Wandeln und gestalten

1. „Lebensgefühle“: Kirche in ländlichen Räumen

Ist doch nichts mehr da: Wir hatten zwei Metzger, die sind weg. Die Post ist weg. Die Wirtschaft ist zu. Nur die Kirche ist noch da. Wenn sie die uns auch noch wegnehmen, haben wir gar nichts mehr.

(Karl Schäfer, 77 Jahre, Rentner, Küster und Kirchenältester in Niedermöllrich, Hessen)

Nach Studium und Ausbildung stellte sich auch bei mir die Frage: Karriere machen in München bzw. Bonn oder Rückkehr in die oberfränkische Heimat? Ich habe mich für letztere entschieden und es nicht bereut. (...) Was mich hier gehalten hat? Einmal sicher die Verwurzelung im wörtlichen Sinn. Mindestens 20 Generationen meiner Vorfahren wurden hier in meiner Heimatkirche getauft, haben hier geheiratet und wurden hier begraben. Da ist aber noch das andere, der Reiz der kleinstädtischen Strukturen, nahe bei den Menschen, die man kennt, nahe bei ihren Problemen, Sorgen und Freuden. Schließlich ist die geistliche Prägung als Kernland der Reformation mit pietistischen Erneuerungen heute noch spürbar. Reden von Gott im öffentlichen Raum ist eine Selbstverständlichkeit. Keine Einweihung eines Gebäudes oder einer Straße ohne eine ökumenische Segnung. Und wenn bei einem 95. Geburtstag der Pfarrer fehlt, dann stimmen Bürgermeister und Landrat „Lobet den Herren“ oder „Nun danket alle Gott“ an oder sprechen ein Gebet. Dies zeigt auch etwas vom Selbstbewusstsein und vom Einsatz der Nichttheologen. Als Ehrenamtliche haben sie in unseren Kirchengemeinden viele Funktionen übernommen.

(Dr. Peter Seißer, 63 Jahre, Landrat des Landkreises Wunsiedel i. Fichtelgebirge, Mitglied des Kirchenvorstands und der Bayerischen Landessynode)

Dass die Kirche eine Schule ins Dorf zurückgebracht hat, war ihre beste Tat. Die Schule und die Kirche sind die Kulturträgerinnen im Dorf.

(Heidi Lakos, 45 Jahre, Hausfrau und Mutter von 3 Kindern, Freienseen, Hessen)

Für mich hat die Kirche im Dorf eine ganz besondere persönliche Bedeutung. Mein normaler Arbeitstag beginnt ca. 6.00 Uhr mit einem Blick aus dem Küchenfenster auf „meinen“ Kirchturm. Im Winter ist er etwas besser zu sehen, da sind keine Blätter an den Bäumen. Im Sommer sehe ich nur die Spitze des Turmes. Kirche im Dorf ist für mich am Sonntag der Gottesdienst, die Arbeit im Kirchenvorstand, der Gemeindebrief alle zwei Monate, der Männerkreis und für meine Frau der Chor. Aber der Gottesdienst ist der Mittelpunkt, in dem ich mir die Kraft für die kommende Woche hole. Wenn der Pfarrer am Ende den Segen spricht, dann weiß ich so richtig: In den nächsten Tagen bin ich nicht mehr allein. Kraft tanken und wissen, wo ich Halt finde, das ist für mich wichtig - in unserer Dorfkirche. 1981 war ich über ihren Zustand erschrocken, heute ist sie ein Schmuckstück, „Krafttankstelle“ und „Geländer“ in einem. Deshalb ist mir die Kirche im Dorf so wichtig.

(Manfred Reichel, 58 Jahre, Elektriker, Schulleiter, Mitglied im Kirchenvorstand GlauchauGesau, Sachsen)

Wir haben im Altenburger Land 93 Kirchen. Wir möchten sie erhalten, denn sie stehen für die Geschichte und unsere Kultur.

(AnneKristin Ibrügger, 45 Jahre, Superintendentin im Kirchenkreis Altenburger Land, Thüringen)

Wenn die Kirche zerfällt, zerfällt auch das Dorf.

(Fritz Vogt, 69 Jahre, Leiter der Raiffeisenbank Gammesfeld, Württemberg)

Wir haben jahrelang die Vereinsgemeinschaft gemacht: den Weihnachtsmarkt und das Maibaumfest. Und das war doch so schön! Und dann hören wir auf, weil wir`s nicht mehr können - und von den Jungen kommt gar nichts!

(Friedegunde Tomenendal, 68 Jahre, Rentnerin, ehemalige Vorsitzende der Niedermöllricher Vereinsgemeinschaft, Hessen)

Der Gottesdienstbesuch wird mehr vom Veranstaltungskalender des Dorfes und dem eigenen Lebensrhythmus bestimmt als vom Kirchenjahr. Während kirchliche Feste immer mehr an Bedeutung verlieren, ist die Teilnahme an Gottesdiensten zu Dorf und Vereinsfesten sehr groß.

(Eva BrinkeKriebel, 39 Jahre, Pfarrerin, HainaLöhlbach, Hessen)

Bei uns helfen alle mit. Die Kirchensanierung verschlingt viele Arbeitsstunden: Wand verputzen oder abhauen, das Bearbeiten der feuchten Mauerritzen oder das Reparieren von Zäunen für die Außenanlagen. Man darf eben auch nicht bremsen, wenn neue Leute mit neuen Ideen kommen, stattdessen muss man motivieren nach dem Motto: Probiert es einfach aus! Unverzichtbar ist ein gutes Verhältnis zu den Dorfvereinen. Das ist viel wert. Da kann man immer kommen, wenn was ansteht. Dann packt jeder im Ort mit an. Und der Erfolg stellt sich dann auch ein. Früher war die Kirche leer, heute kommen z.B. 400 Leute zum Erntebittgottesdienst.

(Martin Häcker, 64 Jahre, Vorsitzender des Kirchengemeinderats, Waldbach, Württemberg)

Der Bauausschuss des Kirchenkreises ist für 81 Kirchen und zahlreiche Pfarrhäuser mit Nebengebäuden verantwortlich. Als Leiter dieses Ausschusses betrachte ich die Kirchen nicht in erster Linie als eine Last, vielmehr verkörpern sie in unseren Dörfern und kleinen Städten einen religiösen und kulturellen Mittelpunkt. Romanik und Gotik hinterließen ihre Spuren. Kleine Dorfkirchen, gebaut aus Feldstein, weisen auf die Kargheit des ländlichen Lebens hin, zeugen aber auch vom Können ihrer Baumeister. Hier steht man einfach in der Pflicht. Oder besser: Die Leitung des Bauausschusses ist für mich ein Ehrenamt! Dennoch erlebe ich es auch als eine Notsituation. Wir müssen fragen: Welche Kirchen brauchen wir nicht mehr, was machen wir mit den Bauwerken? Können wir die kleinen Dorfkirchen dem Verfall preisgeben? Wenn ich im 76. Lebensjahr mein Amt an die Nachfolger übergebe, so hoffe ich, dass auch meine Nachfolger „die Kirche im Dorf lassen“.

(Werner Ziege, 75 Jahre, Liebätz, Kirchenkreis Niederer Fläming, Brandenburg)

Das Dorf ist der Lebensraum, in dem die Leute sich daheim fühlen. Da gibt es vier Identität stiftende Agenturen: Kindergarten, Schulen, Vereine und Kirchengemeinden. Die muss man erhalten.

(Dr. Ulf Häbel, 64 Jahre, Pfarrer und Landwirt, Freienseen, Hessen)

EKD-Text 87 als PDF-Datei

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