Gott in der Stadt

Perspektiven evangelischer Kirche in der Stadt, EKD-Texte 93, 2007

I. Die Stadt

„Eine Stadt, sagt man, sei eine Ansammlung von Menschen, die zusammenkamen, weil sie hofften, auf diese Weise besser und glücklicher leben zu können.“ So charakterisierte Giovanni Botero, ein italienischer Philosoph im 16. Jahrhundert die Stadt.

Die Stadt, gescholten als Sündenpfuhl und gefeiert als Raum der Freiheit, ist weltweit seit ihrer Erfindung die dominierende und fortwährend wachsende Siedlungsform. Als eine der größten Kulturleistungen der Menschheit bleibt sie das große und oft uneingelöste Versprechen auf ein glückliches Leben. Ein Versprechen, das die Städte in fast allen Erdteilen rasant wachsen lässt.
Doch lebt die Stadt aus dem Miteinander des Verschiedenen und Fremden. Sie ist der Ort von Gegensätzen. Ambivalenzen gehören zu ihrem Charakter. Das Versprechen von Freiheit und Glück trägt auf seiner Rückseite die Zumutungen von sozialräumlicher Enge, Begegnung mit dem Fremden und öffentlicher Konflikte.

Die Kirche hält in der Tradition der biblischen Überlieferungen an der Vision fest, dass eine städtische Gestalt möglich ist, in der Frieden und Gerechtigkeit für alle gelten. Diese Vision muss heute, mehr denn je, auf einen mündigen Stadtbürger vertrauen, der die Herausforderung annimmt, seine Freiheit in Verantwortung für die ganze Stadt zu leben.

Angesichts der weltweiten Bevölkerungsentwicklung gibt es keine Alternative zur städtischen Lebensform für die Mehrheit der Menschen auf dieser Erde. Deshalb müssen die Idee einer gerechten Stadt vitalisiert und ihre Integrationskräfte gestärkt werden. Religiöse Kräfte - in europäischen Städten in erster Linie die christlichen Kirchen - werden in diesem Prozess eine Schlüsselrolle spielen.

1. Die Stadt als Versprechen und Verrat

1.1. Die Idee der Stadt

„Stadtluft macht frei!“ - in diesem geflügelten Wort bündelt sich die Attraktivität der Stadt. Ursprünglich war die Freiheit, die die Stadt gewährte, ganz konkret: Leibeigene konnten - nach einjährigem Aufenthalt in der Stadt und wenn sie sich in dieser Zeit nichts hatten zuschulden kommen lassen - ihr Bürgerrecht als Freie zurück erlangen. Darin spiegelt sich die Idee der humanen Stadt. Das Sprichwort zeigt zugleich an, dass sich die europäische Stadt immer auch über den Gegensatz zu dem sie umgebenden Land definierte. Die Stadtbevölkerung unterschied sich von der Landbevölkerung dadurch, dass sie nicht Tag für Tag der unkultivierten Natur in harter körperlicher Arbeit das tägliche Brot abringen musste.

Zur Stadt gehört von Anfang an die Begegnung mit dem Fremden. Dies ist geradezu ein Definitionsmerkmal von Stadt: „Stadt ist der Ort, wo Fremde wohnen.“(2) Auch an diesem Punkt unterscheidet sich die Stadt vom Land: Archaische Land-Kulturen haben bis heute ihre Spitze darin, die eigenen „Stammesgenossen“ zu schützen, Fremde auszugliedern und Feinde zu vertreiben. Die Stadtkultur ist, ihrer Idee wie ihrer Praxis nach, ein entscheidender Schritt darüber hinaus. Die Stadt ist geprägt von den Lebenszusammenhängen eines geregelten Nebeneinanders von einander Fremden, die einander zumeist fremd bleiben. Städte sind Lebensorte einer Gemeinschaft, die unterschiedliche Herkünfte und verschiedene Denkweisen in sich vereinigt und so ausgleicht, dass die Interessen miteinander vereinbar werden. Die Integration des Fremden ist die Utopie der Stadt.

Die Gemeinschaft der Städter vereinigte die in Herkunft und Denkweise Fremden und verband sie in dem Bewusstsein, Einwohner der gemeinsamen Stadt zu sein, selbst wenn sie kein formelles Bürgerrecht besaßen. Das ursprüngliche Stadtempfinden ist elementar das Empfinden, Teil eines Gemeinwesens zu sein, das die Unterschiede zwischen den Verschiedenen nicht einfach negiert, aber doch in gewisser Weise transzendiert. Dem Anspruch nach weitgehender politischer Selbstbestimmung und geistiger Freiheit korrespondieren in der Stadtentwicklung durch die Jahrhunderte die Pflege der Bildung, vielfältiger sozialer Austausch im öffentlichen Raum, die Herausbildung von Eliten, von Handelsmacht und politisch-symbolischer Architektur, Innovationen im technischen und künstlerischen Bereich, aber auch die Schattenseiten von Massenarmut und organisierter Kriminalität.

Die Idee der europäischen Stadt lässt sich mit vier Merkmalen beschreiben:

  • Verdichtung im Blick auf die Bevölkerung, die Bauten und die Nutzungen
  • Stadt-Land-Gegensatz: die Differenzerfahrung zum wirtschaftlich autarken ländlichen Lebensraum
  • Zentralität: die Stadtkrone mit Rathaus, Markt und Kirche als konkreter und symbolischer Ausdruck der politischen, ökonomischen und religiös-geistigen Selbstbestimmung der Stadt
  • Heterogenität und Mischung: das Neben- und Miteinander der verschiedenen sozialen Gruppen sowie ihrer verschiedenen Nutzungen von Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr [3]

1.2. Menschengerechte Stadt?

Folgt man der Stadtsoziologie, so hat sich dieser Grundtypus der Stadt, der seine Orientierung an der griechischen „Polis“ nie verleugnet hat, im Laufe der Geschichte allerdings mehr und mehr verändert.

Seit Jahrzehnten wird vom „Ende der Stadtkultur“ [4] gesprochen. Verschwindet die Idee der Stadt wirklich hinter den sich anhäufenden Problemen der Stadt? Ist nicht die sich neu anbahnende Attraktivität für ein Leben in der Mitte der Stadt auch als Kritik eines Lebens an der Peripherie, und sei es einer grünen Peripherie, zu verstehen?

Eine „menschengerechte Stadt“, die „menschlichen Maßstäben und zugleich ökologischen Erfordernissen“ entspricht, wurde in der letzten Studie der Evangelischen Kirche zum Thema Stadt beschrieben und gefordert [5] - aber kann sie noch als erreichbar angesehen werden? Stadtsoziologen, Stadtentwickler und Urbanistiker beschreiben in ihren Analysen gegenwärtig die Stadt eher als Krisenphänomen und sind auch in ihren Zukunftsprognosen stärker skeptisch als optimistisch gestimmt [6]. Wer sich mit der Entwicklung der Städte in Deutschland befasst, erhält von dieser Seite immer seltener beruhigende oder hoffnungsvolle Auskünfte. Dabei korrespondiert die Dramatik in der Beschreibung anscheinend mit der Größe der in den Blick genommenen Städte. Die Menge und die Komplexität der Probleme wachsen mit zunehmender Größe der Stadt, auch wenn die europäische Städtestruktur sich bis heute im Wesentlichen erhalten hat. Die Stabilität der europäischen Städtelandschaft über mehr als ein Jahrtausend und damit verbunden die Bewältigung von Epochen grundlegenden Wandels der Binnenorganisation dieser Städte gehört zu den großen Konstanten der europäischen Kultur. Die ökonomische Zukunft allerdings - so scheint es - gehört boomenden Metropolregionen, die sich in Europa in vergleichsweise moderaten Größen entwickeln. Die europäischen Metropolregionen bleiben dabei weitgehend polyzentrisch strukturiert und verweisen damit auch auf ihre Herkunft aus dem Netzwerk der europäischen Stadtstrukturen. Eine Entwicklung zu Megacitys wie in Südostasien oder Lateinamerika ist bis auf weiteres nicht zu erwarten. London und Paris geben als europäische Städte auch andere Maßstäbe vor. Gleichwohl zeigen gerade die Banlieus von Paris die ungelösten Probleme der Integration der Fremden und Armen in aller Dramatik.

Die in der Literatur behandelten Themen zur gegenwärtigen Entwicklung der Stadt bzw. der Großstadt betreffen im Allgemeinen drei Bereiche, in denen deren Zukunft kritisch gesehen wird: ihre ökonomische, ihre soziale und ihre ökologische Basis. Da alle drei Felder untrennbar miteinander zusammenhängen, ist schon die Problemanalyse nicht einfach. Um so mehr erschwert es anscheinend die Entwicklung von Perspektiven, die zu einem zukunftsorientierten und hoffnungsvollen Umgang mit der Stadt anleiten könnten.

Mit der Stadt verbinden sich Verheißungen und Gefährdungen, Bedrohungen und Verlockungen, Freiheit und Abhängigkeit, Reichtum und Armut, Hoffnung und Elend. Wovon ist abhängig, was im konkreten Fall die Oberhand gewinnt? Und wie kann es gelingen, an die beschriebene Idee der Stadt in Theorie und Praxis anzuknüpfen? Wir gehen davon aus, dass die Zukunft der Städte weder mit umfassenden Planungsutopien noch mit apokalyptischen Krisenszenarien beschrieben und gewonnen wird - sondern mit der beharrlichen Arbeit an der Frage, wie die Idee der Stadt reformuliert und mit Hilfe welcher Akteure die Idee der Stadt in neue, konkrete Handlungsschritte umgesetzt werden kann.

1.3. Ambivalenzen im Blick auf die Stadt

Der aktuelle Blick auf die Stadt löst nicht unerhebliche Ambivalenzgefühle aus. Schon die Frage nach dem persönlichen Erleben der Stadt macht die Ambivalenzen deutlich, die mit der Stadt verbunden sind:

Die gegenüber dem Dorf gegebene höhere Anonymität der Stadt bedeutet einerseits Freiheit vom Zwang zur Vergemeinschaftung, andererseits aber auch mögliche Isolierung und Vereinzelung. Die Freiheit zur Individualität trägt die Möglichkeit des „Verlorengehens“ in sich. Die Toleranz im Nebeneinander der Verschiedenen kann umschlagen in Aggressivität und Gewalt gegenüber dem Fremden. Die unbegrenzten Möglichkeiten, Kontakte zu knüpfen, bedeuten zugleich die Schwierigkeit, wirklich tragende Beziehungen zu erleben und aufrecht zu erhalten. Die Fülle der Erlebnis- und Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebens ist verbunden mit generell empfundener Unübersichtlichkeit und Bedeutungslosigkeit [7].

Leben in der Stadt bedeutet also einerseits Freiheitsgewinn, andererseits zugleich die Zumutung an den Einzelnen, diese Freiheit eigenverantwortlich gestalten zu müssen. Die größeren Wahlmöglichkeiten, die die Stadt in jeder Beziehung - in bezug auf die Einkaufsmöglichkeiten ebenso wie im Angebot von Kultur und Veranstaltungen, bei möglichen Kontakten zu anderen ebenso wie zur Gestaltung der Freizeit - bietet, haben als Kehrseite die Anforderung, immer wieder neu wählen zu müssen. Der „Zwang zur Häresie“ (Peter L. Berger) manifestiert sich in der Stadt besonders deutlich [8]. Die Stadt, die in vielerlei Hinsicht zum Markt geworden ist, stellt eine ständige Herausforderung dar: weil nicht alles ein für allemal festgelegt ist, muss sich der Einzelne selbst immer wieder neu entscheiden und festlegen - und wenn es nur für einen relativ kurzen Zeitraum ist. Die attraktive Buntheit, die eine Stadt auszeichnet, ist auch irritierend und zugleich unüberschaubar. Daraus folgen vielfältige Verortungen in der Stadt. Es gibt die Orientierung am überschaubaren „Kiez“ mit sozialen Identifikationsangeboten unterschiedlichster Art: seien es der Fußballverein oder andere Milieuwelten in der Stadt, die funktional dörfliche Strukturen haben können, seien es Kulturtempel (Museen, Theater, Oper) oder religiöse Zentren, die Fördervereine oder eben „Gemeinden“ um sich sammeln. Es gibt Nischenkulturen an beschaulichen Orten wie städtische Kleingartenkolonien oder auch die Stamm- oder Szenekneipen.

Die Vielfalt von gewählten Beheimatungsmöglichkeiten im Nahbereich, aber auch in der Stadt als Ganzer macht den Reiz der Stadt aus. Solche letztlich überschaubaren sozialen Orte gibt es für alle gesellschaftlichen Schichten. Sie heben also die sozialräumliche „Spaltung“ der Stadt nicht auf: Die Großstadt impliziert die Städte der Ärmeren und Reicheren, und diese bergen in sich unterschiedliche „Dörfer“, also Nahbereiche mit verschiedenen Logiken des gelingenden wie des verfehlten Lebens.

1.4. Symbole und Sinn

Keine Stadt ist ohne Botschaft. Das gilt nicht nur in dem Sinne, dass einzelne Städte ihr jeweiliges Image zu kommunizieren versuchen. Städte sind mehr als nur eine Ansammlung von Steinen. Sie sprechen eine Sprache. Sie lassen sich „lesen“ [9]. Die Botschaft der Stadt verdichtet sich in ihren Symbolen.

Die räumliche Mitte der Stadt mit Rathaus, Markt und Kirche symbolisierte einstmals die Einheit des Gemeinwesens, das Ineinander von Bürger- und Christengemeinde. Im Unterschied zu früher wölbt sich jedoch heute über der Stadt kein einheitlicher Symbolhimmel mehr. In Europa verfügen Städte zwar über eine vorindustrielle Geschichte und damit über eine rudimentär oder auch stärker noch präsente Erinnerungslandschaft. Sie ist historisches Kapital der Stadt. Einmal gebaute Strukturen verschwinden deshalb nicht einfach. Kirchen in der alten Mitte der Stadt stehen immer noch für das, was die Stadt ehemals in ihrem Innersten zusammenhielt. Sie sind Symbole mit Verweischarakter und bergen symbolische Welten, sind „Schatzhäuser“ der Stadt.

Doch neben die alten Symbole treten neue, die ihren Sinn aus anderen Quellen speisen und ihre eigenen Botschaften haben. „Konsumtempel“, also Kaufhäuser, sind ebenso Symbole eines ökonomischen Erfolgsstrebens und der Macht des Geldes wie architektonisch herausragende Verwaltungszentralen von Banken und anderen Unternehmen, die in der Regel Kirchtürme weit überragen. Zudem entstehen mit herausragenden Museumsbauten oder Konzert-, Opern- und Theaterhäusern kulturell bestimmte Symbolorte.

Die Stadt und das Stadtleben sind voll von Verweisen und Anspielungen auf andere Welten. Kommerzielle Anbieter bringen nicht einfach nur ihre Waren auf den Markt, sondern bieten mit dem jeweiligen Produkt Werte und Sinn an. Dabei bedienen sie sich bei der Bewerbung der Produkte auch religiöser Zitate, die sie kommerziell funktionalisieren. Neue Symbole und Rituale zielen auf Annahme und Beteiligung. Erlebnisangebote versprechen denen, die sie wahrnehmen, den Alltag transzendieren zu können. Die Sehnsucht nach dem Transzendieren der je eigenen „Welt“ kann nur deswegen auch kommerziell ausgebeutet werden, weil sie dem Subjekt eingestiftet zu sein scheint. Die Rede von der „säkularen“ Stadt hat lange verdeckt, dass gerade die säkulare Stadt „voller Religion“ ist. Es gibt nicht nur die Transformation religiöser Verheißungen in ökonomische Angebote („Urlaubsparadies“), sondern auch die ästhetisch-symbolische „Aufladung“ von Konsumgütern in die Verheißung von käuflichen Lebensgefühlen („Wohnst du noch oder lebst du schon?“). Es ist darum zu Recht von der „Dialektik der Säkularisierung“ gesprochen worden (J.B. Metz). Gerade darum ist eine Erinnerung an die Vielfalt biblischer Stadtbilder und Stadtvisionen wichtig.

1.5. Biblische Bilder der Stadt

Im ersten Buch der Bibel wird die Realität von Städten dramatisch geschildert - und um eine Deutung ihrer Widersprüche gerungen. Es geht nicht nur um Sodom und Gomorra. Diese Städte sind zwar zu sprichwörtlichen Negativsymbolen geworden, aber in ihnen spielen auch die „Gerechten“ als die Säulen der Stadt [10] eine gewichtige Rolle. Zugleich geht es im 1. Buch Mose um den symbolischen Vater aller Städte. Kain, der Sesshafte, der seinen Bruder Abel, den Nomaden, erschlägt, wird, geplagt von Schuld und Angst vor Rache, zum unruhigen Stadtnomaden. Henoch, der Name der ersten biblischen Stadt, die Kain gegründet hat (Gen 4,17) ist der Name seines Sohnes. Symbolträchtiger kann kaum ausgedrückt werden, dass Städte zu „Vaterstädten“ werden können. Henoch - wie seitdem alle Städte - ist zwar geprägt vom Schatten möglicher Gewalttaten, aber auch von Zither- und Flötenspielern, (Gen 4, 21-22). Kultur und Gewalt, das ist eine Urspannung aller Städte bis auf den heutigen Tag geblieben. Kain als Person, aber auch Henoch und allen anderen Städten ist gleichwohl das Kainsmal auf die Stirn gemalt, jenes von Gott dem Menschen und ihren Städten eingestiftete Schutzzeichen, das an die unverlierbare Würde und Ebenbildlichkeit Gottes erinnern will. Gilt dieses nur für den Einzelnen oder in abgeleiteter Form auch für das Gemeinwesen der Stadt?

Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, formuliert in starken Worten die Vision eines neuen Anfangs, einer neuen Erde und eines neuen Himmels, symbolisiert im Bild einer neuen Stadt (Apk 21/22). In ihr werden nicht nur die Menschen, sondern auch die Natur, die Kultur und die Religion verwandelt. Am Ende der Bibel ist ihr Anfang präsent: das Paradies. Aber es wird nicht einfach wiederholt. Die Utopie des Paradiesgartens wird zwar zitiert, aber der Garten ist in die Stadt hineingewandert. Die Ströme des Paradieses durchfließen die Stadt. Sie ist ein kunstvolles Gebilde. Ein Quader von riesigen Ausmaßen, ästhetisch vollkommen gestaltet mit zwölf offenen Toren, die jeweils von zwölf verschiedenen kostbaren Edelsteinen verziert sind. Sie zeigen in ihrer Weise das Zusammenspiel von Natur und Kunst, von Individualität und Sozialität. Denn jedes Tor ist anders gestaltet und doch den anderen zugeordnet. Die Tore weisen in alle Himmelsrichtungen. Sie werden nie geschlossen, auch nachts nicht. Alle können kommen und gehen. Die Unterscheidung von Fremden und Einheimischen ist aufgehoben. Schließlich wird auch die Nacht - die Sphäre der dunklen Mächte - verwandelt ins Licht. Vielleicht das Überraschendste an dieser Vision: In der Stadt gibt es keine Tempel mehr. Gott selbst wohnt bei und in den Menschen. Sie sind die lebendigen Wohnungen Gottes. Rathäuser, Schulen oder Gerichte werden nicht mehr benötigt. Der Geist Gottes hat sich in die Herzen der Menschen eingeschrieben.

Die Neue Stadt trägt einen uralten Namen: Jerusalem; diese seit Jahrtausenden umkämpfte, vielfach zerstörte, wieder aufgebaute und gespaltene Stadt [11].) Aber das irdische und das himmlische Jerusalem sind um ihres Namens willen bleibend verbunden. Das aber bedeutet im Sinne der biblischen Tradition: Städte sind nicht nur Objektivationen des Menschen in allen seinen Licht- und Schattenseiten. Städte sind auch Herbergen des Geistes Gottes, sie sind Fährten ins Neue, in die Zukunft. Die Utopie des ausstehenden, aber näher kommenden himmlischen Jerusalems interpretiert Städte als Experimentierbühnen der Wandlung und Verwandlung. Städte sind nicht nur Orte der Zerstörung und der Gewalt, sondern auch Baustellen zur Errichtung des Neuen.

Die Bedeutung der Vision der Neuen Stadt auf den letzten Seiten der Bibel ist eindeutig: Das Himmlische Jerusalem ist der kritische Maßstab für die Humanität der irdischen Städte. Ihr damaliges Haupt und Symbol der Weltherrschaft war Rom. Alle Provinzmetropolen hatten sich am Bild Roms zu orientieren. Dieses irdische Rom, das sich selbst als letztgültigen Maßstab seines weltumspannenden Reiches versteht, wird in dieser Vision entthront, als Babylon apostrophiert und damit sein späterer Untergang gleichsam vorweg genommen. Die Idee der Stadt Gottes dagegen ist die Umwandlung ihrer tödlichen Widersprüche in kreative Spannungen und das Aufrichten von Recht und Gerechtigkeit für alle Bewohnerinnen und Bewohner. Die Idee der Stadt ist Leben in Fülle: Die Lahmen tanzen, die Blinden sehen, die Tauben hören. Die Reichen teilen aus - und die in Schuldknechtschaft Versklavten werden frei.

Für die Kirchen in der Stadt kann das bedeuten, dass sie einerseits öffentliche Kainsmale, Mahnzeichen im Blick auf die Selbstüberheblichkeit und Hybris des Menschen sind, andererseits aber auch Hoffnungsträger, weil sie von Gottes schöpferischer Mitleidenschaft (Compassion) mit seinen Geschöpfen künden.

Jerusalem - Athen - Rom: Erst ihr komplexes und spannungsvolles Zusammenspiel macht den Reichtum der europäischen Stadt aus. Ihre Potentiale sind noch längst nicht ausgeschöpft. Freilich: Ohne Erinnerungskultur und kritische Aneignung entsteht keine Vision für die Zukunft.

2. Die Stadt als Chance

2.1. Stadt ist nicht gleich Stadt

Die Idee der Stadt bricht sich in der Realität in vielfacher Weise. Stadt ist nicht gleich Stadt. Dabei lassen sich Städte in unterschiedlicher Weise kategorisieren. Die Unterscheidung nach Größe und Einwohnerzahl gibt eine erste Orientierung. Herkömmlich unterscheidet man die Kleinstadt ab 5.000 Einwohner von der Mittelstadt mit mindestens 20.000 Einwohnern und der Großstadt, die über 100.000 Einwohner hat. Innerhalb dieser Kategorie gibt es noch einmal erhebliche Unterschiede, je nachdem, ob eine Stadt mit gut 100.000 Einwohnern eher am unteren Ende rangiert, mit 500.000 Einwohnern schon eine andere Dimension hat oder zu den Metropolen gehört, die auf die Millionengrenze zusteuern oder diese überschreiten. Eine Größe für sich sind die Megastädte, Stadtagglomerationen von mehr als fünf Millionen Einwohnern. Aber selbst die Millionenstädte in Deutschland erreichen diese Größe nicht. Mehr als eine Million Einwohner verzeichnen zurzeit Berlin (3,4 Mio.), Hamburg (1,7 Mio.) und München (1,2 Mio.).

Die Metropolen und die sie umgebenden Metropolregionen gehören zu den attraktiven Städten. Lohnwert, Wohnwert und Freizeitwert addieren sich hier zu einer die Menschen anziehenden Lebensqualität [12]. Attraktiv werden aber auch weitaus kleinere Städte, die aktiv daran arbeiten, die Folgeschäden vergangener „Stadtplanung“ zu beseitigen. Es findet ein Stadtrückbau bzw. ein Stadtumbau statt und Monokulturen ganzer Stadteile werden aufgebrochen. Beispiele dafür sind Görlitz oder Greifswald.

2.2. Städte geben sich ein Gesicht

Um im Attraktivitätswettbewerb der Städte zu bestehen und die Lebensqualität in den Städten zu erhöhen, setzen die politisch Verantwortlichen auf charakteristische Stärken ihrer jeweiligen Stadt. Sie haben erkannt, dass diese Attraktivität nicht einfach gegeben ist, sondern erarbeitet oder wiedergewonnen - und dann auch möglichst öffentlichkeitswirksam kommuniziert werden muss.

Deutlich wird diese Suche nach einer Stadtaufwertung und möglichen Alleinstellungsmerkmalen schon bei den zahlreichen Namenserweiterungen von Städten. Ein Stichwort, eine Apposition oder ein Motto sollen die Attraktivität der Stadt möglichst werbewirksam beschreiben: „Wachsende Stadt“, „Kulturstadt“, „Residenzstadt“, „Einkaufsstadt“, „Medienstadt“, „Stadt der Wissenschaft“.

Nicht nur die harten Fakten kennzeichnen die Lebensqualität (in) einer Stadt. Städte arbeiten an ihrem Image. Sie geben sich Leitbilder und formulieren, was ihre Identität ausmacht. Mit dem Namen der Stadt soll sich eine bestimmte, möglichst markante Anschauung verbinden. Das kann auch die charakteristische Stadtansicht sein, die von einem Ensemble verschiedener Kirchensilhouetten bestimmt wird oder von der Skyline typischer Hochhäuser. Das Wahrzeichen einer Stadt, ein hervorgehobener Ort oder ein markantes, oft historisches Gebäude, fungiert als sprechendes Symbol, das den Namen der Stadt nahe legen und in Erinnerung halten soll.

Alle diese Bemühungen zielen nicht nur auf kurzfristige Effekte und touristische Attraktivität. Immer mehr Städte haben erkannt, dass mit einer effekthaschenden „Festivalisierung“ der Innenstädte allein bestenfalls ein kurzfristiges Interesse entfacht werden kann. Spätestens nach einigen Wiederholungen nutzt sich dieser Effekt ab. Statt auf kurzfristige Events setzen die Städte mit ihrer Arbeit am eigenen positiven Image auf langfristige und nachhaltige Wirkungen.

2.3. Lebensqualität

Die Frage nach der Lebensqualität ist eine der Schlüsselfragen für die Zukunft der Stadt. Die Attraktivität einer Stadt hängt dabei zunächst in hohem Maße von ihrem Lohnwert ab [13]. Mehr als die Hälfte aller Menschen nennt als Grund für einen Wohnortwechsel ein höheres Einkommen bzw. Aufstiegs- und Karrierechancen. Zugleich haben aber der Wohnwert und der Freizeitwert einer Stadt eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Die „weichen Faktoren“, die sich unter der Überschrift „Lebensqualität“ summieren lassen und die den Charakter einer Stadt beschreiben, sind für Menschen nicht weniger wichtig.

Zum Wohnwert einer Stadt gehört, dass sie möglichst alle Bildungseinrichtungen beherbergt und ein ausreichendes Angebot der Kinderbetreuung vorhält. Der Freizeitwert einer Stadt bestimmt sich über Indikatoren wie bequem erreichbare Ausflugs- und Naherholungsgebiete, Stadtparks und Grünanlagen, ein vielseitiges Kultur- und Bildungsangebot, eine entwickelte Infrastruktur, die von ausgebautem ÖPNV bis zur attraktiven Ausstattung mit Sportstätten reicht. Aber auch das Angebot an Restaurants, Cafés und Kneipen entscheidet über den Freizeitwert einer Stadt [14].

Die Zukunft der Stadt liegt nicht in einem quantitativen sondern in ihrem qualitativen Wachstum. Sie liegt darin, dass ihre Lebensqualität zunimmt. Diese Lebensqualität ist in hohem Maße davon abhängig, ob es gelingt, das Leitbild einer funktionellen Stadt, das seit den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vielerorts maßgebend war und nach dem die Funktionen Arbeiten, Wohnen, Freizeit und Verkehr strikt getrennt werden sollten, durch das Leitbild einer funktional vermischten und kulturell attraktiven Stadt abzulösen. In einem solchen Leitbild bilden die einzelnen Funktionen Arbeiten, Wohnen, Verkehr, Freizeit, Kultur und Kommunikation wieder eine lebendige Mischung und somit eine Ausgangsposition für ein qualitatives Wachstum.

Die wachsende Stadt, die an Einwohnerzahl und Ausdehnung zunimmt, wird zukünftig eher die Ausnahme sein. Nur eine Minderheit deutscher Städte wird dazugehören. Schon gegenwärtig haben von den insgesamt 117 kreisfreien Städten nur noch 17 ein natürliches Bevölkerungswachstum. Alle anderen verzeichnen teilweise starke Bevölkerungsverluste. Zu den in ihrer Bevölkerung wachsenden Städten gehören zurzeit einerseits historisch und touristisch bedeutsame Städte wie Heidelberg, Potsdam, Trier, Ulm, Freiburg und Regensburg und andererseits wirtschaftliche starke Metropolen wie Stuttgart, München, Köln, Hamburg, Dresden, Frankfurt und Wiesbaden [15].

Insgesamt haben auch die Städte Anteil an der allgemeinen demographischen Entwicklung in Deutschland. Je nach Prognose wird die Bevölkerung bis zur Mitte unseres Jahrhunderts von jetzt ca. 82 Millionen Einwohnern (2007) auf 60 bis 70 Millionen Einwohner zurückgehen. Durch verstärkte Zuwanderung könnte diese Entwicklung allenfalls verlangsamt, aber nicht umgekehrt werden. Für einzelne Städte und Regionen, besonders in den neuen Bundesländern, werden sich niedrige Geburtenzahlen und Abwanderung addieren, so dass es hier verstärkt zu schrumpfenden Städten kommen wird. Diese Entwicklung ist schon jetzt in Städten wie Hoyerswerda, Eisenhüttenstadt, Guben oder Schwedt, aber auch in Duisburg abzulesen [16].

2.4. Das Quartier als Gestaltungsraum

In der tendenziell unübersichtlichen Großstadt gewinnt der Nahraum wieder an Bedeutung: „Stadteile und Wohnquartiere bekommen in Zukunft wieder eine neue Bedeutung als Mittelpunkte des Lebens, als private Rückzugs- und zentrale Aufenthaltsorte - nicht mehr nur für den Feierabend, sondern 24 Stunden lang, Tag für Tag.“ [17].

Dabei bezeichnet der Begriff „Quartier“ eine Größe, die nicht einfach mit einem amtlich bezeichneten Stadtteil identisch sein muss. Wichtig für ein Quartier ist die Erfahrbarkeit von Zugehörigkeit - sei es in kultureller, ethnischer oder anders bestimmter milieumäßiger Hinsicht. Gerade im Zeitalter der Globalisierung bekommt das Lokale eine zunehmende Bedeutung. Es geht dabei um Verwurzelung und Identifikation.

Das Quartier ist Erfahrungsraum und Gestaltungsraum, es hat ein gewisses Eigenleben, sein Image, seinen Stil und seine Philosophie. Aus dem je eigenen Quartier fährt man „in die Stadt“, d.h. in die City, sei es zum Shopping oder zum Erleben von Kultur. Und zugleich haben besondere Quartiere ihren eigenen Charme, der sie ihrerseits für die Bewohner der Stadt attraktiv macht.

Die Stadtentwicklung hat die Bedeutung des Quartiers erkannt und als Instrument für eine positive Entwicklung der Quartiere das Instrument des Quartiersmanagements entwickelt. Akteure aus Verwaltung, privater Wirtschaft, Vereinen und nicht-organisierten Anwohnern werden im Sinne einer Aktivierungsstrategie in den Gestaltungs- und Verbesserungsprozess ihres Quartiers einbezogen. Betroffene werden zu Beteiligten, Befähigung tritt an die Stelle von Betreuung. Quartiersmanagement zielt auf Entwicklung von Verantwortung für das Stadtquartier und auf die Schaffung von selbsttragenden Bewohnerorganisationen: „In Zukunft brauchen wir in den Städten und Stadtteilen ein soziales Quartiersmanagement, in dem junge und alte Bewohner, Einheimische und Zuwanderer mitwirken und gemeinsame Projekte entwickeln können.“ [18]

3. Aktuelle Entwicklungen der Stadt

3.1. Der Trend zur Stadt

Nicht nur weltweit zieht es immer mehr Menschen in die Stadt. Auch in Deutschland leben zurzeit über achtzig Prozent der Bevölkerung in Städten. Noch kann nicht von einer generellen Umkehrung der in der Vergangenheit vollzogenen Suburbanisierung geredet werden. Dennoch gibt es inzwischen Anzeichen dafür, dass es Menschen wieder mehr in die Innenstädte zieht. Maßgeblich dafür sind Kosten- und Zeitgründe. Das Pendeln zwischen Wohnung und Arbeit wird mit den steigenden Benzinpreisen tendenziell immer teurer und ist zeitaufwändig. Mit zunehmenden Wohnungsleerständen sinken zudem auch die Mietpreise in der Stadt; das Wohnen in der Innenstadt wird wieder bezahlbarer.

Umfragen zeigen: Menschen wünschen sich kurze Wege und bezahlbaren Wohnraum in zentraler Lage, sie möchten möglichst wohnortnah arbeiten [19]. Für die Zukunft deutet sich damit eine Alternative zu den herkömmlichen Wohn- und Lebensstilen der vergangenen Jahrzehnte an: Re-Urbanisierung. Kann es gelingen, die Trennung von Arbeitszentren und Wohngebieten, die unter Umständen dazu noch unzureichend an den öffentlichen Nahverkehr angebunden waren, aufzuheben?

3.2. Schrumpfende Städte - wachsende Metropolregionen

Zunächst jedoch beschreibt die Urbanistik ein eher katastrophisches Szenario. Das Phänomen der „schrumpfenden Städte“ ist inzwischen zum allgemeinen Problem geworden. Der über lange Zeit ungebremste Prozess der Suburbanisierung, also des Exodus großer Teile der Einwohner aus den Kernstädten ins Stadtumland sowie Wanderungsbewegungen von wirtschaftlich schwächeren in prosperierende Regionen und der Bevölkerungsrückgang insgesamt sind die einander befördernden Faktoren in diesem Prozess. In den betroffenen Städten bleiben eher schwächere, schlechter ausgebildete und geringer qualifizierte, vor allem aber ältere Einwohner zurück. Schrumpfende Städte sind gezwungen, ihren Wohnungsbestand durch Abriss zu reduzieren - besonders massiv muss das in den Plattenbausiedlungen der ostdeutschen Städte geschehen - und überdimensionierte technische Infrastrukturen umzubauen. Außerdem muss die soziale Infrastruktur den neuen Bedingungen angepasst werden. Schrumpfung führt also nicht einfach zu einer finanziellen Entlastung der Kommunen, sondern unter Umständen zu neuen Belastungen bei rückläufigen Einnahmen, wie sie mit sinkenden Einwohnerzahlen zwangsläufig verbunden sind.

Stadtforscher prognostizieren nicht nur eine Polarisierung innerhalb der Städte, sondern auch zwischen Städten und Regionen. Neben zahlreichen „Verliererstädten“ wird es vermutlich wenige „Gewinnerstädte und -regionen“ geben. Zu diesen werden vor allem die westlichen Metropolen und Ballungsgebiete wie Hamburg, der Frankfurter und der Kölner Raum, Stuttgart und München, aber wohl auch der Räume Leipzig und Dresden, sowie sehr beliebte Mittelstädte wie z.B. Freiburg, Heidelberg und Potsdam gehören.

3.3. Die gespaltene Stadt

Wenn von der Spaltung der Stadt geredet wird, sind damit zunächst die sich verstärkenden Polarisierungen innerhalb unserer Städte gemeint. Zwar hat es schon immer Unterschiede in der Stadt gegeben. Neu ist jedoch, dass sich diese Unterschiede z.B. zwischen Stadtteilen massiv verstärken und gegenseitig potenzieren. Einige wichtige Entwicklungen sollen im Folgenden benannt werden.

3.3.1. Öffentlich und privat

„Stadtluft macht frei“ - diese Pointierung der Stadtidee lebte und lebt auch von dem Vorhandensein öffentlicher Räume: Marktplatz, Kirche, Park und andere. Bürgerschaftliches Engagement hat diese und andere öffentlichen Räume im Wissen um deren Notwendigkeit über Jahrhunderte bereit gestellt und gepflegt. Im Zuge der Ökonomisierung aller Lebensbereiche lässt sich ein fataler Trend beobachten: um die Ökonomie zu steigern, werden solche Räume zunehmend „privatisiert“. Städtische Verantwortung wird schrittweise und nachhaltig preisgegeben, indem Einrichtungen aus einer öffentlichen in eine private Trägerschaft überführt werden: Stadtteilbibliotheken werden privatisiert, auf ehrenamtliches Engagement „umgestellt“ oder einfach geschlossen. Bahnhöfe werden so stark kommerzialisiert, dass dort nur noch „Kunden“ jeglicher Art gern gesehen sind. In Schwimmbädern oder vergleichbaren Einrichtungen werden die Gebühren so angehoben, dass zwar die Wirtschaftlichkeit gewährleistet ist, die Eintrittspreise aber für ganze Bevölkerungsgruppen zum Problem werden. Die Einkaufsmeilen, -passagen und -zentren in den Innenstädten, oft als „Kathedralen des 21. Jahrhunderts“ [20] bezeichnet, sind fest in privater Hand - nicht zuletzt der private „Security-Service“ signalisiert das auf drastische Weise. Die öffentlichen Orte, an denen Begegnungen gerade zwischen unterschiedlichsten Milieus stattfinden konnten und die zur Normalität der alten Städte gehörten, werden auf diese Weise Schritt um Schritt zurückgedrängt.

3.3.2. Arm und reich

Statistiken belegen, dass Armut und Wohlstand gleichzeitig wachsen, die soziale Polarisierung also zunimmt. Von Armut betroffen sind neben Arbeitslosen und Migranten vor allem Alleinerziehende, Frauen, große Familien und überdurchschnittlich viele Kinder. Individuell wird Einkommensarmut umso schwerer erträglich, wenn andere Gehälter gleichzeitig überproportional wachsen. Die nach Einschätzung der meisten Fachleute auch für die Zukunft zu erwartende hohe Arbeitslosigkeit verschärft die Frage gerechter Teilhabe und lässt eine zunehmende soziale Polarisierung in reich und arm für die Zukunft erwarten. Die Verbindung zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen führt zunehmend dazu, dass sich analog zur sozialen Spaltung auch verhängnisvolle Spaltungen im Bildungsbereich entwickeln. Die von neuer Armut oder Arbeitslosigkeit Betroffenen erfahren ihre Situation als entwertend und entwürdigend. Der äußeren sozialen Ausgrenzung folgt oft eine innere Selbstentwertung mit dramatischen Folgen. Diese sind durch soziale, diakonische oder seelsorgerliche „Betreuung“ nicht aufzufangen. Auf diesen Zusammenhang zwischen gesellschaftlich bedingter Ausgrenzung und internalisierten Entwertungszuschreibungen hat Richard Sennett immer wieder - mahnend - aufmerksam gemacht [21].

Äußerlich sichtbar wird die Polarisierung in arm und reich in der Konzentration von Dienstleistungszentralen prosperierender Unternehmen in ausgewählten städtischen Quartieren einerseits und der „neuen Armut“ andererseits, die sich in Gestalt von Bettlern und Obdachlosen gerade in den Innenstädten zeigt [22].

3.3.3. Heimisch und fremd

Teilweise ist die Polarisierung in arm und reich deckungsgleich mit einer zweiten: der zwischen heimisch und fremd. Die Bildungsunterschiede zwischen Ausländern und Einheimischen tragen dazu bei, dass die Arbeitslosenquote der ausländischen Bevölkerung im Durchschnitt fast doppelt so hoch ist wie bei den Deutschen. Einheimische und Fremde sind aber nicht nur in bezug auf Bildung und Wohlstand voneinander getrennt. Mit der Zunahme des Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung ist auch die räumliche Trennung von Einheimischen und Fremden verbunden. Zuwanderer suchen in der Stadt nach Quartieren, in denen ihre Landsleute bereits ansässig sind. Solche Einwanderungsquartiere erleichtern das Einleben und sind damit eine notwendige Begleiterscheinung der Migration. Schwierig wird es aber überall da, wo in Städten aus der freiwilligen eine strukturelle Segregation wird, die mit einem sozialen und ökonomischen Ausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft verbunden ist. Die Bildung von so genannten „Parallelgesellschaften“ hat in solchen räumlichen Abgrenzungen einen Ausgangspunkt. Problematisch wird die Polarisierung von Einheimischen und Fremden auch dadurch, dass die Zuwanderung zunehmend konkurrierend auf dem Arbeitsmarkt wirkt und daher bei den „Verlierern“ des ökonomischen Strukturwandels zu Recht auch Ängste auslöst. Die Aufspaltung in „heimisch - fremd“ kann auch in der politischen Landschaft der Stadt die Polarisierung vorantreiben und politischem Extremismus Rückenwind geben.

3.3.4. Religiös und areligiös

Im Vergleich zu den beiden ersten Polaritäten schien die Unterscheidung zwischen „religiös - areligiös“ über lange Zeit wenig brisant zu sein. Galt doch in der postmodernen Gesellschaft Religion tendenziell als Privatsache und als Feld, auf dem jeder nach seiner eigenen Facon selig werden konnte. Inzwischen ist die Frage nach der Religion wieder auf der Tagesordnung der Städte, hervorgerufen zuerst durch ca. drei Millionen Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland, die mehrheitlich in Städten leben. Der Islam wird in der Stadt sichtbar. Symbole dafür sind das Kopftuch und die Moschee. Nicht erst der Islamismus mit seinen extremistischen Erscheinungsformen gehört zu den Herausforderungen einer sich ehemals mehrheitlich christlich verstehenden Stadtgesellschaft. Wenn z. B. in einer Stadt wie Hamburg mit einer Gesamtbevölkerung von 1,73 Millionen heute bald so viele Muslime (130.000) wie Katholiken (170.000) leben und die Mitglieder beider großen Kirchen nur noch 43% der Stadtbewohner ausmachen (Evangelische: 570.000), ist mit der Quantität auch eine neue Qualität gegeben. Das Nebeneinander von Christen und Muslimen wirft die Frage auf, ob Religion langfristig zu einem friedensfördernden Faktor in der Stadt wird oder Stoff für neue, zusätzliche Konflikte bietet.

Besonders in den größeren Städten repräsentieren die Mitglieder der großen Kirchen - sowohl im Osten als auch im Westen - nicht mehr selbstverständlich die Mehrheit. Dabei ist Konfessionslosigkeit nicht einfach deckungsgleich mit Religionslosigkeit. Religion wandelt sich, zumindest in bestimmten Milieus, zu einer „Patchwork-Religiosität“. In ihr werden die Elemente verschiedener Weltanschauungen jeweils individuell verknüpft. Zugleich begegnet einem Konfessionslosigkeit besonders in den Städten Ostdeutschlands als inzwischen normales Phänomen. Viele Menschen haben bereits in der zweiten oder dritten Generation in ihrem sozialen Umfeld keine Kontakte zu Christen oder kirchlich institutionalisierter Religion. Die teilweise Unkenntnis über jüdisch-christliche Traditionsstränge in Kunst und Kultur, Recht und Politik in Deutschland wird dabei häufig nicht einmal mehr als Verlust wahrgenommen.

3.3.5. Alt und jung

Der sich in der bundesrepublikanischen Gesellschaft insgesamt vollziehende demographische Wandel ist schließlich die Ursache für die Polarisierung der Städte in alt und jung. Die Addition von niedrigen Geburtenzahlen und ökonomisch bedingten Abwanderungen aus Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit macht hier die eigentliche Brisanz aus. Wenn die weniger werdenden Jungen auf der Suche nach Arbeit die Stadt verlassen, bleiben die Alten zurück. Der Anstieg der über 50-Jährigen auf die Hälfte der Einwohner ist schon jetzt in manchen Städten absehbar. Die Überalterung wird Städte in den neuen Bundesländern besonders verschärft betreffen, die schon in den letzten 15 Jahren zwischen 15% und 30% ihrer Einwohner verloren haben. In den alten Bundesländern findet diese Entwicklung vor allem in Städten statt, die einem massiven Strukturwandel unterliegen, wie z. B. im Ruhrgebiet.

3.4. Segregation und Integration

Die mit der insgesamt zunehmenden Heterogenisierung und Polarisierung der Städte verbundene Segregation gehört nach Einschätzung vieler Fachleute zu den größten Herausforderungen gegenwärtiger Stadtentwicklung. Die verschiedenen Spaltungstendenzen addieren sich im ungünstigen Fall zu einer Herausbildung von Gewinner- und Verliererquartieren. Dabei entsteht in doppelter Hinsicht ein sich verstärkender Regelkreis: Wer es sich leisten kann, entzieht sich der Zumutung von Stadtgebieten durch Wegzug in besser gestellte Quartiere. Die erst einmal stigmatisierten Stadtteile müssen um ihr Image kämpfen. Zur realen Verbesserung ihrer Situation ist ein erheblicher Aufwand in finanzieller, infrastruktureller und kultureller Hinsicht nötig, der einen langen Atem braucht und städtische Haushalte oftmals überfordert.

3.5. Stadtöffentlichkeit

Von ihren Ursprüngen lebt die europäische Stadt in der Existenz von öffentlichen Räumen. Da die Stadt eine Konglomeration von Fremden darstellt, ist eine dauerhafte Koexistenz der Stadtbewohner nur möglich, wenn sie sich an verbindliche Vereinbarungen halten, die dieses Zusammenleben regeln. Stadtkultur ist Streitkultur. Diese Stadtkultur aber erlebt ihre Bewährungsprobe in der Öffentlichkeit: in den Bahnen und Bussen, in den Straßen und auf den Plätzen, am Tag und in der Nacht. Die Begegnungen in der Öffentlichkeit müssen eingeübt werden. Gerade Kinder und Jugendliche leben von öffentlichen, allgemein zugänglichen Räumen wie Kinderspielplätzen und Jugendzentren. Privatisierungstendenzen berauben das Gemeinwesen nicht nur seines allgemeinen Anspruchs, sondern auch der Teilhabemöglichkeiten für alle Stadtbewohner. Eine sorgsame Balance muss immer wieder gefunden werden zwischen dem Recht des einzelnen Bürgers auf seine private Sphäre und seiner sozialen Existenz in einer Stadt.

Diese Balance scheint zumindest in der geistigen Verfassung des Stadtbürgers aus dem Lot geraten zu sein. Eine „Ideologie der Intimität“ [23] breitet sich aus. Die Öffentlichkeit gerät auf die Anklagebank und am Ende gar ins Abseits, weil sie in ihrer angeblichen Anonymität, Kälte und Entfremdung für alle Missstände der Gesellschaft verantwortlich zu sein scheint. Freundeskreis, Arbeitskollegen, Nachbarschaft, Familien sind die Beziehungen, um die sich alles dreht. Ehe, Familie, Freundschaft geraten jedoch, auf sich selbst zurückgeworfen, in die Gefahr der Dauerüberforderung. Lebenskrisen lösen einander ab. Ein radikaler Rückfall hinter die Stadtkultur droht in solchen Situationen. Je enger der Kreis einer solchen Gemeinschaft wird, umso destruktiver wird die Erfahrung von Andersartigkeit. Unbekannte werden zu Außenseitern, die man übersieht oder im schlimmsten Fall sogar bekämpft. Die viel beklagte Spaltung der Stadt hat hier eine ihrer Wurzeln.

Die Kirchen, vor allem die protestantischen Kirchen, haben diesen Auszug aus der städtischen Öffentlichkeit lange mitgemacht. Sie haben ihn teilweise sogar vorangetrieben. Die Glaubens- und Gewissensentscheidung des zu Gott unmittelbaren Christen, die bei Luther noch tief in den Glauben der christlichen Gemeinde eingebunden war, ist offenbar mehr und mehr zu einem Rückzugselement aus der Öffentlichkeit geworden. Die völlige Privatisierung und Individualisierung des Glaubens kann bis zum möglichen Austritt aus der Kirche selbst führen, da er angeblich den Glauben des Einzelnen nicht tangiert. Die Kirchen bieten immer wieder Beispiele ihrer Unfähigkeit, im öffentlichen Raum zu kommunizieren. Die geschlossenen Kirchentüren sind hierfür nur das deutlichste Symbol und ein Zeichen für den Rückzug der Kirchen aus dem öffentlichen Raum.

Gott in der Stadt (pdf)

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