen werden ferner die ökumenischen Gottesdienste verantwortet, die vor dem Beginn offizieller Staatsakte wie zum Beispiel bei der Konstituierung des Bundestages oder bei der Wahl des Bundespräsidenten gefeiert werden. Diese Angebote, die die strukturelle Verbundenheit von Kirche und Staat spiegeln, sind lebendige Berührungspunkte im Staat-Kirche-Verhältnis. Das gilt auch für die Dank- und Segensgottesdienste, die seit 2009 zum Abschluss einer Legislaturperiode im Bundestag gefeiert werden oder der jährliche Sendungsgottesdienst für die ausreisenden Diplomaten.

Zur Präsenz von Kirche im politischen Raum gehören auch Gemeinschaft und Seelsorge. Neben zahlreichen Einzelgesprächen, die der Bevollmächtigte führt, lädt er die evangelischen und die nicht konfessionell gebundenen Abgeordneten regelmäßig zu Gebetsfrühstücken in die Dienststelle ein. Ebenfalls sehr nachgefragt ist der jährliche Johannesempfang für Repräsentanten aus Gesellschaft, Kirche und Staat, den der Bevollmächtigte ausrichtet.

„Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“ (Sprüche 31,8). Dieser Bibelvers steht auf der Berufungsurkunde des Bevollmächtigten. Wenn er sich im Namen der Kirche an politischen und gesellschaftlichen Debatten beteiligt, dann geht es dabei überwiegend um jene Menschen, deren Stimme im politischen Raum gar nicht oder nur schwach zu vernehmen ist. Klassische Arbeitsfelder sind Flüchtlings- und Migrationsfragen, soziale und bioethische Themen. Auch die Interessen der Institution Kirche werden vertreten, doch ist dies der geringste Teil des Aufgabengebiets.

Ausblick

Kirche, Gesellschaft und Staat können mit der derzeitigen Situation sehr zufrieden sein. Das produktive Verhältnis zwischen Kirche und Staat ist aber keine Selbstverständlichkeit. Nicht wenige Menschen in Deutschland betrachten es mit Argwohn. Vielen geht die Trennung von Kirche und Staat nicht weit genug; sie streben eine laizistische Lösung an, die die Religion in den Bereich des Privaten verbannt. Von einem neuen Kulturkampf kann gewiss nicht die Rede sein, doch besteht kein Anlass, sich entspannt zurückzulehnen und den Status Quo für unumstößlich zu halten. Dass Staat und Kirche getrennt und zugleich partnerschaftlich verbunden sind und dass das eine Wohltat für alle ist, bedarf ständiger Begründung und Werbung. Hier sind alle gefragt, die das gegenwärtige Staat-Kirche-Verhältnis für gut halten und den gesamtgesellschaftlichen Gewinn dieser Partnerschaft erkennen.


[1] Siehe Martin Luthers Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ erschiene Anfang 1523
[2] Prof. Dr. Hans Michael Heinig: „Welches Verständnis von Religionsrecht und Religionsfreiheit brauchen wir?“ Vortrag auf der 49. Jahrestagung des Evangelischen Arbeitskreises in der CDU/CSU. In: Evangelische Verantwortung, Ausgabe 7 + 8, 2013, S. 19.

[3] Stand 1. Januar 2016. In: „Gezählt 2018. Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben“, Hg: Evangelische Kirche in Deutschland, S. 26.
[4] Ebd
[5] Ebd., S. 23.
[6] „Demokratie braucht Tugenden“, Gemeinsame Texte 19, 2006, S. 12. Auch das Gemeinsame Wort zur Demokratie der beiden Kirchen aus dem Jahr 2019: „Vertrauen in die Demokratie stärken. Ein gemeinsames Wort der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland“ geht davon aus, dass die rechtsstaatliche Demokratie „die beste Garantie für die Wahrung der Freiheit, der Würde und der Rechte jedes einzelnen Menschen“ ist“. (S.16)
[7]Vorwort zum Gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“, 1997

Dieser Text ist die leicht geänderte Fassung eines Vortrags des Bevollmächtigten des Rates der EKD, Martin Dutzmann: „Getrennt und doch partnerschaftlich verbunden – zum Verhältnis von Kirche und Staat in der Bundesrepublik Deutschland“ aus dem Jahr 2014.