Wandeln und gestalten

5. „Mutig handeln“: Folgerungen für kirchliches Handeln

a) Aufgaben der Kirchen und Gemeindeleitung

Stimmt man den skizzierten Strategien grundsätzlich zu und hält ihre Umsetzung für sinnvoll, so schließt das Konsequenzen im Blick auf Kirchen und Gemeindeleitung ein. Es handelt sich gleichsam um die „Hausaufgaben“, die auf der Ebene von Landeskirche, Kirchenkreis und Gemeinde zu leisten sind. Die kirchlichen Strukturmaßnahmen auf den verschiedenen Ebenen sind eine notwendige Bedingung dafür, dass die kirchliche Arbeit den Herausforderungen in den verschiedenen ländlichen Räumen gerecht werden kann.

Aufgaben der Landeskirchen
Die Landeskirchen können auf verschiedene Weise notwendige bzw. förderliche Rahmenbedingungen für ein kirchliches Wachstum und Verdichten in ländlichen Räumen schaffen. Die Voraussetzungen und Möglichkeiten in den einzelnen Landeskirchen dafür sind sehr unterschiedlich. Manche der im Folgenden benannten Aufgaben sind in einigen Landeskirchen längst erledigt, für andere Landeskirchen sind sie auf Grund ihrer strukturellen Verfasstheit nur schwer umsetzbar. Trotz dieser Einschränkung erscheint es sinnvoll, eine gemeinsame Richtung zu skizzieren, in welche die konkreten Umsetzungen in den Landeskirchen grundsätzlich weisen sollten.

• Aus, Fort und Weiterbildung von Ehrenamtlichen
Wenn die Ehrenamtlichen in der Zukunft eine verstärkte Rolle in den Gemeinden spielen werden, so bedarf es entsprechender Institutionen und Angebote zur Qualifizierung ehrenamtlicher Arbeit (z.B. Ehrenamtsakademien). Das Bildungsengagement im Bereich der Ehrenamtlichen dient der Qualitätssicherung kirchlicher Arbeit, der Würdigung der kirchlich Engagierten und der Entwicklung klarer, auf einander abgestimmter Profile der verschiedenen Tätigkeiten. Die Angebote müssen gut erreichbar und inhaltlich an den missionarischen Herausforderungen ausgerichtet sein. Bei der Aus, Fort und Weiterbildung wird die gründliche und angemessene theologische Qualifikation im Zentrum stehen müssen, um eine angemessene Wahrnehmung der Aufgaben zu gewährleisten.
Die Arbeit von Ehrenamtlichen wird trotz aller diesbezüglichen Erkenntnisse bislang oft noch zu wenig theologisch gewürdigt. Die Rechte von Ehrenamtlichen gegenüber den Hauptamtlichen bedürfen einer klaren rechtlichen Regelung.

• Personalpolitische Maßnahmen
Für die Hauptamtlichen, insbesondere die Pfarrerinnen und Pfarrer in den ländlichen Räumen, wird sich die Gestalt der Arbeit deutlich verändern. Die Neuausrichtung ihrer Tätigkeit in Bezug auf Außenorientierung, Kooperation, strukturelle Vernetzung, Begleitung Ehrenamtlicher, geistliche Profilierung u.a. bedarf einer Flankierung und Förderung durch entsprechende Bildungsangebote wie auch durch personalpolitische Maßnahmen. Dazu zählt etwa, Pfarrstellen nicht mehr einzelnen Gemeinden zuzuordnen, sondern regionalen Gemeindenetzwerken. Formen der Personalentwicklung wie Jahresgespräche, regelmäßige Visitationen und kollegiale Beratungen sind institutionell fest zu verankern. Besonders den Aspekt der Qualitätssicherung und entwicklung gilt es dabei zu beachten. Zu den personalpolitischen Maßnahmen gehört weiterhin, das Tätigkeitsfeld des Pfarrers geistlich zu profilieren und von zugewachsenen Belastungen (z.B. Verwaltungstätigkeit) zu befreien, für einen guten Nachwuchs - aus verschiedenen Milieus - zu sorgen und notwendige Pfarrstellenkürzungen angemessen zu gestalten und zu kommunizieren.

• Struktur und finanzpolitische Maßnahmen
Um die Zusammenarbeit von Gemeinden und die Flexibilisierung von Gemeindeformen zu unterstützen und zu fördern, sollten die Landeskirchen die dafür notwendigen strukturpolitischen Rahmenbedingungen schaffen. Dies kann u.a. geschehen durch eine entsprechende Gestaltung der Gemeindeordnungen, die Festlegung einer Mindestanzahl an Gemeindegliedern, eine Finanzzuweisung, die gemeindliche Netzwerke fördert, eine verstärkte Berücksichtigung alternativer Gemeindeformen. Die Landeskirche sollte hinsichtlich der verschiedenen Strategien, die in den einzelnen ländlichen Räumen möglich sind, eine orientierende Gesamtstrategie entwickeln. Dazu gehört die Entwicklung von Leitperspektiven, die Benennung von Wachstumsgegenden, die gezielte Ansiedlung von geistlichen Zentren oder auch die Bestimmung, was zu den Grundvollzügen kirchlichen Lebens gehört, die in strukturschwachen Regionen zu bewahren sind. Eine entsprechende Rahmenvorgabe für Leitziele der Entwicklung des kirchlichen Lebens in ländlichen Räumen könnte durch einen entsprechenden Synodal oder Kirchenleitungsausschuss vorbereitet werden. Die einzelnen GemeindeNetzwerke sollten in ihrer Eigenverantwortlichkeit gestärkt werden und Leistungsanreize als positive Rückkopplung auf ihrer Tätigkeit erhalten. Regionale Zusammenarbeit darf dabei nicht in die Beliebigkeit einzelner Pfarrstelleninhaber gestellt sein, sondern muss eine klare strukturelle Vorgabe der Landeskirche darstellen.

• Öffentlicher Diskurs
Die Vielfalt des ländlichen Raumes als Kontext kirchlichen Handelns gilt es theologisch und sozialwissenschaftlich genauer wahrzunehmen. Die Landeskirchen können dies durch Förderungen von themenbezogenen Forschungsprojekten, Veranstaltungen und wissenschaftlichen Arbeiten oder eine entsprechende Kommission unterstützen. Dazu gehört - um ein Beispiel zu nennen - etwa die Entwicklung von angemessenen liturgischen Formen und gottesdienstlichem Material für kirchliche Orte mit wenigen Gottesdienstfeiern im Jahr. Zugleich ist die zentrale Position der Kirche für die Entwicklung ländlicher Räume stärker in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Dies ist zu verbinden mit einer verstärkten Öffentlichkeitsarbeit.

Aufgaben der Kirchenkreise (Dekanate, Superintendenturen u.a.)
Die Kirchenkreise werden in den ländlichen Räumen als mittlere Ebene an Bedeutung weiter zunehmen. In strukturschwächeren Gegenden werden sie als Gemeindenetzwerk den eigentlichen kirchlichen Gestaltungsraum bilden. Insofern gelten die im nächsten Abschnitt benannten Aufgaben für die Gemeinden und Regionen weithin auch für die Kirchenkreise. Die Grundaufgabe der Kirchenkreise in ländlichen Räumen besteht in der Entwicklung eines konzeptionell abgestimmten „regionalen GemeindestrukturEnsembles“. Die Vernetzung der verschiedenen Gemeindetypen, die Gewährleistung eines gelingenden kirchlichen Miteinanders zwischen der Zentralgemeinde und den einzelnen kirchlichen Orten, die Förderung der kollegialen Zusammenarbeit der Haupt, Neben und Ehrenamtlichen sind einzelne Elemente der Arbeit auf Kirchenkreisebene. Das Aufgabenprofil des Kirchenkreises wird dabei je nach landeskirchlicher Stellung der Gemeinden unterschiedlich bestimmt werden. Die Größe und damit die Anzahl der Kirchenkreise sollte sich an diesem Aufgabenprofil ausrichten. Dazu zählt auch die angemessene Vertretung der Kirche nach außen im ländlichen Raum.

Aufgaben der Gemeinden und Regionen
Die Aufgaben der Gemeinden und Regionen sind je nach der kirchlichen Situation im entsprechenden ländlichen Raum sehr unterschiedlich. Die folgende Skizze konzentriert sich daher auf ein allgemeines Profil gemeindlicher Aufgaben, wie es sich im Blick auf die Wahrnehmung missionarischer Herausforderungen und Chancen darstellt. Zu diesem Aufgabenprofil gehören:

  • Erhebung und Analyse der Daten zur Entwicklung des ländlichen Raumes, zur kirchlichen Situation und zu den missionarischen Herausforderungen in diesem Raum,
  • Entwicklung einer theologischen Zielsetzung und einer handlungsleitenden Strategie für das kirchliche Handeln in den kommenden Jahren,
  •  konsequente Orientierung der kirchlichen Arbeit „nach außen“ in Wahrnehmung des kirchlichen Auftrages der Evangeliumsverkündigung „an alle Welt“,
  • flexible Gestaltung gemeindlicher Strukturen entsprechend den Gegebenheiten des ländlichen Lebensraumes und den Lebenswelten in den verschiedenen Milieus, Lebensstilen und Altersstufen,
  • Überwindung von bestehenden Milieuverengungen, Selbstfixierungen und strukturellen Erstarrungen in den Gemeinden,
  • geistliche Profilierung in allen kirchlichen Arbeitsfeldern,
  • verstärkte Gewinnung, Begleitung und Förderung von Ehrenamtlichen und Entwicklung und Pflege einer WürdigungsKultur freiwilliger Mitarbeit in den Gemeinden,

  • Konzentration der pfarramtlichen Arbeit auf deren genuin geistliche Aufgaben (Gottesdienst, Seelsorge, Unterricht, Theologie, Gemeindeleitung) und Durchbrechung der Delegationsspirale, in der immer mehr Aufgaben von immer weniger haupt bzw. ehrenamtlichen Personen wahrgenommen werden,
  • Einrichtung von Kirchbaufonds und alternativen Finanzierungsquellen zur Erhaltung der Kirchen,
  • fest verankerte Zusammenarbeit und konzeptionelle Vernetzung der gemeindlichen Arbeit im größeren kirchlichen Gestaltungsraum.


b) Aufgaben der Mitarbeitenden

Die Mitarbeitenden stellen den größten Schatz und die wichtigste Wachstumskraft der Kirche dar (s.o.). Viele Menschen bringen sich - haupt, neben wie ehrenamtlich - engagiert, zuverlässig und kompetent in die Arbeit der Gemeinden ein. Sie stellen sich den kirchlichen Herausforderungen und tragen durch ihren hohen persönlichen Einsatz im Großen wie im Kleinen dazu bei, dass die Kirche einladend, offen und menschenfreundlich die Aufgabe der Evangeliumsverkündigung versieht. Dem großen Engagement der kirchlichen Mitarbeitenden auf den verschiedenen kirchlichen Ebenen und Tätigkeitsfeldern ist es zu verdanken, dass die Gemeinden sich neu nach außen öffnen und die Kirche gegen den Trend wächst.

Zugleich zeigen sich bei der Situation der Mitarbeitenden in der Kirche aber auch Schwierigkeiten, die einer Wahrnehmung der missionarischen Chancen und Aufgaben im Wege stehen: Durch Finanzkürzungen, Stellenstreichungen und eine kurzfristige Abfolge von immer neuen Strukturreformen hat sich bei manchen Mitarbeitenden eine depressive Grundstimmung des kirchlichen Niedergangs verbreitet. Die Anforderungen und die allgemeine Arbeitsbelastung haben sich erhöht - oftmals verbunden mit dem subjektiven Gefühl, dass diese Mehrleistung nicht gewürdigt wird und jede Strukturveränderung nur zusätzliche Arbeit bringt. Negative kirchliche Entwicklungen empfinden Haupt wie Ehrenamtliche häufig als persönliches Versagen. Die Zusammenarbeit mit anderen Kollegen wird speziell von Pfarrerinnen und Pfarrern als eine der größten Frustrationen ihrer Arbeit bezeichnet. Es entstehen Spannungen zwischen Reformwilligen und Reformmüden wie Auseinandersetzungen darüber, ob und wie der Weg aus der Krise gelingen kann.
Für die weitere Entwicklung der Kirche in ländlichen Räumen wird es daher entscheidend sein, dass sich ein innerkirchlicher Mentalitätswechsel bei den Mitarbeitenden vollzieht - weg von der depressiven Grundstimmung hin zu einer hoffnungsvollen, zukunftsorientierten Aufbruchsstimmung. Die Grundlage und Basis eines solchen Mentalitätswechsels kann letztlich nur der Geist Gottes selbst sein, der tröstet, stärkt, erbaut und die Gewissheit gibt, dass der auferstandene Herr selbst im Reden und Handeln seiner Gemeinde vollmächtig gegenwärtig ist. „Denn Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“

Das Ziel der kirchlichen Arbeit besteht nicht in der Selbsterhaltung gewachsener kirchlicher Strukturen, sondern in der bestmöglichen Verkündigung des Evangeliums an alle Menschen. Die Mitarbeitenden verstehen ihr eigenes Handeln entsprechend als Auftragshandeln im Namen Jesu Christi, als Dienstleistung für andere. Mitgliederorientierung und Wendung nach außen gehören zu den Grundzügen allen kirchlichen Wirkens.

Ein solcher Mentalitätswechsel meint etwas anderes als ein positives Denken. Er ist ein verändertes Grundempfinden, das Kopf, Herz und Seele gleichermaßen erfasst und in der kirchlichen Praxis für andere spürbar ist. Er ist eine Form gelebten christlichen Glaubens unter den Bedingungen kirchlicher Arbeitsstrukturen. Er kann gelingen, wenn kirchliche Mitarbeitende hilfreiche Bedingungen und Unterstützung für ihre Arbeit erfahren - und wenn sie selbst durch ihre Einstellung zu solchen Strukturen beitragen.


c) Kirche als zentrale Entwicklungsträgerin ländlicher Räume

Die Kirche trägt mit ihrer Arbeit, mit ihren Institutionen und mit der von ihr verkündeten Botschaft wesentlich zur Entwicklung von ländlichen (wie städtischen) Räumen bei. Angesichts der massiven Veränderungsprozesse, die sich demographisch, sozial, ökonomisch und infrastrukturell in den verschiedenen ländlichen Räumen gegenwärtig vollziehen, wird diese gesellschaftliche Aufgabe und Bedeutung in Zukunft weiter anwachsen. Die Kirche ist insofern als eine zentrale Trägerin regionaler Entwicklung wahrzunehmen. Auch wenn sie selbst nicht die ökonomische, infrastrukturelle, soziale und demographische Entwicklung einer Region bestimmt, so leistet sie doch dazu einen wichtigen Beitrag.

Diese Einschätzung widerspricht (zumindest teilweise) der verbreiteten These eines gesellschaftlichen Relevanzverlustes der Kirche. Deshalb soll sie hier anhand einiger konkreter Beispiele plausibel gemacht werden. Zielpunkt der folgenden Ausführungen ist es, die Rolle der Kirche als zentraler Entwicklungsträgerin ländlicher Räume zunächst innerkirchlich neu wahrzunehmen und dann auch selbstbewusst nach außen zu kommunizieren. Dabei geht es nicht darum, in Zeiten kirchlicher Konzentrationsbemühungen weitere Aufgaben übernehmen zu wollen und sich dabei im Sinne einer „Allzuständigkeit“ strukturell zu überheben. Dies liefe den oben entfalteten Strategien geradezu entgegen. Vielmehr gilt es, die Bedeutung dessen, was die Kirche leistet - auch und gerade wenn sie ihre Arbeit stärker als früher fokussieren muss -, sich selbst und anderen neu bewusst zu machen. Dabei sind auch im Blick auf die Frage der Unterstützung kirchlicher Arbeit verschiedene der im Folgenden genannten Aspekte öffentlich stärker zu kommunizieren. Die Kooperation mit anderen entwicklungstragenden Organisationen und Vereinen ist stärker als bisher zu berücksichtigen.

Bürgerschaftliches Engagement
Angesichts des Abbaus sozialer Infrastruktur und der stärkeren Eigenverantwortlichkeit der Einzelnen stellt das bürgerschaftliche Engagement einen zentralen Faktor für die Gestaltung ländlicher Räume dar. In Zukunft werden noch mehr Aufgaben und Verantwortungen als bereits heute von den Kommunen und Kreisen nicht länger wahrgenommen bzw. erfüllt werden (können). Umso wichtiger wird das Potential ehrenamtlicher Mitarbeitender. Wie verschiedene kirchliche wie nichtkirchliche Untersuchungen zeigen, zeichnen sich Kirchenmitglieder - besonders solche mit hoher kirchlicher Bindung - durch eine starke Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement aus. Diese Motivation erstreckt sich dabei nicht allein auf die Kirche, sondern darüber hinaus auch auf andere soziale Bereiche. Viele hoch engagierte Menschen trifft man entsprechend innerhalb wie außerhalb der Kirche als soziale Leistungsträger wieder. Eine starke Kirchlichkeit der Bevölkerung bedeutet - auf Grund der multifaktoriellen Abhängigkeit sozialer Prozesse - zwar noch keine Garantie für eine positive gesellschaftliche Entwicklung, sie stellt jedoch einen wichtigen Entwicklungsvorteil dar. Die überdurchschnittliche Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement und zur Übernahme sozialer Verantwortung bei (stärker verbundenen) Kirchenmitgliedern spielt dabei auch in ökonomischer Hinsicht eine Rolle. Die soziale Überschaubarkeit ländlicher Räume und der Charakter ländlicher Gesellschaft als einer „Gesellschaft des SichKennens“ trägt zu einem höheren Potential bürgerschaftlichen Engagements bei.

Soziale Integration
Die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung wird sich - nach gegenwärtiger Einschätzung - u.a. durch folgende Tendenzen auszeichnen: 

  • durch einen stark veränderten demographischen Bevölkerungsaufbau mit einer deutlichen Zunahme des Anteils älterer Menschen und einem niedrigeren Anteil jüngerer Menschen;
  • durch eine weiter fortschreitende Pluralisierung von Lebensstilen und sozialen Milieus;
  • durch eine Zunahme räumlicher Mobilität (Umzüge, Berufs/Freizeitpendeln u.a.);
  • durch die Zunahme des Anteils von Menschen in prekärer Lebenssituation;
  • durch eine Steigerung der Zuwanderung von Menschen aus anderen Ländern (Migration).

Diese verschiedenen sozialen Entwicklungen haben gemeinsam, dass sie neue Mechanismen der Vergesellschaftung erfordern. Noch stärker als bisher wird es zur Förderung des sozialen Miteinanders darauf ankommen, dass Menschen verschiedenen Alters, verschiedener Schichten, differenzierter Milieus und unterschiedlicher kultureller bzw. religiöser Herkunft einander begegnen, dass sie lernen miteinander zu kommunizieren, umzugehen und miteinander zu leben. Dazu braucht es Orte generationsübergreifender, milieutranszendierender und kulturell vermittelnder Begegnung. Es bedarf kultureller Kompetenzen und gesellschaftlicher Kräfte, die Begegnung, Integration und Zusammenleben initiieren und fördern. Die christlichen Kirchen schaffen durch ihr diesbezügliches Handeln eine elementare Voraussetzung sozialer Entwicklung. Die Frage der sozialen Integration hat in den verschiedenen ländlichen Räumen je nach Bevölkerungszusammensetzung eine unterschiedliche Zuspitzung, sie spielt jedoch - entgegen der Vorstellung einer homogenen ländlichen Gesellschaft - in allen ländlichen Räumen eine wichtige Rolle, deren Bedeutung weiter zunehmen wird.

Bildungs und Kulturträgerin
Bildung wird gegenwärtig als einer der wichtigsten Faktoren sozialer wie ökonomischer Entwicklung eingeschätzt. Die verstärkten Bildungsbemühungen von Kommunen und Wirtschaftsverbänden finden speziell in den ländlichen Räumen bei den Kirchengemeinden verantwortungsvolle und nachhaltige Kooperationspartner. Das kirchliche Engagement reicht hier von lokalen Bildungseinrichtungen wie kirchlichen Kindergärten, Schulen, Aus und Fortbildungsstätten über die spezielle Bildungsarbeit in den Gemeinden für verschiedene Altersstufen und Zielgruppen bis hin zur allgemeinen Bildungsdimension allen kirchlichen Handelns. Die Kirchengebäude sind wesentliche Fixpunkte kultureller Identität im ländlichen Raum. In vielen Bereichen gerade in strukturschwächeren Regionen kommt der Kirche sogar ein Alleinstellungsmerkmal als Kulturträgerin zu. Eine zentrale Aufgabe und Verantwortung der Kirche liegt hier auch darin, das unaufgebbare religiöse Element aller Bildung wahrzunehmen und darzustellen und im Interesse eines unverkürzten Menschenbildes und einer entsprechend humanen Gesellschaft Humanität und Mitmenschlichkeit zu reklamieren. Ein exemplarisches Beispiel solcher Bildungsarbeit ist die kirchliche Kinder und Jugendarbeit einschließlich der Konfirmandenarbeit. Die Kinder und Jugendlichen lernen hier - speziell wenn sie sich selbst ehrenamtlich engagieren - wichtige soziale, kommunikative, emotionale und praktische Kompetenzen und schulen gleichzeitig ihr Reflexionsvermögen. Die ehrenamtliche Mitarbeit in diesen Bereichen wird mittlerweile auch bei Bewerbungen auf dem Ausbildungs und beruflichen Stellenmarkt zunehmend beachtet.

Diakonische Angebote
Die praktische Hilfe für und beratende Begleitung von Menschen in Nöten, Krisen und schwierigen Lebensphasen spielt gesellschaftlich eine zunehmende Rolle. Die sozialen wie familiären Sicherungssysteme verändern sich und erfassen viele Menschen nicht mehr. Ländliche Regionen mit hoher Arbeitslosenquote, starker Überalterung und schwacher Infrastruktur sind hier besonders betroffen. Durch den Wegzug der jüngeren Generation hat sich auch in den ländlichen Räumen das soziale Netz verändert. Die institutionelle Diakonie wie das nichtinstitutionalisierte diakonische Wirken der Kirchen erfüllen hier eine äußerst wichtige Aufgabe. Ihre Leistung besteht u.a. auch darin, neue Felder sozialer Verantwortung wahrzunehmen und in das gesellschaftliche Bewusstsein zu rücken. Beispiele sind dafür die Betreuung pflegender Angehöriger, die Arbeit der Dorfhelferinnen und Dorfhelfer, die landwirtschaftliche Familienberatung und der landwirtschaftliche Betriebshilfsdienst.

Familienfreundlichkeit
In verschiedenen Publikationen zur sozialen Entwicklung konkreter Regionen wird Familienfreundlichkeit als ein Schlüsselkriterium für die Zukunftsfähigkeit begriffen (s.o. Kap. 2). Gerade auch in ländlichen Regionen kommt dem Anteil der Familien an der Bevölkerung eine wichtige Funktion im Blick auf eine ausgewogene demographische Sozialstruktur zu. Die Kirche leistet durch institutionelle Einrichtungen (Kindergärten, MutterKindGruppen, Krabbel/KinderGottesdienste), durch Bildungsangebote für die verschiedenen Lebensphasen wie durch die rituellseelsorgliche Begleitung der Familien an wichtigen lebensgeschichtlichen Schwellen (z.B. Eheschließung, Geburt, Einschulung, Pubertät) einen zentralen Beitrag zur Familienfreundlichkeit einer Region. Kirchliche Gemeinden bieten speziell für junge Familien soziale Begegnungs und Integrationsmöglichkeiten. Die Kirche vertritt und fördert im gesellschaftlichen Diskurs auf Grund ihrer Botschaft die sozialen Belange von Familien. Die Religiosität von Menschen wirkt sich ihrerseits positiv auf das generative Verhalten aus, wodurch sich in bestimmten konfessionell geprägten Landstrichen ein höherer Anteil von Geburten und Familien feststellen lässt. Sieht man diese verschiedenen Aspekte zusammen, so erweist sich auch in dieser Hinsicht Kirche als Trägerin und Förderin regionaler Entwicklung.

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