Gott in der Stadt

Perspektiven evangelischer Kirche in der Stadt, EKD-Texte 93, 2007

III. Die Kirche

Die evangelische Kirche hat die Tragfähigkeit ihrer Glaubensüberlieferungen und Traditionen, die Faszination des Heiligen und Geheimnisvollen und die Symbolkraft ihrer Kirchenräume wiederentdeckt. Ihre Kirchengebäude markieren vielfach Zentralpunkte der Stadt. Sie laden ein zur Begegnung mit der geistlich-spirituellen Dimension des Lebens und bewähren sich als ein Forum für das kulturelle Leben und das Stadtgespräch zu sozialen und politischen Fragen.

Die Kirchen sehen alle Teilhabe am Glauben und am geistlichen Leben der Kirche auch als einen Beitrag für die Lebensdienlichkeit der Stadt. In diesem Glauben wirkt die biblische Vision vom himmlischen Jerusalem in unsere Zeit.

Der Segens- und Heilungsdienst der Kirche für die Stadt gründet im Erinnern und Feiern der Barmherzigkeit Gottes, in der Vergegenwärtigung seiner Gnade im Gottesdienst, im Gebet und seelsorgerlichen Gespräch, in liturgischer Gestaltung und im Gesang.

Der Segens- und Heilungsdienst der Kirche entfaltet sich öffentlich auch als Beitrag im Bildungsbereich wie als diakonischer, sozialer und anwaltschaftlicher Einsatz für die Menschen der Stadt. Die Kirche tritt ein in das Netzwerk bürgerschaftlichen Engagements, lebt in der Solidarität mit den Schwachen und tritt ein für die Achtung von Minderheiten. Sie lebt und fördert einen Geist der Güte in der Stadt.

Darin kommt zur Geltung, dass das Heil in Jesus Christus nicht nur der Kirche, sondern allen Menschen und der ganzen Schöpfung zuteil werden soll. Darum hat die Kirche das Wohlergehen und den Frieden für die ganze Stadt im Blick und sucht Begegnung und Verständigung nicht nur mit Christen anderer Konfessionen sondern auch mit Andersglaubenden, mit Fremden und Fernen.

Die Kirche in der Stadt bietet spezifische Beteiligungsformen an. Die lokale Kirchengemeinde im Wohnbereich lässt in Gottesdienst, Seelsorge und Amtshandlungen die gemeinschaftsstiftende Kraft des Glaubens erfahren. Profil- und Schwerpunktkirchen entwickeln Kompetenz und Ausstrahlungskraft im Hinblick auf besondere Themen und Zielgruppen. An den Zentralpunkten der Stadt öffnen sich Kirchen in besonderer Weise für die situative Nachfrage von Passanten und auch Besuchern der Stadt. Sie stellen ihren Raum zur Verfügung für Einkehr und Stille, Andacht und Gebet, Seelsorge und Beichte und die Feier von Gottesdiensten von gesamtstädtischem Interesse.

Die Differenzierung des kirchlichen Angebotsensembles in der Stadt zwischen lokalem Wohnbereich, Stadtregion und dem gesamtstädtischen Gestaltungsraum hat zur Voraussetzung, dass neue kirchliche Planungs-, Steuerungs- und Organisationsformen entwickelt werden.

1. Kirchlicher Aufbruch in die Stadt

Die deutlich intensivere Wahrnehmung der Kirche in den letzten Jahren hat einen deskriptiven, einen normativen und einen visionären Aspekt:

1.1. Belege für eine neue Aufmerksamkeit für die Kirche

Der deskriptive Aspekt verweist auf Phänomene, die die Kirche verstärkt in den Fokus rücken. So treten in der Diskussion der Stadtarchitektur die Kirchen als zentrierende Räume, als Symbolvermögen und als Bürgerkirchen immer deutlicher ins allgemeine Bewusstsein, sowohl in Städten mit großen mittelalterlichen Kirchen als auch in vielen kleinen Städten, in denen die Kirchen als Zentralpunkte der Stadt errichtet wurden. Und angesichts der enormen Baulasten zeigt sich immer häufiger, dass auch die politische Bürgergemeinde bereit ist, Verantwortung für den Erhalt und die Gestaltung dieser Kirchenräume zu übernehmen. Auch ist unschwer nachzuweisen, dass viel stärker noch als in den 70er und 80er Jahren der kulturelle Dialog mit den Kirchen in den Städten Deutschlands gesucht wird. Im Zusammenleben mit anderen und dem Dialog mit anderen Religionen sind die Kirchen nicht selten Initiatorinnen und bieten ein Forum für die Auseinandersetzung. In den politischen Diskussionen entsteht ein Bewusstsein für die Aufgabe, die christlich gegliederte Zeit und ihren spezifischen Festrhythmus bewusst zu gestalten und zu stabilisieren.

Diese verstärkte Wahrnehmung der Kirche bietet Chancen, die durch innerkirchliche Reformen verstärkt werden können.

1.2. Geistliche Neuorientierung als Aufgabe der Kirche in der Stadt

Deswegen muss der normative Aspekt dieser neuen Bedeutungszuschreibung für die Kirche festhalten, dass es nicht um eine Rückkehr oder Restauration der Kirche der 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts gehen kann. Eine Rückkehr der Kirche in die Stadt hat mit einer inhaltlichen Neuausrichtung der kirchlichen Arbeit unter der Bedingung einer pluralisierten und individualisierten Stadtkultur zu tun. Die evangelische Kirche hat die Kraft ihrer Traditionen und die Ausstrahlung ihrer Kirchenräume in der vergangenen Dekade wiederentdeckt. Sie bietet verstärkt Räume der Begegnung mit dem Heiligen an, setzt sich für Wiederentdeckung der geistlichen Dimensionen des Lebens ein und hält so Gottes Zuspruch und Anspruch, der in Jesus Christus begegnet, für die Menschen in der Stadt präsent.

Diese verstärkte geistliche Haltung der Kirche zeigt sich in einer Aktualisierung ihrer spirituellen Kompetenz in Verbindung mit einer missionarischen Öffnung. Gottesdienste und Amtshandlungen, die nicht nur kirchlichen Insidern verstehbar und innerlich zugänglich sind, theologisch eindrückliche kulturelle Angebote, tragfähige Seelsorgearbeit und eine unverwechselbare Stimme bei der exemplarischen Anwaltschaft für die Armen in der Stadt können nur auf der Basis eigenen spirituellen Lebens gedeihen. Die evangelische Kirche sollte ihren Ehrgeiz in die glaubwürdige Gestaltung ihrer spezifischen Räume und Gesten, ihren Zeiten und Angebote setzen und dabei Offenheit und Sensibilität für ihre soziale und religiöse Umgebung zeigen. Dabei dürfen Gesichtspunkte des Niveaus und der sorgfältigen Vorbereitung, einer angemessenen Werbung und einer stilsicheren Durchführung gerade in der Stadt nicht unterschätzt werden. Stadtmenschen sind mobil und wählerisch. Die Fülle der Angebote bietet Menschen die Chance, aus der Vielzahl von Möglichkeiten dasjenige auszuwählen, was ihnen in ihren Wünschen und Überzeugungen entspricht. Die Kirche in der Stadt befindet sich in einer Marktsituation. Insofern ist der erste Beitrag der Kirche für die Stadt, dass sie ihre geistliche Kompetenz pflegt, gleichzeitig ein geschärftes Bewusstsein für den Eigen-Sinn ihres Angebotes entwickelt und damit den Boden bereitet für ihre Ausstrahlungskraft. Von einer professionellen Öffentlichkeitsarbeit bis zu einer liebevoll gestalteten Amtshandlungsarbeit lebt die evangelische Kirche davon, dass ihre Kernangebote einen „guten Ruf“ haben und vielen zugänglich sind.

1.3. Aufmerksamkeit für die Stadt

Der visionäre Aspekt, der in der verstärkten Wahrnehmung der Kirche verborgen ist, eröffnet einen Zukunftshorizont. Die evangelische Kirche braucht in vielen Bereichen eine neue Aufmerksamkeit für die Stadt und ihre Veränderungen. Dazu sind - verbunden mit der anspruchsvollen und verlässlichen Arbeit an der geistlichen Aufgabe der evangelischen Kirche - Innovationen in den Arbeitsformen unerlässlich. Die hohe Veränderungsgeschwindigkeit modernen Stadtlebens führt eine neue Sehnsucht nach Heimat mit sich, die sich einerseits als Wunsch nach lokaler Verankerung zeigt, andererseits als Suche nach personaler Begegnung und sozialen Bezugspunkten, die für die aktuelle Phase der eigenen persönlichen Entwicklung hilfreich sind. Dieser Bedürfnisse muss sich die Kirche in der Stadt annehmen -, aber nicht allein die traditionellen Angebote und vertrauten Wege kirchlicher Arbeit können die dafür erforderlichen Anknüpfungspunkte darstellen.

Exemplarisch für diese Entwicklung kann die Situation der Stadtakademien stehen. Wurde in der Gründungsphase der Evangelischen Akademien die Akademiearbeit bewusst vor die Tore der Stadt gelegt, um eine ruhige, auch kontinuierliche Arbeit an Themen und Fragestellungen zu ermöglichen (Tutzing, Hofgeismar, Iserlohn), so zeigen sich heute die Grenzen dieses Konzeptes. Die Menschen wollen kurze Wege, schnelle Information und komprimierte Angebote, die Akademiearbeit kehrt darum zurück in das Zentrum, oft im Rahmen des Programms von Citykirchen oder citykirchlichen Einrichtungen, und wandelt ihre Angebote zu Kompaktseminaren, Kanzelreden, Ethischen Foren o.ä.. Ähnliche Phänomene finden sich auch bei den Gemeindeangeboten, die auf eine regelmäßige und längerfristige Beteiligung angelegt sind.

Die kirchlichen Akteure müssen diese Entwicklung zu situativen und punktuellen Angeboten nachvollziehen, wenn sie sich nicht nur auf eine bestimmte Lebensform oder Lebensphase (Kinder; Alter) innerhalb des Stadtlebens verengen wollen. Hier ist eine deutliche Innovationsbereitschaft von der Kirche in der Stadt verlangt. Insofern gehört es zu den zentralen Einsichten der letzten Jahre und Jahrzehnte, dass die Kirche ein sensibles Wahrnehmungsorgan für die Spiritualität in der Stadt benötigt, für die Themen und Rhythmen, für neue Lebensformen, Konflikte und intellektuelle Bewegungen, die in der Stadt oder in einem Stadtteil aufleben. Die evangelische Kirche muss nicht nur machen, sondern auch hören können, sie muss nicht nur gestalten, sondern auch hinschauen lernen. Es gehört zur Aufgabe jeder Stadtgemeinde, die in der Struktur einer Parochie liegenden Tendenzen zur Milieuverengung und Hochverbundenenkirche zu überwinden und in neuer Weise „Gemeinde in der Stadt“ sein zu können. Es gehört zu jeder citykirchlichen Arbeit, städtische Entwicklungen und Trends zu reflektieren und so aufzugreifen, dass sie in immer neuer Weise „Kirche in der Stadt“ sein kann. Diese Wahrnehmungskompetenz gehört zu den wichtigsten Investitionsaufgaben der Kirche und muss zu Konsequenzen für die Aus-, Fort- und Weiterbildung innerhalb der Kirche führen.

1.4. Kirche der Freiheit und der Verantwortung

Nach evangelischem Verständnis prägt die Kirche in der Tradition der Reformation eine doppelte Überzeugung:

Zuerst gestaltet sich die evangelische Kirche als eine Kirche der Freiheit. Basierend auf dem befreienden Wort des Evangeliums und in der glaubenden Aufnahme dieses befreienden Wortes in ihrem Tun und Lassen ist die evangelische Kirche eine Kirche des Wortes, die die Freiheit der Menschen gegenüber moralischen, wirtschaftlichen und sozialen Zwängen fundieren und stärken will. Die evangelische Kirche der Freiheit lädt ein in Räume der Begegnung mit Gott, sie bietet Anlässe, Orte und Gelegenheiten an, in denen auch religiös ungeübte und dem christlichen Glauben distanziert gegenüber stehende Menschen berührt werden können von der Wahrheit, der Schönheit und der Hoffnung des christlichen Glaubens. Sie sieht ihre kirchlichen Räume und sozialen Aktivitäten als anvertraute Möglichkeiten, diesen befreienden Glauben in überzeugender Weise erfahrbar werden zu lassen. Eine evangelische Kirche der Freiheit ist in diesem Sinne eine Kirche der Würdigung des anderen, auch des Fremden. Sie stellt nicht sich selbst als Institution in den Mittelpunkt des Glaubens, sie erschöpft sich auch nicht in der Betreuung der so genannten Hochverbundenen, sondern sieht sich auch geistlich als „Kirche für andere“ und lädt ein zum Glauben und zur Teilhabe an der Kirche. Sie achtet die Nahen und die Fernen, die Engagierten und die Distanzierten, die Neugierigen wie die Vertrauten gleichermaßen und versteht Gott als handelndes Subjekt in all ihren missionarischen Bemühungen. Eben deswegen gehört zu ihr auch die Offenheit für unterschiedliche Verbindlichkeitsstufen im Teilnahmeverhalten.

Zum anderen lässt die Begegnung mit Gott in Jesus Christus und das Eintauchen in den Glauben der Gemeinschaft nicht nur die Freiheit des Einzelnen wachsen, sondern korrespondiert auch mit einem Wachsen der Verantwortung für die Gemeinschaft. Wer von Gott berührt und vom Glauben erreicht wird, bleibt nicht bei sich stehen, sondern wird frei dazu, Teil der Gemeinschaft der Glaubenden zu sein und Verantwortung für den Nächsten zu übernehmen. Evangelische Freiheit ist nicht nur eine Freiheit von allem möglichen, sondern eine Freiheit zum Beten und Tun des Gerechten (Dietrich Bonhoeffer). Die Kirche der Freiheit tritt daher in der Stadt ein für einen sozialen Ausgleich und bemüht sich darum, dass alle Mitglieder der Stadtgesellschaft Anteil am Leben in der Stadt haben.

Mit dieser Konzentration ihrer Aktivitäten auf die doppelte Dimension der Freiheit verbindet die evangelische Kirche einen Aufbruch in die Stadt und eine bleibende Verbundenheit mit der Stadt. Die Wiederkehr ist getragen von der Überzeugung, dass eine unprofilierte Zuwendung der Kirche zur Stadt weder der Kirche noch der Stadt angemessen ist. Gerade ihr spezifischer geistlicher Beitrag ist der Dienst der evangelischen Kirche für die Lebensdienlichkeit der ganzen Stadt. Es liegt ein lang tradiertes Missverständnis in der Auffassung vor, dass eine Konzentration der evangelischen Kirche auf ihre spezifisch geistlichen Aufgaben eine Vergleichgültigung der Weltverantwortung in sich trüge. Und ebenso ist es ein Irrtum anzunehmen, dass die Kirche nur dann menschennah und stadtheilend sei, wenn sie sich möglichst an die aktuellen Themen in Politik, Gesellschaft oder Kultur anpasst. Nur mit ihren besonderen Inhalten, ihren spezifischen Formen und Ritualen kann die Kirche der Freiheit erkennbar und überzeugend ihren Beitrag zur Kultur der Stadt leisten. Diese besondere Mitwirkung der evangelischen Kirche am Gesamtleben der Stadt kann mit der dreifachen Unterscheidung des Christentums in der modernen Welt deutlich gemacht werden, die auf D. Rössler zurückgeht [40]. Das Christentum ist als öffentliches, als privates und als institutionelles Christentum präsent, wobei sich das öffentliche Christentum darstellt durch Kulturphänomene wie große Kirchenmusik, durch Zeitphänomene wie Kirchenjahr und Festtage, durch diakonisches Engagement, durch mediale Äußerungen von Vertretern der Kirche und öffentliche Diskussion. Das individuelle bzw. private Christentum konkretisiert sich in den Frömmigkeitsdimensionen, die in den Familien, am Krankenbett und im Altenheim, in den Gefängnissen und der persönlichen Glaubenspraxis gelebt werden. Und das institutionelle Christentum meint die verfasste Kirche einschließlich ihres Diakonischen Werkes, die in ihren Gemeinden und übergemeindlichen Angeboten die Versammlung der Glaubenden und die Verkündigung des Evangeliums gestaltet. Mit einem offensiven Zugehen der Kirche auf die Stadt ist eine Stärkung aller drei Gestaltungen des modernen Christentums verbunden. Dabei wird heute deutlicher zugestanden als noch vor einigen Jahren, dass die institutionelle Gestalt des Christentums eine unerlässliche Ergänzung für die Lebendigkeit und Verwurzelung des individuellen und des öffentlichen Christentums ist. Vor diesem Hintergrund meint die verstärkte Bedeutung der Kirche in der Stadt auch eine präzise, zeitgemäße Bestimmung der Aufgaben der Institution Kirche und ihrer Bedeutung für eine „menschengerechte Stadt“ [41].

2. Der Auftrag der Kirche für die Stadt

Angesichts der erwartbaren Ressourcenentwicklung in der evangelischen Kirche werden notwendige Investitionen in neue Profilbildungen und Strategien nicht einfach zusätzlich zu Bestehendem gestaltet werden können. Die evangelische Kirche wird sich gerade in der Stadt konzentrieren müssen, wenn sie gegen den Trend wachsen will; sie muss weniger machen, um mehr zu erreichen.

Darum gehört eine notwendige Konzentration im Handeln der evangelischen Kirche zu den zentralen Einsichten der letzten Jahre. Doch worauf haben sich die Akteure in den Gemeinden und übergemeindlichen Diensten zu konzentrieren? Schon aufgrund der ökumenischen Situation in den Städten, die eine Vielfalt von christlichen Angeboten unterschiedlicher Frömmigkeitsstile bereithält, ist es wichtig, die Frage nach dem Alleinstellungsmerkmal der Evangelischen Landeskirchen zu reflektieren. Was ist ihr spezifisches Angebot?

Eine Verständigung über den Auftrag der evangelischen Kirche und ihre Kompetenzen ermöglicht es, genauer zu beschreiben, welche Orientierungen für diesen kritischen Prozess einer Konzentration der evangelischen Kirche in der Stadt vorliegen. Denn eine Antwort lässt sich theologisch verantwortlich nur aus dem spezifischen Auftrag der evangelischen Kirche selbst ableiten. Im Folgenden wird deshalb der Versuch gemacht, in Anknüpfung an die systematische Rede von dem dreifachen Amt bzw. dreifachen Beruf Jesu Christi die spezifischen Aufgaben der Kirche zu beschreiben. Damit soll der besondere Beitrag der Kirche für die Stadt aus dem Auftrag der Kirche und nicht aus den Interessen oder aktuellen Bedürfnissen der Stadt abgeleitet werden. Eine solche Übertragung theologischer Kategorien, die ursprünglich auf die Person Jesu Christi bezogen sind, auf das Wesen der Kirche und im weiteren auf das Handeln des institutionellen Christentums, ist anfällig für Missverständnisse. Sie soll hier als Deutungs- und Orientierungsrahmen für die Arbeit der Kirche in der Stadt genutzt werden und nicht als umfassende oder abschließende systematisch-theologische Begründung spezifischer Gemeindekonzepte. Zugleich aber verweist dieser Rückgriff auf die Ämterlehre Christi auf den Ursprung der Kirche selbst und setzt damit alles menschliche Planen und Handeln für eine Kirche in der Stadt ins rechte Verhältnis.

2.1. Das dreifache Amt Christi und der Auftrag der Kirche

Es gibt aus der Tradition der Kirche eine fruchtbare Unterscheidung zwischen verschiedenen Aspekten des Handelns Jesu Christi. Dabei wird unterschieden zwischen dem priesterlichen, dem prophetischen und dem königlichen Amt Jesu Christi, sowohl im „Status der Erniedrigung“, wie die Jahre des irdischen Lebens Jesu genannt wurden, als auch im „Status der Erhöhung“, wie das Leben des auferstandenen Christus genannt wurde. Ihren Ursprung hat diese Dreigliederung im Bild Moses, der in der Heiligen Schrift sowohl als Priester wie auch als Prophet und König bezeichnet wurde.

Während diese dreifache Unterscheidung im Blick auf den irdischen Jesus zu entfalten versuchte, wie der eingeborene Sohn Gottes und ewige Weltkönig so unscheinbar und verborgen hatte wirken können, so versuchte sie im Blick auf den erhöhten Christus deutlich zu machen, wie der Glaube die unterschiedlichen Formen der Gegenwart des auferstandenen Christus in der Welt verstehen kann. Diese drei Präsenzformen des erhöhten Christus werden hier als Orientierung vorgeschlagen für die geistlichen Aufgaben, der die evangelische Kirche als „creatura verbi“ zu folgen und zu gehorchen hat. Eine Konzentration kirchlicher Arbeit muss diese drei Ämter Jesu Christi bezeugen und deutlich machen, dass die dreifache Gestalt der Gegenwart Jesu Christi auch in der modernen Welt Gültigkeit hat. Eine solche Orientierung steht zugleich dafür ein, dass die evangelische Kirche ihrem Auftrag nur dadurch gerecht werden kann, dass sie auch heute auf das eine Wort Gottes, Jesus Christus, hört, dem man im Leben und im Sterben vertrauen und gehorchen soll [42].

In seinem priesterlichen Amt steht der auferstandene Jesus Christus dafür ein, dass die Glaubenden in seinem Heiligen Geist beheimat werden: er will, dass „allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1. Tim 2, 4), er schenkt Hoffnung und gibt Weisung und Orientierung. Die evangelische Kirche soll in der modernen Stadt ein überzeugender Ort für das Innehalten vor Gott sein. Jede Gottesdienstfeier in der Vielfalt ihrer Ausgestaltungen hat ihre wesentliche Aufgabe darin, den Raum der Gnade Gottes zu erschließen. Die Kirche nimmt das priesterliche Amt Christi ernst, indem sie die Menschen in das Licht der Barmherzigkeit Gottes stellt und sie so frei macht von allen falschen Göttern und falschen Verheißungen in dieser Welt.

Das priesterliche Amt Jesu Christi leitet die evangelische Kirche dazu an, dass sie ihre Kräfte auf gottesdienstliche Feiern in all ihrer Vielfalt konzentriert, die durch kompetente liturgische Gestaltung, durch überzeugende Gebetssprache, durch niveauvolle Kirchenmusik und durch achtsame Gestaltung der Kirchenräume gut von Gott reden. Die inhaltliche Ausfüllung der festlichen Zeiten als Rhythmisierung des Lebens und die Begleitung der Menschen an den Wendepunkten ihres Lebens sind die wichtigsten Arbeitsfelder des priesterlichen Amtes. Sorgsam vorbereitete und überzeugend gestaltete Gottesdienste sowie einladende Amtshandlungen sind gleichsam ihre Erkennungszeichen. Das kollegiale Gespräch über die Verkündigung, der visitierende Besuch des Gottesdienstes und die kritische Überprüfung des oft eingespielten geistlichen Tuns sind dringend notwendige Formen einer solchen konsequenten Aufmerksamkeit und zugleich eine schwierige Herausforderung. Das verbreitete „Schweigegebot“ in der Kirche, das eine geschwisterliche Beratung und kritische Einschätzung der Kompetenz und Ausstrahlungskraft gerade in den Kernvollzügen fast unmöglich macht, muss überwunden werden. Wenn die evangelische Kirche einladender und missionarisch überzeugender werden will, muss sie Formen erlernen, fair und konstruktiv über ihre geistliche Kompetenz und ihre spirituellen Grenzen zu sprechen. Nur eine lernende Kirche kann eine missionarische Kirche werden. Die liebevolle Feier des Gottesdienstes, das Eintreten für die rhythmisierende Kraft des christlichen Jahresfestkalenders, die geistlich sensible und wache Gestaltung der lebensbegleitenden Verkündigung in den Amtshandlungen sind für die Menschen in der Stadt die zentralen Kompetenzen der Evangelischen Kirche entsprechend dem priesterlichen Amt Jesu Christi. Diese Feststellung zielt auf eine Klärung und Bestärkung bei den Prioritäten, die die Haupt- und Ehrenamtlichen für sich setzen und muss eine entsprechende Ressourcenverteilung zu Folge haben.

Dem prophetischen Amt Jesu Christi zu entsprechen, heißt für die Kirche, auf die eigene Deutungskraft gegenüber einer Situation aus der biblisch-christlichen Tradition heraus zu achten. Biographische Geschichten, kulturelle Situationen, politische Fragen und gesellschaftliche Herausforderungen sollen in ein biblisch-theologisches Licht gestellt werden, das deutet, unterscheidet und heilt. Das prophetische Amt Jesu Christi hat eine anwaltliche Dimension, die sich gegen alle Formen der Selbstüberhöhung und Selbststilisierung wendet; es umfasst auch den Ruf zur Umkehr und zur Buße. Durch Erinnerung an theologische und ethische Einsichten der Tradition trägt das prophetische Amt Heilungsdimensionen des Glaubens in das Stadtgespräch hinein. Das prophetische Amt richtet sich zugleich gegen jede Form der Privatisierung und Entpolitisierung des Evangeliums, es wahrt den öffentlichen Anspruch des Evangeliums.

In den Kirchen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ist die Erinnerung an das prophetische Amt der Kirche durch die Ereignisse des Herbstes 1989 besonders lebendig. Die Kirchen in den Städten (Dresden, Leipzig, Rostock) wurden zu zentralen Orten des Aufbruchs und der Erneuerung, auch durch charismatische Pfarrer, die den biblischen Text so in den gesellschaftlichen Kontext stellten, dass der Wille zur Veränderung auf bis dahin nicht geahnte Weise bestärkt wurde.

Das prophetische Amt ist der spezifische Auftrag, die geistlichen und theologischen Dimensionen im Leben einer säkular gewordenen Stadt zu erkennen und zu bedenken. Es gilt klug abzuwägen, zu welchem Thema die Kirche im Sinne ihres prophetischen Amtes etwas Spezifisches beizutragen hat; nicht jedes gesellschaftliche oder politische Problem hat notwendiger Weise eine prophetische Dimension. Aber es wird auch in Zukunft immer wieder nötig sein, das stadtöffentliche Bewusstsein zu erinnern an die Würde - also die Gottebenbildlichkeit - des Menschen, an die Humanität des Gemeinwesens, an die Solidarität mit den Schwachen und die „Gerechtigkeit, die ein Volk erhöht“.

Die evangelische Kirche wird daher als Kirche der Freiheit immer auch den öffentlichen Raum suchen und in Gestalt von Medienpräsenz, Bildungsakademien und in öffentlichen Gottesdiensten anlässlich von Alltagserfahrungen wie auch großem Unglück oder großem Glück ihre Stimme erheben. Den Diskurs im öffentlichen Raum mit ihrer spezifischen Stimme mitzugestalten, ist ihr Anliegen und ihre Christenpflicht. Das Bezeugen des prophetischen Amtes Jesu Christi ist aber grundsätzlich dialogisch angelegt und richtet seinen Fokus auf die Frage nach einer Stadtkultur, die Gerechtigkeit und Beteiligung als gemeinsame Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürger für eine Stadt versteht.

Zu den wichtigen Formen gehört deshalb neben der Bildungsarbeit der diakonisch-anwaltschaftliche Einsatz für die Menschen in der Stadt. Ob der Arme oder der Fremde, das wohlstandsverwahrloste Kind oder die um ihre Rechte betrogene Frau vor Augen tritt, das prophetische Amt Jesu Christi verpflichtet die Kirche, die Stimme zu erheben und gegen menschenunwürdige Zustände einzutreten. Dabei lebt diese Aufgabe nicht von der Vollständigkeit und Umfänglichkeit ihres Tuns, sondern von ihrer exemplarischen Rolle. Die Kirche in der Stadt muss nicht jeden Missstand selbst überwinden können, um die Stadt und ihre Bürgerinnen und Bürger zur Überwindung des Missstandes aufzurufen. Das prophetische Amt kann exemplarisch und situativ bezeugt werden, steht aber an dieser Stelle in einer besonderen Verbindung zum diakonischen Handeln der Kirche. Die städtische Spaltung in arm und reich kann von der Kirche nur exemplarisch bearbeitet werden. Aber die Kirche muss das Gemeinwesen fortwährend an einen gerechten Ausgleich erinnern. Die evangelische Kirche muss dabei nicht zwingend selbst Träger von sozialen Institutionen sein oder in Konkurrenz zu weltlichen Anbietern ihre Angebote dem Wirtschafts- und Marktzwang anpassen. Entscheidend ist, dass kirchliche Aktivitäten ihren Ursprung im Glauben sichtbar machen; ihr geistliches Profil als Basis ihres diakonisch-anwaltschaftlichen Engagements muss deutlich werden. In einer Gesellschaft, in der christliche Traditionsbestände immer weniger präsent sind, gehört es zu den unerlässlichen Aufgaben, die Herkunft der anwaltschaftlichen Aktivitäten im Glauben an den erhöhten Herrn sichtbar zu machen. So wird das diakonische Engagement der Kirche stärker als früher auch eine katechetische Dimension entwickeln.

Das königliche Amt Jesu Christi ist in der Tradition immer als Erinnerung daran ausgelegt worden, dass der auferstandene Christus auch außerhalb der Kirche, 'extra muros ecclesiae', gegenwärtig ist. Christi Herrschaft hört nicht an der Kirchentür auf, so wenig wie sie dort erst beginnt. Jesus Christus ruft auch andere Kräfte, Menschen und Ideen auf den Plan, um den Frieden zu stärken, die Versöhnung wachsen zu lassen und das Böse einzugrenzen. Von den Aussagen des Deuterojesaja über den „gesalbten Cyrus“ (vgl. Jesaja 44, 24ff) bis zu den Überlegungen des Theologen Dietrich Bonhoeffer über die Rolle der Religionslosen in der säkularen Welt hat die evangelische Theologie davon gewusst, dass Christus seine befreiende Herrschaft auch unter Fremden und Fernen, unter Nichtchristen und Andersglaubenden ausübt. Es ist daher der Grundsatz jeder Begegnung zwischen Christen und Nichtchristen, den anderen nicht als gottfern oder christusledig zu verstehen, sondern als Menschen, in dem der Auferstandene sein Antlitz spiegeln kann. Missionarisch formuliert geht es seit den Zeiten des Pietismus daher nicht darum, Christus zu den Fernen und Fremden zu bringen, sondern es geht darum, ihn dort zu entdecken und zu bezeugen.

Der Glaube an das königliche Amt Jesu Christi setzt daher eine unbeirrbare Neugier frei auf den anderen, den Fremden, getragen von der Überzeugung, auch für den Fremden sei Christus gestorben und in seine Herrschaft eingesetzt worden. Diese unbeirrbare Neugier auf den anderen konkretisiert sich als Wendung der Kirche nach außen, als Lust zu einem einladenden missionarischen Handeln, und als Mut, vertraute Wege der Kirche und eingefahrene Gleise der Arbeit zu verlassen. Mission ist hier allerdings nicht mit der missverständlichen Vorstellung verbunden, man müsse nur den Namen Jesu nennen, dann wachse die Gemeinschaft der Glaubenden schon an. Mission ist hier der Aufbruch der Kirche selbst, ihre Bereitschaft, sich durch die Ausrichtung auf „den Anderen“ selbst verändern zu lassen. Mission in diesem Sinne ist aufsuchende Bewegung und die Bereitschaft, das feste Gehäuse der gewohnten Begegnungsformen zu verlassen, ausgehend von der Zuversicht, dass Christus der gegenwärtigen Gestalt von Kirche voraus und auch auf unbekannten Wegen zu erkennen und zu finden sei.

Das königliche Amt Christi kann der evangelischen Kirche Berührungsängste nehmen. Sie wendet sich mit ihrer Arbeit an die Armen und Einsamen ebenso wie an die Reichen und Mächtigen. Denn es gibt „den reichen Armen und den armen Reichen“ (Hubertus Halbfas). Es gehört zu den babylonischen Gefangenschaften der Kirche unserer Zeit, zu klein und zu ängstlich von diesem königlichen Amt Christi zu denken und ihn nur noch in den eigenen Reihen, in den etablierten Gemeinden und den hochverbundenen Gruppen zu vermuten. Mit der Erinnerung an das königliche Amt verbindet sich ein Aufbruch in die Welt, der die ganze evangelische Kirche und alle ihre Aktivitäten durchzieht. Ohne Mission, ohne den Wunsch, Christus auch außerhalb der Kirchenmauern zu entdecken, verkümmert die evangelische Kirche in sich selbst und schmälert die Erkenntnis der Gegenwart Christi in unserer modernen Welt. Die oft festzustellende „Milieuverengung“ der evangelischen Gemeinden wird dem weit reichenden königlichen Amt Jesus Christi nicht gerecht. Deswegen wird es eine der wichtigsten Aufgaben für die Kirche in der Stadt sein, ihre Kräfte besonders in Arbeitsformen und Initiativen zu lenken, die die klassischen kirchlichen Milieus überschreiten.

Mit der Orientierung an den drei Ämtern Christi und den daraus abgeleiteten Zielformulierungen - geistliche Verankerung, kompetente Anwaltschaft und missionarischer Aufbruch - hat die evangelische Kirche in der Stadt eine Grundorientierung, die sowohl ihr Spezifisches stärkt als auch eine Öffnung nach außen ermöglicht. In ihrem priesterlichen Amt wird die wiederkehrende Kirche ihre eigene geistliche Aufgabe und die Pflege des geistlichen Lebens ihrer Akteure in den Mittelpunkt stellen und ihr sichtbares, auf Teilnahme anderer gerichtetes geistliches Leben durch Niveau und Kompetenz auszeichnen; in ihrem prophetischen Amt wird sie die Menschen in der Stadt und ihre vielfältigen Lebenssituationen mit den Befreiungsgeschichten der Bibel zusammenführen und daraus Antrieb und Ideen gewinnen für den Dialog und die diakonisch-anwaltschaftliche Arbeit; und in ihrem königlichen Amt wird sie ihre Aufmerksamkeit und Neugier für die Stadt durch das Vertrauen in die Gegenwart Christi stärken lassen und so ihre missionarische Ausstrahlungskraft neu entdecken.

Die orientierende Kraft aller drei Ämter führt dazu, dass die evangelische Kirche eine Doppelrolle einnimmt. Sie ist Teil der Stadt und zugleich ihr Gegenüber. Ihre Einbindung in die eigene Glaubenstradition befähigt und ermutigt sie, diese Spannung konstruktiv zum Wohle der Stadt zu gestalten.

2.2. Beteiligungsformen der evangelischen Kirche

Unternimmt man nun den Versuch, aus dieser dreifachen Grundorientierung Strategien zu entwickeln für eine zukünftige missionarische Gestaltung kirchlicher Arbeit in der Stadt, so wird man an keiner Stelle vergessen dürfen, dass die Ressourcen im Blick auf Mitglieder und Finanzen insgesamt weniger werden. Auch im Blick auf die Arbeit der Kirche in der Stadt ist somit eine Konzentration der Kräfte unerlässlich. Ein Aufbruch der Kirche in der Stadt wird ohne Loslassen von überkommenen Aufgaben und Strukturen nicht gelingen können; nur eine Konzentration erlaubt die Hoffnung auf eine Stärkung der Kirche in der Stadt.

Die Orientierungen, die wir aus den drei Ämtern gewonnen haben, werden sich für alle Angebots- bzw. Beteiligungsformen der Kirche in der Stadt, die sich im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte entwickelt haben, kreativ und stärkend auswirken. Diese typisierten Angebots- bzw. Beteiligungsformen kommen niemals ungetrennt und unvermischt vor, sie überlappen sich in fast allen kirchlichen Handlungsfeldern und stärken sich gegenseitig. Sie zu unterscheiden, dient aber der Klarheit für alle Strategie- und Maßnahmendefinitionen. Der Unterscheidung von priesterlichem, prophetischem und königlichem Amt entspricht eine innere Konzentration, die in allen Arbeitsbereichen nötig ist - seien sie eher von parochialen, von netzwerkartigen oder von situativen Angebots- und Beteiligungsformen geprägt. Diese drei gleich legitimen Grundgestalten des Gemeindeaufbaus bieten jeweils spezifische Möglichkeiten von Kontakt und Beheimatung und haben je eigene missionarische Chancen. Sie übernehmen faktisch einen stellvertretenden Dienst füreinander und spiegeln in ihrem Zusammenhalt die Einheit des gegenwärtigen Handelns Jesu Christi.

2.2.1. Die parochiale Beteiligungsform - Kirche im Quartier

Das priesterliche, prophetische und königliche Amt der Kirche entfaltet sich in einer am Quartier orientierten parochialen Arbeit in besonderer lokaler und situativer Nähe zu den Menschen. Durch verlässliche und anspruchsvolle Feier der Gottesdienste, Amtshandlungen und Sakramente und die mit der Geschichte eines Stadtviertels wachsenden personalen Beziehungen in der Gemeinde wird die gemeinschaftsstiftende Kraft des Evangeliums stark gemacht und treten die Lebenssituationen, die öffentlicher Anwaltschaft bedürfen, sehr konkret vor Augen. Dabei wird man allerdings nicht leugnen können, dass es erhebliche Veränderungen im Blick auf die konkrete Gestaltung dieser lokalen Nähe zu den Menschen gibt.

War es besonders in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Grundüberzeugung der evangelischen Kirche, durch kleinteilige Parochialstrukturen die Nähe zu den Menschen aufrecht zu erhalten [43], so wird heute viel stärker die quartiersorientierte Stadt(teil)gemeinde als Gestaltungsraum wahrgenommen. Nicht nur die Stadt hat ein „Image“, auch Stadtteile haben ihr Eigenleben. Das Quartier als relativ unscharfer Begriff für ein Zugehörigkeitsgefühl innerhalb eines großen Stadtgebietes ist sehr viel stärker als früher die Orientierungsgröße, an der sich kirchliche Arbeit ausrichten muss. Es gehört zu den problematischen Erbschaften aus finanziell besseren Zeiten, dass viele Parochien die gemeinsame Aufgabe für ein Quartier, für einen Stadtteil oder für einen Gestaltungsraum aus den Augen verloren haben. Die durch die Ressourcenknappheit ausgelöste Regionalisierung mit Fusionen und Zusammenlegungen muss vor diesem Hintergrund auch als ein Schritt ins Freie betrachtet werden. Die Zusammenarbeit der einzelnen Kirchengemeinden, die Stärkung des Ensemblegedankens und die Steigerung des Teamgeistes unter den Mitarbeitenden der Kirche - auch zwischen Kirche und diakonischen Einrichtungen - werden im Blick auf ein Quartier oder einen Stadtteil immer wichtiger. Die Koordination von Angeboten und die Entwicklung von profilierten Gemeinden für ein Quartier sind positive Effekte eines zunehmenden Sparzwanges.

Die Quartierswahrnehmung weiter zu stärken, dabei die Besonderheiten eines Stadtteils in den Blick zu bekommen und schließlich geeignete kirchliche Konzentrationsprozesse und Angebotsformen zu gestalten, ist ein komplexer Prozess, der spezifische Steuerungsformen und Führungskompetenzen auf den verschiedenen Ebenen verlangt. Denn in der Regel hat jeder Stadtteil seine eigene Identität, eigene Probleme und Herausforderungen. Die Segmentierung der Quartiere innerhalb eines Stadtgebietes fordert dazu heraus, passgenaue kirchliche Angebote zu entwickeln. Zudem verändern Stadtentwicklungsprozesse teilweise in wenigen Jahren den Charakter eines Quartiers. Kirchliche Konzepte müssen mit diesen Veränderungen Schritt halten und offensiv auf veränderte Bedingungen reagieren. Neben einer Citykirchenarbeit, die im Stadtzentrum besondere Ausstrahlungspunkte aufbaut, muss damit die Frage nach einer spezifischen Quartiers- und Stadtteilarbeit der parochialen Kirchen verstärkt beantwortet werden. Eine verantwortliche Kirche in der Stadt muss einerseits ausstrahlungsstarke Citykirchenarbeit im Stadtzentrum aufbauen und andererseits in den Stadtteilgemeinden ein Quartiersbewusstsein entwickeln, das die unterschiedlichen kirchlichen Angebote koordiniert und mit unterschiedlichen Profilen ausstattet.

Neu auszuloten ist die Frage, welche Chancen Stadtteilkirchen für das Quartiersgefühl haben können, wenn sie nicht nur als Identifikationspunkt für eine in der Regel schon aus demographischen Gründen immer kleiner werdende Gruppe von Gemeindemitgliedern wirken, sondern auch als Symbolräume für spezifische Themen des Quartiers. An den zum Teil sehr zahlreichen Kirchen innerhalb eines Quartiers können neben einer parochial orientierten Zentralkirche Profilkirchen entwickelt werden, die als herausgehobenes Bildungszentrum, als Jugendkirche oder als Zentrum der Stadtmissionen in die Stadt Ausstrahlung entwickeln und auf je eigene Weise Elemente des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Jesu Christi neu mit Leben füllen. Eine evangelische Kirche, die sich mit unterschiedlichen, aber koordinierten Profilkirchen als „Inseln gelingender Kirchlichkeit“ den Menschen einer Region zuwendet, wird erhebliche Ausstrahlungskraft entfalten können. Dabei könnte die Entwicklung von spezifischen Profilen für ein Quartier eine entscheidende Chance zur Zukunftssicherung vieler Stadtteilkirchen sein. Nach der erfolgreichen Entwicklung einer Kirche für die (Innen-) Stadt, die sich auf das ganze städtische Gemeinwesen in ihrer Arbeit bezieht, gilt es, die Chancen der Kirchen im Quartier verstärkt in den Blick zu nehmen.

Konsequent zu Ende gedacht ist, eine „Kirche im Quartier“ ein Angebotsensemble von einigen Kirchen in einem städtischen Gestaltungsraum, das koordiniert wird von einem gemeinsamen Verantwortungsträger. Diese Steuerungsebene gestaltet nicht nur die inhaltlichen Angebote und koordiniert die Vielfalt der Profilgemeinden, sondern sie könnte auch als gemeinsamer Anstellungsträger, Gebäudemanager und Ressourcenmanager die Flexibilität der Strukturen erhöhen. Quartierspfarrämter sind teamorientierter gestaltbar und gabenorientierter einsetzbar als Gemeindepfarrämter.

Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach der zukünftigen Rolle und Aufgabe eines städtischen Kirchenkreises (Dekanats) bzw. einer quartiersbezogenen Leitungsinstanz zu klären. In welcher Größenordnung sind die quartiersbezogenen Organisationsformen angemessen und sinnvoll und wie wird das Verhältnis zur nächst größeren Ebenen definiert? Noch gibt es in vielen Landeskirchen komplizierte Vorgaben für die organisatorische und rechtliche Verfassung dieser Regionen, die eine effiziente und teamorientierte Arbeit erschweren und die Übernahme von Verantwortung über die definierten Gemeindegrenzen hinweg fast unmöglich machen. Hier müssen rechtliche Voraussetzungen geschaffen und organisatorische Hilfen angeboten werden, um wirkungsvolle Arbeitsmöglichkeiten in diesen Gestaltungsräumen zu ermöglichen. Zugleich muss dabei die Suche nach einer jeweils optimalen Größe eines städtischen Kirchenkreises (Dekanats) im Blick bleiben. In der Regel umfasst ein städtischer Kirchenkreis (Dekanat) mehrere Quartiere, deren Arbeit auch sinnvoll aufeinander bezogen werden kann. Aber nicht wenige Kirchenkreise (Dekanate) sind zu groß, um wirklich gezielte Quartierspolitik machen zu können.

Als Richtwert, der natürlich den jeweils spezifisch regionalen Bedingungen angepasst werden muss, erscheint ein Kirchenkreis mit einer Synode, geistlicher Leitung und zentraler Personal- und Finanzbewirtschaftung für Großstädte mit bis zu 250.000 Einwohnern (Karlsruhe, Aachen, Magdeburg, Kiel) sinnvoll. Die Kenntnis und Gestaltung der konkreten, profilierten Angebote im Quartier durch eine in Regionen organisierte Kirche und die gesamtstädtische Perspektive können in diesem Größenverhältnis noch gegenseitig fruchtbar gemacht werden. In größeren Städten erfordert dagegen die Steuerung des Verhältnisses von Stadtmitte und Peripherie besondere, institutionalisierte Formen der Kooperationen mehrerer Kirchenkreise oder Dekanate.

2.2.2. Netzwerkartige Gemeindebildungen

Das priesterliche, prophetische und königliche Amt der Kirche entfaltet sich bei netzwerkartigen Gemeindebildungen im gesamtstädtischen Raum. Aufgrund von Citykirchenarbeit an Innenstadtkirchen und zielgruppenbezogenen kirchlichen Arbeitsformen haben sich in den letzten Jahrzehnten die Beheimatungsformen in der Kirche in der Stadt nicht ausschließlich parochial oder quartiersorientiert entwickelt, sondern auch in gesamtstädtischen Zusammenhängen. Es entstehen netzwerkartige Gemeinden, die sich über bestimmte inhaltliche Profile definieren und die Mobilität der Stadt in eine Flexibilität der Gemeindewahl umsetzen. Die Menschen folgen einem bestimmten Prediger / einer bestimmten Predigerin, einem besonderen Frömmigkeitstyp, sie suchen ein spezifisches kirchenmusikalisches Angebot oder inhaltliche Schwerpunkte und finden somit unabhängig vom Wohnort ihre Heimat in einer Gemeinde. Wachsende Personalgemeinden durch Umgemeindungen in den Städten spiegeln die Mobilität und Wahlfreiheit von Teilen der städtischen Bevölkerung. Die bewusste Wahl für eine andere als die Wohnortgemeinde macht die Zugehörigkeit zur Gemeinde in der Regel verbindlicher. Die Bindungskräfte einer Profil- oder Richtungsgemeinde sind erheblich.

Eine profilierte Ausstrahlung weit über ein Quartier hinaus erreichen heute aber keineswegs nur die großen Innenstadtkirchen, sondern längst auch einzelne Stadtteilkirchen, die einen überregional „guten Ruf“ für einen bestimmten Bereich haben. Dabei kann diese stadtweite Ausstrahlung inhaltlich in sehr großer Vielfalt entwickelt werden. Von moderner Kirchenmusik bis zum evangelikalen Frömmigkeitsprofil, von der Jugendkirche bis zur Stadtmissiongemeinde lässt sich eine Vielzahl von legitimen evangelischen Profilen denken, die alle über ihr jeweiliges Quartier hinaus wirken. Profil- oder Richtungsgemeinden sind ein bewährtes kirchliches Handlungsinstrument; in Form so genannter Anstaltsgemeinden hat die evangelische Kirche immer gewusst, dass besondere Lebens- oder Arbeitsituationen auch besondere Gemeindeformen verdienen. Und nicht wenige dieser Anstaltsgemeinden haben eine stadtweite Ausstrahlung entwickelt. Zu Recht betonen manche Stadtakademien und diakonische Institutionen die Tatsache, dass auch sie gemeindebildend wirksam sind und eine besondere Form der Profilgemeinde um sich sammeln. In diesem Sinne sind solche modernen, netzwerkartig verfassten Gemeinden eine Fortsetzung von Anstaltsgemeindearbeit im modernen Stadtkontext.

Netzwerkgemeinden sind ein besonders geeignetes Mittel für die Kirche in der Stadt, um ihre Mitarbeit an der Identität der Stadt sichtbar zu machen. Indem diese Gemeinden bestimmte Themen und Fragen verlässlich bearbeiten und Räume der Begegnung für die Herausforderungen der Stadt anbieten, arbeiten sie an der Stadtseele und ihrer Heilung. Denn jedes überzeugende Profil hat zugleich ein allgemeines Kommunikations- und Verpflichtungspotenzial, das auch die Stadt in ihren Wertsetzungen prägen und mobilisieren kann. Die Citykirchenarbeit hat hier in den letzten zwanzig Jahren viele überzeugende Formen entwickelt.

Netzwerkartige Gemeindebildungen werden quartiersorientierte Angebote nicht verdrängen. Es sind moderne Beheimatungs- und Beteiligungsangebote, die ein spezifisches Profil einer Stadt(teil)kirche mit der Sammlung einer bestimmten Zielgruppe verbinden. Natürlich gibt es zwischen Quartiersgemeinden und Profilgemeinden auch einen gewissen Wettbewerb, der sich teilweise in der Zahl der Umgemeindungen niederschlägt. Profil- und Richtungsgemeinden mit ihrer Netzwerk-Gemeindebildung entzünden so etwas wie einen gestalteten Wettbewerb unter den Gemeinden und verstärken damit zugleich die Suche nach der je eigenen gemeindlichen Identität. Ein solches Element des Wettbewerbs ist aber auch als Chance zu verstehen, die Mitgliederinteressen wahrzunehmen und angemessen aufzunehmen. Allerdings dürften in der Regel die großen Innenstadtkirchen und die herausragenden Quartierskirchen von diesen Umgemeindungen bzw. netzwerkartigen Personalgemeinden profitieren, und nicht alle Quartierskirchen dürften aufgrund ihrer Gebäude, ihrer Ausstattung oder ihres Umfeldes die gleichen Chancen haben, überregionale Ausstrahlung zu entwickeln. Hier ist eine Steuerung notwendig, die ein gesamtstädtisches Konzept der kirchlichen Angebotsstruktur voraussetzt. So bereichernd eine „Wettbewerbssituation“ für die Ausbildung von Profilgemeinden sein kann, so braucht es dennoch eine gesamtstädtische Perspektive, die die wohnortnahen, quartiersbezogenen Angebote und die übergreifenden Netzwerke wechselseitig aufeinander bezieht. Hier sind die leitenden Personen und Gremien gefordert, um ein abgewogenes Konzept zu entwickeln, das unterschiedliche städtische Milieus genauso beachtet wie die Bildungsverantwortung der Kirche und ihren diakonischen Auftrag. Eine in der Gesamtverantwortung der Kirche stehende Steuerung der Prozesse und eine breite Beteiligung für diese Konzeptentwicklung sind notwendig. Diese profilorientierten Angebotskirchen sind eine der wichtigsten kirchlichen Zukunftsaufgaben. Denn auf diese Weise kann die evangelische Kirche die parochiale Präsenz verknüpfen mit einem differenzierten Angebot, das angesichts der unterschiedlichen Milieu- und Lebensstilformen von Menschen in der Stadt unerlässlich ist.

2.2.3. Situativ-missionarische Gemeindearbeit

Das priesterliche, prophetische und königliche Amt der Kirche entfaltet sich bei einer situativ-missionarischen Gemeindearbeit vor allem in den Angeboten einer „Kirche bei Gelegenheit“ (Michael Nüchtern) und in den auf „Passantenreligiosität“ bezogenen Angeboten. Innenstadtkirchen in größeren Städten, aber auch Stadtteilkirchen mit weiterer Ausstrahlung oder kirchliche Räume wie Kirchencafés und -läden öffnen ihre Türen und bieten Raum für Touristen und Gelegenheitsbesucher an. Es sind Menschen, die tagsüber in der Stadt arbeiten und mit Frühandachten oder After-work-Gottesdiensten angesprochen werden, es sind Millionen Städtetouristen, die historische Stadtkirchen besuchen oder Stadtbewohner, die zu Anlässen im säkularen Festkalender einer Stadt die Kirchen aufsuchen. Die Innenstadtkirchen in Großstädten entwickeln dafür außerordentlich einfallsreiche Angebote: Ob durch Gottesdienste in herausgehobenen Situationen der Stadt (bei einer großen Erschütterung wie in Erfurt 2002 oder in großer Dankbarkeit wie zur Eröffnung der Fußball-WM 2006), ob durch innovative Bildungs- (Kirchenpädagogik) und Beratungsangebote (Kirchencafés) oder durch originelle Veranstaltungsformen (z.B. nächtliche Kirchenführung) - immer geht es darum, mit Menschen an besonderen Orten die Wahrheit und Schönheit, das Aufschlussreiche und Tröstliche des Glaubens zu entdecken.

In diesen Zusammenhang gehört auch die besondere Bedeutung der Kirchenmusik. Über musikalische Angebote können Zielgruppen von der Kirche erreicht werden, die von anderen kirchlichen Angeboten kaum angesprochen werden. Mit der großen Anzahl herausragender Konzerte in Kirchen werden mehr Menschen erreicht als bei jeder denkbaren Missionsveranstaltung. Die Kantoreien, Gospelchöre und Posaunenchöre haben inzwischen immer mehr Mitglieder, die nicht kirchlich sozialisiert sind. Das ist bei der Berliner Domkantorei nicht anders als beim Chor der Dresdner Frauenkirche. Über das aktive musikalische Gestalten wächst auch das Interesse an der Botschaft. Man möchte verstehen, was man singt. Hier liegen Anknüpfungspunkte, die genutzt werden können.

Besonders in betont säkularem Kontext sind kirchenmusikalische Angebote eine missionarische Chance. In den sächsischen Knabenchören, Thomanerchor Leipzig und Kreuzchor Dresden, werden immer mehr Kinder Chormitglieder, deren Familien keiner Kirche angehören. Die Chorsänger und ihre Eltern kommen über den Chor zum ersten Mal mit der Kirche und ihrer Verkündigung in Kontakt, mit dem Ergebnis, dass sich jedes Jahr zahlreiche Chormitglieder taufen lassen. Durch das regelmäßige Singen der großen Werke evangelischer Kirchenmusik ergibt sich zudem fast zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit zentralen Inhalten des christlichen Glaubens.

Die Kirchenmusik ist für die evangelische Kirche ein Charakteristikum, das seit Martin Luther als kulturelle Ausdrucksform des Glaubens Menschen berührt und bewegt hat. Die Chancen, die Kirchenmusik für die missionarische Ausstrahlung der Kirche gerade in zunehmend konfessionslosen Milieus bietet, können kaum überschätzt werden.

Die situative Arbeit ist eine Art missionarisches Experimentierfeld, in dem neue Formen eines möglichen Erstkontaktes zur evangelischen Kirche ausprobiert werden können. Mit neuen Angeboten und ungewohnten Gestaltungsformen schafft diese Arbeit Begegnungsorte für jene Menschen, die von Haus aus nicht mehr oder noch nicht Kontakt mit dem christlichen Glauben und der evangelischen Kirche hatten. Situative Stadtkirchenarbeit birgt die Chance eines gewinnenden Erstkontakts mit der evangelischen Kirche; zu dieser Arbeitsform gehören die Kirchenpädagogik genauso wie die Kirchencafés und Wiedereintrittsstellen an zentralen Innenstadtkirchen, Informations- und Beratungsstellen genauso wie die Entwicklung eines evangelischen Erwachsenenkatechumenats.

Inhaltlich sind situative, projektorientierte Angebote geeignete Instrumente, um in der Stadt Grundthemen des christlichen Glaubens zur Sprache zu bringen. Das Verlassen von vertrauten Gemeindeformen und -angeboten hat auch einen räumlichen Aspekt und findet seinen vielleicht stärksten Ausdruck darin, dass zunehmend an städtischen Transitorten kirchliche Angebote gemacht werden. Dem mobilen Menschen werden Einkehrräume angeboten, die eine religiöse Erfahrung ermöglichen (Autobahn-, Flughafen- und Stadionkapellen). Innerstädtisch zeigt sich eine weitere Variante darin, dass die Kirche andere Orte (Museen, öffentliche Plätze, Bürogebäude) aufsucht und in ungewohnter Umgebung den christlichen Glauben ins Gespräch bringt.

Besonders eindrücklich aber bleibt diese situativ-missionarische Gemeindearbeit in den Angeboten, die an der Heilung der Seele der Stadt mitwirken (große Trauerfeiern zum Abschied bekannter Menschen; offene Diskussionen zu aktuellen Themen; exemplarische Thematisierung der Probleme einer Stadt). Die in die Stadt wiederkehrende Kirche hat hier ein Instrument der Vergegenwärtigung ihrer Themen, die qualitäts- und stilsicher den „Kairos“ einer Stadtsituation aufnehmen kann.

In diesem Bereich liegt noch erhebliches Innovationspotenzial. Neue Handlungsfelder und neue Beteiligungsformen können erschlossen, ungewöhnliche Angebotsformen ausprobiert werden. Stadtkirchentage, Bibelfeste, Gottesdienste und Kulturveranstaltungen zu ungewöhnlichen Zeiten und an anderen Orten, aber auch neue Konzeptionen in zu Gemeindezentren umgebauten Kirchen sind Versuche, neue Lebensformen der evangelischen Kirche zu schaffen und verdienen die Unterstützung der Gesamtkirche. Auch kann die Gemeinschaft der Stadtkirchen von sich aus Themen und Tage besetzen, die in neuen Formen an zentrale Themen des Glaubens erinnern. Nicht nur das Wiedererstarken von Symboltagen wie Reformationstag, Buß- und Bettag und die Adventszeit bieten neue Möglichkeiten der Begegnung mit dem christlichen Glauben, sondern auch das Aufgreifen des städtischen Fest- und Feierkalenders eröffnet Chancen: besondere Ausstellungen in der Stadt, Neuerscheinungen interessanter oder umstrittener Kinofilme, große Ereignisse wie Stadtfeste oder Lichtinszenierungen können - in geeigneter Form kirchlich aufgenommen - Menschen neugierig machen auf die christliche Tradition. Wichtig in all der Kreativität bleibt allerdings, dass in allem das Profil des evangelischen Glaubens erkennbar bleiben muss. Es geht um eine kreative Anknüpfung der glaubensverkündenden Angebote der evangelischen Kirche an die Lebensbezüge der Menschen heute.

Mit kreativen und innovativen Formaten arbeiten die situativen Angebote für das „Image der Gesamtkirche“ in der Stadt. Für viele Menschen in der Stadt bieten sie eine Möglichkeit, sich der Kirche zu nähern. Gegenüber einer rein medial vermittelten Anteilnahme an der evangelischen Kirche bieten diese Angebotsformen Schritte zu einer konkreten, leiblichen und sakramentalen Erfahrung von Glaubensräumen. So können diese Angebote verweisen auf einen höheren Grad der Verbindlichkeit in den Profil- und/oder Quartiersgemeinden. Die situativen Gemeinden, in denen Menschen Kontakt mit dem christlichen Glauben in den unterschiedlichsten Anschauungsformen bekommen können, wirken in ihrer Arbeitsweise stellvertretend für die beiden anderen Gemeindeformen und brauchen entsprechende Ressourcenausstattung durch die Gesamtkirche.

Eine Herausforderung bleibt es dabei für die evangelische Kirche, den hohen Prozentsatz derer zu würdigen, die zur Kirche gehören und diese auch finanzieren wollen, aber sich nicht in den gängigen Formen der Vergemeinschaftung einfinden. Die im kirchlichen Denken so selbstverständliche Idee, der Glaube an Jesus Christus ziehe die Sehnsucht nach verbindlicher Gemeinschaft nach sich, darf nicht dazu führen, die Art dieser Gemeinschaft in einer einzigen Gemeindeform allgemeingültig definieren zu wollen. Hier werden sich neue Sozialformen ganz unterschiedlicher Dauer und Verbindlichkeit entwickeln, die den neuen urbanen Milieus und Verhaltensweisen entsprechen. Die Zahl der Menschen, die dem Vereinscharakter der evangelischen Kirche nichts abgewinnen können, sich aber in ihrem eigenen Umfeld intensiv mit Glaubensfragen auseinandersetzen und sich bewusst als Christen verstehen, ist erheblich und wird es auch in Zukunft bleiben. Für die Wiederkehr der evangelischen Kirche in der Stadt bedeutet das, unterschiedliche Wege der Auseinandersetzung mit dem Glauben im Blick zu haben und sie in ihr Konzept einzubinden. Dazu gehören die Gemeinschaften in der Landeskirche und Gemeindegründungen durch die Stadtmission genauso wie die Freiheit, mit lutherischem Berufsethos seinen christlichen Glauben am Arbeitsplatz zu leben, ohne eine verbindliche Mitarbeit in einer Ortsgemeinde zu suchen.

Eine besondere Herausforderung für die evangelische Kirche bedeutet die erneute Kontaktaufnahme zu den vielen Getauften, die ihre Kirchenmitgliedschaft aufgekündigt haben und ausgetreten sind. Hier bedarf es einer Modifikation des weithin herrschenden Verständnisses, dass es auf die Kirchenmitgliedschaft eigentlich nicht ankomme. Nach Auflösung überkommener Bindungen muss eine neue Identifikation mit dem christlichen Glauben auch in seiner institutionellen Gestalt gefördert werden. Eine erste Antwort auf diese Herausforderung waren die Wiedereintrittsstellen.

Darüber hinaus ist durch die große Zahl von Menschen ohne jegliche konfessionelle Bindung und Erfahrung eine völlig neue Situation entstanden, in der neue Formen zum Kennenlernen des christlichen Glaubens und der Einladung zur Taufe entwickelt werden müssen. Die nicht mehr vorhandene quasi vererbte Zugehörigkeit zur Kirche nötigt uns, zentrale Inhalte des christlichen Glaubens und seines Welt- und Menschenbildes explizit in der Stadtkultur zu verdeutlichen und auf neue Weise zum christlichen Glauben hinzuführen.

3. Gestaltungsaufgaben für eine Wiederkehr der Kirche in die Stadt

3.1. Wandel der Parochie

Mit der klassischen Parochie wurde das dörfliche Modell von Kirche in den Kontext der Stadt transportiert: Kirche und Pfarrhaus und das dazukommende Gemeindehaus repräsentieren zusammen mit dem Pfarrer die örtlich verfasste Kirche als überschaubare Gemeinde. Die Stärke dieser Struktur ist die Verwurzelung im Nahbereich. Auf diese Stärke setzte die Kirche mit den zahlreichen Kirchengebäuden und Gemeindehäusern, die nach dem zweiten Weltkrieg errichtet wurden. Das wirtschaftliche Wachstum stellte dazu über Jahre in Form steigender Kirchensteuern die nötigen Finanzmittel zur Verfügung.

Schon Ernst Lange hat darauf hingewiesen, dass die Stärke der Parochie zugleich ihre Schwäche ist [44]. „Der progressive und sich beschleunigende Prozess gesellschaftlicher Mobilisierung, Spezialisierung und Konzentration hat die klassische Anpassungsleistung der Kirche an die stabile vorindustrielle Gesellschaft, die Parochie mit ihren Institutionen, problematisch und überholungsbedürftig gemacht“. Lange will zwar nicht von einem „Funktionsverlust“, sondern von einem „Funktionswandel“ sprechen, aber er diagnostiziert insgesamt: „Wesentliche Lebensfunktionen des einzelnen und der Gesellschaft... liegen völlig außerhalb der Reichweite der alten ortsgemeindlichen Institutionen und Wirkweisen“. Speziell für die Stadt bedeutet das: Städter leben - mit Ausnahme der ganz Kleinen und ganz Alten - in vielfältigen Bezügen, die nicht im unmittelbaren Wohnumfeld aufgehen. Sie sind in ihrem alltäglichen Leben schon allein räumlich verschieden orientiert. Die unterschiedlichen Lebensvollzüge finden an zahlreichen Orten statt. Menschen suchen sich je nach Anlass und Ziel ihre Bezugspunkte und Orte.

Für Kirche in der Stadt ist damit seit geraumer Zeit die Frage aufgeworfen, welche strukturellen Konsequenzen aus diesen Veränderungen zu ziehen sind. Die Parochie wird ergänzt durch milieubezogene kirchliche Spezialdienste, z.B. für bestimmte Berufsgruppen oder an spezifischen Lebensorten (Kirchlicher Messedienst, Kirche in der Arbeitswelt) sowie durch Anlaufstellen der citykirchlichen Arbeit. Die Parochie bleibt ein wesentliches Angebot der Beheimatung. Sie kann aber in ihrer jetzigen Gestalt und Funktion nicht allein und unverändert bestehen bleiben, wenn die Kirche ihre Aufgabe in der Stadt erfüllen will.

3.2. Entwicklung eines kirchlichen Handlungsplanes für die ganze Stadt

Alle Angebots- und Arbeitsformen einer in die Stadt wiederkehrenden evangelischen Kirche haben glaubenstärkendes, gemeinschaftsstiftendes und finanzielles Potenzial. Sie arbeiten stellvertretend füreinander unterschiedliche Gestaltungsformen der evangelischen Kirche aus und sind nicht selten als drei Aspekte der einen Gemeindearbeit in einer Stadtkirche zu finden. Die drei Formen des Gemeindeaufbaues unterstützen sich gegenseitig: die äußere Verbindlichkeit in der quartiersbezogenen und der profilbezogenen Arbeit ist markant größer als in der situativen Arbeit, dort aber werden Menschen neu angesprochen und können Erfahrungen innerer Beheimatung machen. Die profilgemeindebezogene Arbeit kann eine Zielgruppengenauigkeit herstellen und Menschen über ein gemeinsames Anliegen oder einen gemeinsame Lebensstil zusammenführen, die die quartiers- und situative Arbeit nicht zu erreichen vermag; und die quartierbezogene Arbeit stärkt die Glaubensentwicklung durch Vertrautheit und Verlässlichkeit und eine sozialräumlich zusammengehaltene Pluralität, wie es die beiden anderen Formen nicht vermögen. Zwischen den drei Formen der Gemeindearbeit besteht daher keine Hierarchie. Die Stärken und Chancen der jeweiligen Formen müssen im kirchlichen Selbstverständnis stärker als bisher in den Mittelpunkt gestellt und in ein positives Verhältnis zueinander gebracht werden.

Voraussetzung für eine solche Verhältnisbestimmung ist allerdings ein Handlungskonzept kirchlicher Präsenz in der Stadt. Die genaue Wahrnehmung der städtischen Situation aus den unterschiedlichsten Perspektiven (Quartier, Zentrum, Peripherie, Gesamtstadt) mit Hilfe statistischen Materials und qualitativer Befragung ist eine Grundlegung für die Erarbeitung eines solchen Konzeptes. Stadtentwicklungsplanungen müssen genauso berücksichtigt werden wie demographische Perspektiven und ökumenische Partnerschaften, Veränderungen spezifischer Stadtteilmilieus genauso wie die mentalen Stadtpläne und Identifikationen von Quartiersbewohnern. Diese konzeptionelle Gesamtschau muss ebenfalls alle diakonischen Einrichtungen einer Stadt in den Blick nehmen. Auch an dieser Stelle wird sicher vieles auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Diakonisches Engagement muss zunehmend integraler Bestandteil der hier skizzierten Gemeindeformen werden. Deshalb gehört zur Konzentration der Kräfte auch die enge Verbindung gemeindlicher Aktivitäten - seien es liturgische Formen oder Bildungsangebote - mit diakonischen Einrichtungen. Die beschriebene Vielfalt gemeindlicher Formen bietet die verschiedensten Anknüpfungspunkte für das diakonische Handeln der Kirche. Verlässliche Partnerschaft mit quartier- vor allem aber auch netzwerkartigen Profilgemeinden muss deshalb ein Ziel für jedes diakonische Handeln sein.

Zu den zweifellos schwersten Aufgaben der nächsten Jahre gehört die Auswahl von Kirchengebäuden und Gemeinden, die für die evangelische Kirche in einer Stadt langfristig stabilisiert und inhaltlich weiterentwickelt werden sollen. Angesichts der oben entfalteten Überlegungen besteht ein überproportional großer Veränderungsbedarf bei den lokal begrenzten, rein parochial organisierten Gemeindeformen in der Stadt. Es braucht Kompetenz und Leitungskraft, eine städtische Landkarte „kirchlicher Orte mit Zukunft“ zu entwerfen und ihre Realisierung voran zu treiben. Die Alternative allerdings, dass zufällige Pfarrstellenbesetzungen, Profilbildungen oder Finanzausstattungen das zukünftige Bild der Kirche in der Stadt bestimmen, ist mit hohen Kosten und gleichzeitigen Einbußen an möglicher konzeptioneller Substanz verbunden. Scheinbar beliebig wird mal diese, mal jene Kirchengemeinde in der Stadt in Frage gestellt, die evangelische Kirche in der Stadt scheint inhaltlich gesehen, ohne Übersicht auf notwendige Reduzierungen zu reagieren. Es ist dringend erforderlich, Konzepte für eine kirchliche Profilbildung und Konzentration in den Städten zu entwerfen, die der Kirche zu neuem Wachstum verhelfen kann. Die evangelische Kirche muss in diesen Prozessen aktiv gestaltend sein und sich nicht als Opfer von Entwicklungen fühlen. Seit vielen Jahren sind fast alle Mitarbeitenden in der Kirche immer wieder mit Reduzierungsplänen beschäftigt; integrative Konzepte für eine einladende und vitale Kirche in der Stadt kommen dabei immer wieder zu kurz. Deswegen erscheint es dringlich, Handlungsszenarien für die evangelische Kirche in der Stadt zu entwickeln, die auch bei weiteren Reduzierungen noch Gültigkeit behalten.

Vor diesem Hintergrund wird die evangelische Kirche in der Stadt ihre Steuerungsprozesse hinterfragen müssen. Wie kann ein gesamtstädtischer kirchlicher Handlungsplan entworfen und umgesetzt werden, wenn in der Perspektive einzelner Ortsgemeinden erst einmal alle Anstrengungen nur der eigenen Gemeinde gelten? Mit welchen Beteiligungen müssen die konsequenten Entscheidungsprozesse vorbereitet werden, und wie können parochiale Grenzen zum Wohle eines stadtweiten Blicks übersprungen werden? Die Quartiers- und die Stadtverantwortung muss im Gegenüber zur lokalen Orientierung mit einer neuen Gestaltungsbefugnis ausgestattet werden. Mitunter ist hierfür auch ein Wechsel der Anstellungsträgerschaft hilfreich; Kirchenkreise (Dekanate) sind mittelfristig die richtige Ebene, um die Nähe zu den konkreten Standorten in der Stadt mit einer Gesamtperspektive der kirchlichen Arbeit in der Stadt zu verbinden. In größeren Städten müssen darüber hinaus Vereinbarungen zwischen den Kirchenkreisen (Dekanaten) getroffen werden, die eine Gesamtschau städtischer Entwicklungen garantieren.

3.3. Finanzen

Alle drei beschriebenen gemeindlichen Formen werden verstärkt eigene Finanzierungsmöglichkeiten entwickeln müssen. Während situative Gemeindeangebote oftmals schon recht erfolgreich mit Eintritten, Spenden und punktueller Projektunterstützung arbeiten, sind Netzwerkgemeinden außerordentlich erfolgreich bei der Etablierung von Fundraising, Fördervereinen und Stiftungen. Gerade Netzwerkgemeinden, die über ein inhaltliches Thema, ein persönliches Charisma oder ein diakonisches Profil Menschen aus der ganzen Stadt versammeln, bieten vielfältige Chancen für eine finanzielle Unterstützung. Mit einem professionellen Finanzierungskonzept und einer angemessenen Würdigung von Spenderinnen und Spendern können zu einem erheblichen Teil die Kosten für die besonderen Angebote von Netzwerkgemeinden generiert werden. So sinnvoll der wirtschaftliche Betrieb eines Fahrstuhls auf die Kirchenturmplattform oder eines Kirchenkiosks ist, so eng sind die Grenzen für wirtschaftliche Betätigungen der Gemeinden gezogen. Ein nicht unerheblicher Teil der hohen Akzeptanz der Kirche liegt auch darin, dass sie unabhängig von ökonomischen Zwängen ihren Auftrag formuliert. Ein Kostenbewusstsein, eine seriöse Finanzplanung und offensive Strategien zur Einwerbung von Drittmitteln sind notwendig, ein wirtschaftliches Engagement mit eigenen Betrieben dagegen nur in Ausnahmefällen sinnvoll.

Dass die verlässliche quartiersbezogene Arbeit für die Plausibilität der Kirchensteuer besondere Bedeutung hat, leuchtet unmittelbar ein. Die evangelische Kirche in der Stadt hat mit den drei Gemeindearbeitsformen auch neues Potenzial zur Erzielung von finanzieller Unterstützung. Allerdings ist es unübersehbar, dass die Ressourcenverteilung gerade für die „Kreativabteilung der Gesamtkirche“ in der situativen Gemeindearbeit wohl nie ohne überproportionale gesamtkirchliche Förderung auskommen wird - so wenig wie je eine Forschungsabteilung anderer Unternehmungen ohne gemeinsame Unterstützung auskommen wird.

Die zukünftige Finanzierung der kirchlichen Arbeitsbereiche innerhalb einer Stadt kann nicht in klassischer Art nach Gemeindemitgliedschaft erfolgen, sondern muss eine aufgabenorientierte Mittelausstattung sein, die Ziele definiert, Wirkung misst und Erfolge belohnt.

3.4. Personal

Eine Wiederkehr der Kirche in die Stadt in dem hier entfalteten Sinne wird nur möglich, wenn die evangelische Kirche die Voraussetzungen für eine Arbeit in der Stadt kritisch diskutiert. Dazu gehört eine Klärung der theologischen und geistlichen Kompetenzen: Gibt es Kriterien für besonders geeignete „Stadtpfarrer/innen“? Wie kann der für die evangelische Kirche prägende Gedanke eines „Priestertums aller Gläubigen“ sich in Personalpolitik und Strukturen sinnvoll umsetzen lassen? Wie können qualifizierte ehrenamtliche Mitarbeiter für die Arbeit in einer Stadtkirche gewonnen und wie ausreichend begleitet, fortgebildet und gewürdigt werden?

Ohne kontinuierliche Fort- und Weiterbildung aller in der Stadt arbeitenden kirchlichen Mitarbeiter/innen wird die Kirche den Herausforderungen der Stadt nicht gerecht werden können. Und zu den wichtigsten Kompetenzen der Zukunft gehört neben der theologischen und geistlichen Kompetenz die Teamfähigkeit. Die dialogische Struktur städtischer Existenz fordert die Schärfung kirchlicher Konzepte im Team genauso wie die Stärkung einer geistlichen Gemeinschaft, die sich für das Leben der ganzen Stadt verantwortlich fühlt. Die Möglichkeiten für angehende Pastoren und Pastorinnen, im Vikariat oder einer späteren Fortbildungsphase einen eindeutigen Schwerpunkt in der stadtkirchlichen Arbeit zu markieren, sind bisher begrenzt. Hier müssen Modelle entwickelt werden, die es möglich machen, überzeugende Qualifikationen für die Arbeit in Innenstadtkirchen zu erwerben. Dabei sollte gerade in diesem Segment eine landeskirchenübergreifende Möglichkeit entwickelt werden, die z.B. mit Vikariatsstationen an drei Innenstadtkirchen in Deutschland nicht nur der Ausbildung von zukünftigen Stadtpastorinnen diente, sondern zugleich die bundesweite Vernetzung dieser Arbeit vorantreiben würde.

Auch im Blick auf die zukünftige Personalpolitik wird den Besetzungen von Schlüsselstellen besondere Aufmerksamkeit zukommen. Dazu gehören Personalentscheidungen an herausgehobenen Innenstadtkirchen genauso wie an Profilgemeinden. Die Entscheidung über solche Besetzungen sollte dabei niemals ausschließlich in gemeindlicher Verantwortung liegen, sondern immer in Abstimmung mit Anrainergemeinden und Kirchenkreisleitungen erfolgen.

Die Anstellungsträgerschaft für kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf größerer Ebene als der Gemeinde bietet die Chance einer höheren Verlässlichkeit und ist teilweise die einzige Möglichkeit, bestimmten Berufsgruppen auch zukünftig ganze Arbeitsstellen anbieten zu können. Dieses ist zugleich ein positives Signal, um Interessierte überhaupt noch für eine Ausbildung zum Beispiel als Kirchenmusiker oder Diakon gewinnen zu können.

Der verlässliche, in der Regel unbefristete Einsatz von einmal gewählten Pfarrer/innen an einem Ort hat teilweise zu einer mangelnden Flexibilität geführt, die zum Schaden des Ganzen werden kann. Für die Zukunft der Kirche in der Stadt ist es wichtig, dass Personalwechsel möglich bleiben müssen, auch um missionarische Strategien innerhalb einer Stadt durch eine gabenorientierte Personalpolitik optimal unterstützen zu können.

3.5. Religiöse Alphabetisierung und missionarische Bildungsarbeit

Der weitgehende Abbruch der religiösen Sozialisation in den Familien und in den Schulen stellt in den Städten für die Kirche eine besondere Herausforderung dar.

Bei unverändert hoher Taufbereitschaft in den alten Bundesländern und einer neuen, langsam wachsenden Taufbereitschaft in den neuen Bundesländern ist die Familie allein mit der religiösen Sozialisation überfordert. Religiöse Sozialisation bis hin zur Konfirmation legt aber die Grundlage für eine Begleitung des Lebens in der Perspektive des Glaubens. Es wird zukünftig entscheidend darauf ankommen, dass alle in Frage kommenden Institutionen - evangelische Kindertagesstätten, evangelische Schulen, kirchliche Kinder- und Jugendarbeit, Konfirmandenunterricht usw. - bei der Aufgabe der religiösen Sozialisation zusammenwirken. Religiöse Alphabetisierung zielt auf die Vermittlung eines christlichen Grundwissens und die Erfahrung eines religiösen Lebensvollzuges, die die Entstehung und Entwicklung eines für den einzelnen „stimmigen Glaubens“ (H. Lindner) fördern. Die dafür notwendigen und hilfreichen Formen und Inhalte gilt es mit Blick auf das Quartier und die Gesamtstadt weiter zu entwickeln. Auch hier wird es auf eine Vernetzung der Angebote ankommen, weil keine Gemeinde ein „Vollprogramm“ vorhalten kann. Die Einrichtung von Kooperationsstellen auf der Ebene des Kirchenkreises (Dekanates), die für eine professionelle Vernetzung der Bildungsangebote und deren Bewerbung zuständig sind, kann eine hilfreiche Form der Steuerung sein.

Dabei wird es gerade in den Städten zunehmend auch um die Frage gehen, wie Erwachsene, die ohne eine Bindung an die Kirche und teilweise ohne jede religiöse Bildung aufgewachsen sind, wieder für den christlichen Glauben gewonnen werden können. Eine große Herausforderung in den neuen Bundesländern und eine wachsende Aufgabe in den alten ist deshalb die Frage eines attraktiven religiösen Bildungsangebotes für Erwachsene.

Hier können Profilgemeinden stellvertretend für ein Quartier Bildungsangebote anbieten. So wichtig dabei eine Vernetzung von existierenden kirchlichen Bildungsangeboten ist, so wichtig sind Versuche, neue Formen religiöser Bildung auszuprobieren. Die Kombination von religiöser Rede mit geistlichem Charisma in einem Kirchenraum, die Entwicklung eines niedrig schwelligen Erwachsenenkatechumenats und die Mitarbeit der Kirchen im Angebot der Ganztagsschulen sind nur einige Beispiele. Die Formen werden vielfältiger sein müssen als bisher und zu Kooperationen mit anderen Bildungsträgern führen.

3.6. Öffentlichkeit

Zuverlässig geöffnete Kirchen gehören zu den Grundvoraussetzungen einer Kommunikation der Kirche in den öffentlichen Räumen einer Stadt. Dabei geht es um weitaus mehr, als nur um das Aufschließen der Kirchentüren. Ausstellungen, das Wirken von Kirchenführerinnen für Einzelne oder Schulklassen, Gebetszeiten an den Wochentagen, Orgelmusiken zur Mittagszeit - solche Angebote sind vielerorts zu Kristallisationspunkten einer für viele zugänglichen Form kirchlichen Lebens geworden. Kirchenläden, Speisungsräume und Gemeindefeste sind nur einige Beispiele, die zeigen, dass die Kirche ihre Rolle in den öffentlichen Räumen der Stadt spielt, ohne sich dabei selbstverständlich auf die Voraussetzungen des gemeinsamen Glaubens oder einer religiösen Vertrautheit stützen zu können.

Die Öffnung aller zentralen Kirchen in der Stadt aber bleibt die unüberbietbare Geste der Einladung an alle Stadtbürgerinnen, alle Flaneure und Umherirrenden und zeigt zugleich die Verantwortung für die städtische Öffentlichkeit. Mindestens eine zentrale Stadtkirche sollte zudem bis tief in die Nacht geöffnet bleiben, um damit dem städtischen Gemeinwesen als symbolischer Asylort zu dienen. Welche große Bedeutung die Kirchen in den Städten erhalten können, wenn es keine anderen öffentlichen Räume mehr gibt, haben die Innenstadtkirchen in der ehemaligen DDR in den 80er Jahren gezeigt. So spielten die Zionskirche in Berlin, die Kreuzkirche in Dresden und die Nikolaikirche in Leipzig im konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung als öffentliche Räume eine wichtige Rolle und bildeten zugleich einen Gegenentwurf zu staatlich gelenkter Öffentlichkeit. Diese Tradition der Kirchen als öffentliche „Räume der Freiheit“ muss stärker in den Stadtkirchen unserer Tage profiliert werden.

Stadtleben wird entscheidend durch mediale Öffentlichkeiten geprägt. Die lokalen Zeitungen und Rundfunksender bilden einen wichtigen Teil städtischen Geschehens ab. Sie stärken die Identifikation der Bürgerinnen mit ihrer Stadt, sie bestimmen Themen und begleiten Stadtpolitik. Längst ist ein wichtiger Teil der Wirklichkeitserfahrung durch die Massenmedien dominiert. Die Begegnung auf dem Marktplatz oder im Gottesdienst in der Kirche gilt zwar auch als öffentliches Geschehen, mediale Aufmerksamkeit allerdings und damit allgemeine Bekanntheit in der Stadt erreichen sie in der Regel nicht. Die mediale Berichterstattung hat deshalb maßgeblichen Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung von Kirche in der Stadt: Gottesdienstübertragungen, Rundfunkandachten und Wochenendkolumnen markieren die hohe Akzeptanz, die die Kirchen noch immer haben. Zu großen kirchlichen Festtagen greifen die Medien christliche Themen und Traditionen auf und füllen mit ihnen Titelseiten und Feuilletons. In lokalen Zeitungen werden die Gottesdienste und Kirchenkonzerte angekündigt, die über Weihnachten und Ostern in kirchlichen Räumen gefeiert werden. In den großen Städten umfasst diese Darstellung zu Weihnachten mehrere Seiten der jeweils führenden Lokalzeitung. Zu bedeutenden gesellschaftspolitischen und ethischen Debatten, zunehmend auch zu trivialen Allerweltsthemen, werden Kirchenvertreter um Statements und Interviews gebeten. Dabei machen sich durch größer werdende Medienkommerzialisierung stärkere Boulevardisierung und Personalisierung bemerkbar. „Kirchliche Prominenz“ ist gefragt, um Themen dem Leser, Hörer oder Zuschauer auf ansprechende Weise zu vermitteln. Die Privatsphäre einer Bischöfin oder eines Dekans, die „Homestory“ aus dem Pfarrhaus ist von größerem Interesse als der Bericht über Reformbemühungen und gemeindliche Neuaufbrüche. Manchmal mangelt es der Kirche und ihrem Umfeld auch schlicht am Neuigkeitswert eines Themas. Die alltägliche Arbeit in der Gemeinde oder diakonischen Einrichtung findet in den öffentlichen Medien daher eher selten die Aufmerksamkeit, die sie verdient hätte.

Aus seelsorgerlichen, liturgischen und theologischen Gründen wird es allerdings immer Bereiche kirchlichen Handelns geben, die in ihrem Charakter die private Sphäre verlangen. Gerade in der konsequenten Vermeidung von medialer Öffentlichkeit in bestimmten Teilen der Arbeit liegt eine Stärke der Kirche. Sie darf sich nicht den medialen Öffentlichkeiten anbiedern, sondern muss in der Haltung einer kritischen Zeitgenossenschaft das Leben in der Stadt begleiten, deuten und auch kritisieren können. Die Glaubwürdigkeit der Kirche liegt auch darin, dass sie nicht um jeden Preis mediale Aufmerksamkeit erlangen will.

Dennoch bedarf es gerade in Städten neben den informellen Kommunikationsnetzwerken und den parochialen Informationswegen mit Schaukasten und Gemeindebriefen einer professionellen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Jeder großstädtische Kirchenkreis bzw. jedes Dekanat muss über eine eigene Abteilung verfügen, in der das Stadtgeschehen kritisch beobachtet und die kirchlichen Angebote und Positionen erfolgreich in den Medien platziert werden können. Mit dem Versenden schlichter Pressemeldungen zu kirchlichen Debatten oder Veranstaltungen ist man in den Medienmetropolen kaum noch erfolgreich. Zu groß ist die Konkurrenz anderer Meldungen und die Dominanz der Tagesaktualität. Um eigene Themen in den Medien zu setzen, müssen Anlässe geschaffen, Geschichten entwickelt und Events organisiert werden. Das Bild für die Fotografen ist dabei ebenso wichtig wie eine gewisse Originalität in der Präsentation: Um den Reformationstag in die aktuelle Berichterstattung der Medien zu bekommen, reicht es nicht, auf Martin Luther zu verweisen. Aufmerksamkeit ist gewonnen, wenn Pastorinnen und Pastoren Lutherbonbons in der Fußgängerzone verteilen. Für den Spendenaufruf zur Sanierung der Citykirche seilen sich Kirchenvertreter vom Turm ihres Gebäudes ab und haben damit Foto, Fernsehbericht und Meldung sicher. Diese Beispiele unterstreichen die neue Herausforderung kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit in den Großstädten

Ein wichtiges Instrument kirchlicher Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ist die Krisen-PR, die dazu beiträgt, dass ein innerkirchlicher Konflikt durch öffentliche Debatten nicht verschärft und damit das Konfliktmanagement erschwert wird. Ein guter, stetiger Kontakt zu den Medienvertretern vor Ort ist dafür unerlässlich und bedarf kontinuierlicher Pflege. Er dient nicht nur dem kirchlichen Selbstzweck, sondern ist überhaupt Vorraussetzung, um das städtische Gewissen zu schärfen.

Der öffentliche Stadtraum ist von zwei Seiten bedroht. Zum einen werden durch die zunehmende Privatisierung Plätze und Wege der allgemeinen Zugänglichkeit entzogen. Zum anderen vervielfältigen sich virtuelle Räume im Internet und stellen die Frage nach dem „Eigentlichen“ eines öffentlichen, erfahrbaren Raumes.

In den „Neuen Medien“ wie dem Internet vollzieht sich ein erneuter Privatisierungsschub, den man auch als „Enträumlichung“ beschreiben kann. Die Zunahme virtueller Räume, in denen Kommunikation geschieht, fordert die Notwendigkeit einer realen räumlichen Stadtöffentlichkeit noch einmal in besonderer Weise heraus. Dafür können die Kirchen mit ihren öffentlichen Räumen gerade in deren Andersartigkeit einen wichtigen Beitrag leisten. Die von Michel Foucault [45] skizzierten Gegenräume, „Heterotopien“, sind reale Räume in raumzeitlicher Einheit, in denen ich bin und zugleich nicht bin. Spiegel und Friedhof beschreiben nach Foucault das Wesen von Heterotopien. Ohne den Spiegel fehlt eine Anschauung meiner selbst und ohne den Friedhof eine Anschauung meiner Endlichkeit. Solche Gegenräume ritualisieren und lokalisieren Brüche, Schwellen und Abweichungen, bezeichnen Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Dieser Entwurf ist auch geeignet, die Rolle der Kirchen im Blick auf die öffentlichen Räume in einer Stadt zu beschreiben. Die Kirchen sind nicht mehr nur die selbstverständlichen Offenbarungsorte eines himmlischen Raumes, der in ihnen Gestalt geworden ist. Vielmehr sind heute die Erfahrungen von Kirche und kirchlichen Räumen an den Bruchstellen menschlicher Subjektivität angesiedelt. Glaube und Unglaube durchdringen sich, die Gotteserfahrung ist keine Selbstverständlichkeit und kennt auch die Ferne und das Schweigen. So sucht der Mensch in der Stadt die öffentlichen Gegenräume, in denen seine Sehnsucht Gestalt gewinnt. Nicht für das schon eingelöste Versprechen, sondern für die Hoffnung auf die Einlösung eines die Welt verändernden Versprechens stehen die Kirchen als Gegenräume unübersehbar in den öffentlichen Räumen einer Stadt.

3.7. Interreligiöser Dialog

Ob Religion in Zukunft eine friedensstiftende Größe sein wird oder zur Potenzierung sozialer und kultureller Spannungen und Konflikte beiträgt, ist für die Stadt eine wichtige Zukunftsfrage. Um des Zusammenlebens der Menschen verschiedener Religionen willen gibt es keine Alternative zu einem Dialog der Religionen in der Stadt. Die christlichen Kirchen haben eine besondere Verantwortung für den Erhalt des Stadtfriedens; insofern ist die ökumenische Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Konfessionen des christlichen Glaubens eine unerlässliche Voraussetzung auch für den Stadtfrieden. Das ökumenische Gespräch schließt dabei auch die Offenheit für die vielen christlichen Gemeinden ein, die Menschen aus anderen Ländern sammeln und in deren Sprache Gemeinde aufbauen; Gastfreundschaft und Zusammenarbeit bei den Aufgaben der Integration sind wichtige Bausteine einer solchen ökumenischen Zusammenarbeit in der Stadt.

Darüber hinaus ist es auch unerlässlich, dass die Kirchen an der Gestaltung des interreligiösen Dialogs aktiv mitwirken.

Dieser beginnt mit der gegenseitigen Wahrnehmung. Auf diesem Weg wird sowohl das die Religionen Verbindende, als auch das sie Unterscheidende bzw. Trennende sichtbar werden. Mit der Frage nach dem Dialog ist die Frage nach dem je Eigenen untrennbar verbunden, denn in der Begegnung mit den religiös Anderen und Fremden wird die eigene Religion begründet und angeeignet.

Der interreligiöse Dialog und die Kooperation der verschiedenen Religionen zugunsten der Stadt gehören untrennbar zusammen. Die unterschiedliche religiöse Verwurzelung ist nicht a priori ein Hindernis, gemeinsam der Stadt Bestes zu suchen. Dass man an unterschiedlichen Orten betet, bedeutet nicht, dass man nicht gemeinsam für Frieden und Gerechtigkeit in der Stadt eintreten kann. Der Dialog ist mühsam und braucht institutionelle Formen, die gerade in kritischen Zeiten eine Gewähr für kontinuierliche Begegnung bieten. Profilgemeinden mit einem Bildungsangebot bieten sich als Begegnungsorte für unterschiedliche Religionsgemeinschaften an. In jeder Stadt sollte eine Kirche stellvertretend diesen Dialog mit besonderer Aufmerksamkeit führen. Pfarramtliche Zusatzbeauftragungen und Qualifikationen gehören unabdingbar zu einem solchen Ort hinzu, an dem exemplarisch ein Grundgedanke der europäischen Stadt dialogisch inszeniert wird: die Achtung des Fremden. Ein kontinuierlicher oder verlässlicher Begegnungsort, an dem sich Vertreter aller wichtigen religiösen Gemeinschaften einer Stadt regelmäßig treffen und neben theologischen Fragen vor allem zur Situation der Stadt und ihrer gemeinsamen Verantwortung für das städtische Gemeinwesen Stellung nehmen, könnte diesem Ansatz besonderes Gewicht verleihen.

Gott in der Stadt (pdf)

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