Wenn Menschen sterben wollen - Eine Orientierungshilfe zum Problem der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung

Ein Beitrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD-Texte 97, 2008

3. Ethische Beurteilung

3.1 Grundsätzliche Überlegungen

Wenn Menschen an Suizid denken, hat dies Gründe, die in tiefe existentielle Dimensionen reichen. Das können akute Leiderfahrungen sein, wie sie mit einer schweren Krankheit verbunden sind. Es kann die Erschütterung durch eine tiefgreifende persönliche Krise sein, aus der jemand keinen Ausweg sieht. Oder es kann die Angst sein, einmal in eine Situation schweren Leidens zu geraten, für die ein Suizid als ein möglicher Ausweg erscheint. Für viele Menschen, die ein bewusstes und selbstbestimmtes Leben führen, ist die Vorstellung schwer erträglich, einmal in einen Zustand zu geraten, der mit dem Verlust jeglicher Selbstbestimmung und Selbstkontrolle verbunden ist und sie weitgehend oder vollständig von anderen abhängig macht.

Solche existentiellen Erschütterungen und Ängste entziehen sich moralischen Kategorien. Die Aufgabe einer ethischen Beurteilung von Suizid und Suizidbeihilfe kann daher nicht ausschließlich in moralischen Bewertungen als gut, schlecht, richtig, falsch, legitim oder verwerflich bestehen. Dies ist zu betonen, weil es in der öffentlichen Debatte eine Tendenz gibt, den assistierten Suizid vor allem als ein moralisches Problem zu betrachten. Das ist in einer Hinsicht verständlich, etwa vor dem Hintergrund gewisser moralisch fragwürdiger Praktiken von Sterbehilfeorganisationen. Doch derartige moralische Urteile verfehlen die existentielle Dimension, um die es bei der Problematik des Suizids und der Suizidbeihilfe geht. Wenn ein Mensch sein Leben beenden möchte und dafür andere um Hilfe bittet, dann ist dies für alle Beteiligten konfliktreich, spannungsvoll und belastend. In einer solchen Situation ist die Feststellung, dass dies moralisch legitim oder dass es moralisch falsch sei, abstrakt und wenig dienlich.

Im Blick auf die ethische Beurteilung ist zunächst der breite Konsens in Erinnerung zu rufen, den es über Weltanschauungsgrenzen hinweg in dieser Frage gibt und von dem in der Einleitung zu dieser Orientierungshilfe bereits die Rede war. Dieser betrifft einerseits den Respekt vor der Selbstbestimmung eines anderen. Dieser schließt den Respekt vor Entscheidungen und Handlungen eines Anderen ein, die wir selbst für falsch halten. Doch erschöpft sich der Konsens nicht darin. Das zeigt sich darin, dass wir es nicht einfach gleichgültig hinnehmen, wenn ein Mensch seinem Leben ein Ende machen will. Wir betrachten es als eine gesellschaftliche Aufgabe, Menschen mit Suizidgefährdung zu helfen und sie in bestimmten Fällen vor sich selbst zu schützen. Es werden erhebliche Anstrengungen zur Suizidprävention unternommen. Darin zeigt sich ein bestimmtes Verständnis davon, was menschliches Leben ist und sein soll, das über Weltanschauungsgrenzen hinweg geteilt wird. Und es zeigt sich darin ein Verständnis von einer gemeinsamen Aufgabe und insbesondere von der Aufgabe der Medizin, nämlich Menschen, soweit wie dies in unserer Macht steht, zum Leben zu helfen. Daher wird ein Suizid in der eigenen Umgebung in der Regel als ein Stück eigener Ohnmacht erlebt. Es ist der Gemeinschaft der Lebenden, der wir angehören, nicht gelungen, diesem Menschen das Leben lebenswert oder gar liebenswert zu erhalten. Es ist das Spannungsverhältnis zwischen dieser Vorstellung vom Leben und dem Respekt vor der Selbstbestimmung eines anderen, das den assistierten Suizid in der gesellschaftlichen Wahrnehmung so konfliktreich macht. Es müsste als problematisch erachtet werden, würde dieses Spannungsverhältnis einseitig zugunsten des Aspekts der Selbstbestimmung aufgelöst, so als ginge ein Suizid gewissermaßen „in Ordnung“, wenn die psychiatrische Abklärung ergeben hat, dass er freiverantwortlich und selbstbestimmt ist. Dies käme einer erheblichen Verschiebung in den gesellschaftlichen Wertvorstellungen gleich. In der Debatte über den assistierten Suizid kommt daher viel darauf an, dass dieses Spannungsverhältnis nicht aufgelöst wird. Es geht nicht nur um die Frage der Selbstbestimmung, sondern auch und sehr wesentlich um einen gesellschaftlichen Grundkonsens im Blick auf das Verständnis menschlichen Lebens, der insbesondere der Aufgabe der Medizin eingeschrieben ist. Daher bedürfen die Auswirkungen einer rechtlichen Ermöglichung der ärztlichen Suizidbeihilfe auf das Verständnis der Medizin und des ärztlichen Ethos einer besonders sorgfältigen Prüfung.

Kritisch ist in diesem Zusammenhang die Rede von einem „Recht“ oder gar „Menschenrecht“ auf assistierten Suizid zu beurteilen, die im Zusammenhang mit Bestrebungen steht, die Anerkennung eines solchen Rechtes auf europäischer Ebene durchzusetzen. Ein Menschenrecht auf assistierten Suizid wäre ein vorstaatliches, moralisches Recht, dessen Anerkennung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die staatliche Gesetzgebung und Rechtsprechung binden würde. Gemeint ist ein Abwehrrecht darauf, von niemandem, insbesondere nicht durch staatliche Gesetze, am assistierten Suizid gehindert zu werden. Begründet wird dieses vermeintliche Recht mit dem Recht, selbst bestimmen zu dürfen, wie man leben und sterben will. Dagegen lässt sich geltend machen, dass aus einem Recht auf Selbstbestimmung keineswegs ein Recht auf all das folgt, wozu Menschen sich selbst bestimmen können und wollen. Einem Recht, das jemand hat, korrespondiert eine Pflicht auf Seiten anderer, ihn nicht an dem zu hindern, worauf er ein Recht hat. Gäbe es ein Menschenrecht auf assistierten Suizid, dann dürften keine Anstrengungen unternommen werden, einen Suizidwilligen von seinem Vorhaben abzubringen, da er lediglich von dem ihm zustehenden Recht Gebrauch macht und dies einem Eingriff in sein Recht gleichkäme. Dagegen steht der besagte gesellschaftliche Konsens, dass es gilt, Suizide nach Möglichkeit zu verhindern. Mit der Rede von einem solchen Recht wird das Spannungsverhältnis zwischen gebotener Fürsorge und dem Respekt vor der Selbstbestimmung eines anderen einseitig nach dem zweiten Pol hin aufgelöst.

Kritisch ist in diesem Zusammenhang auch die Verbindung von Menschenwürde und Selbstbestimmung zu beurteilen, die in manchen Argumentationen zur Frage der Sterbehilfe hergestellt wird, so als sei ein der Menschenwürde entsprechendes Sterben gleichbedeutend mit einem selbstbestimmten Sterben. Denn dies würde bedeuten, dass nur Menschen, die zur Selbstbestimmung fähig sind, der Menschenwürde entsprechend sterben können. Bei Menschen mit schwerster Demenz und im Wachkoma könnte danach der Gesichtspunkt der Menschenwürde in Bezug auf ihr Sterben nur eine eingeschränkte oder gar keine Rolle spielen.

Existentielle Erschütterungen werfen Fragen der Deutung auf. Davon, wie Menschen dasjenige deuten, was ihnen widerfährt, hängt ab, wie sie darauf eingestellt sind. Deutungen können lähmend und freiheitshemmend sein, und sie können konstruktive Energien freisetzen für den Umgang mit dem Widerfahrenden. Im seelsorgerlichen Umgang mit solchen existentiellen Erfahrungen geht es darum, Menschen dabei zu helfen, dass sie diese in einer Weise für sich deuten und verarbeiten können, die es ihnen ermöglicht, sich darauf einzulassen und sie in das eigene Leben zu integrieren. Auch für den Umgang mit Krankheit und Sterben hängt Entscheidendes davon ab, in welchem Deutungshorizont ein Mensch dieses erlebt. Daran wird sich letztlich auch die Frage entscheiden, ob ein assistierter Suizid für ihn eine Option sein kann.

3.2 Individual- und sozialethische Perspektiven

Innerhalb der Ethik unterscheidet man zwischen individualethischen und sozialethischen bzw. institutionenethischen Fragen. Bei der Suizidbeihilfe geht es in individualethischer Perspektive um die Frage, ob einem Suizidwilligen Beihilfe bei dessen Selbsttötung geleistet werden sollte, sei dies generell oder bezogen auf einen konkreten Einzelfall. Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Suizidbeihilfe im Recht unter Straffreiheit gestellt werden sollte, ist demgegenüber eine institutionenethische Frage. Beide Fragen erfordern unterschiedliche Überlegungen. So kann jemand in individualethischer Perspektive der persönlichen Überzeugung sein, dass die Beihilfe zum Suizid keine mögliche Handlungsoption ist, und er kann gleichwohl aus Respekt vor dem Andersdenkenden dafür eintreten, dass jeder es damit halten können soll, wie er es für richtig hält, und dass folglich die Suizidbeihilfe rechtlich unter Straffreiheit gestellt werden sollte. Und es kann umgekehrt jemand in individualethischer Perspektive die Suizidbeihilfe im konkreten Einzelfall für vertretbar halten und gleichwohl gegen die rechtliche Liberalisierung der
Suizidbeihilfe votieren aufgrund der Auswirkungen und Folgen, die er für diesen Fall befürchtet. Dies zeigt, dass nicht unmittelbar von der individualethischen Beurteilung der Suizidbeihilfe auf deren rechtliche Regelung geschlossen werden kann. Diese wirft Fragen auf, bei denen noch andere Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssen, die bei der individualethischen Beurteilung keine Rolle spielen. Das betrifft grundlegende Fragen der Ordnung des Zusammenlebens in einem demokratischen Gemeinwesen.

3.2.1 Individualethische Beurteilung

Was die individualethische Beurteilung der Suizidbeihilfe betrifft, so haben die Vorbehalte, die viele Menschen diesbezüglich haben, ihren Grund in der überwiegend bis ausnahmslos negativen Beurteilung des Suizids, die über lange Zeit in der christlichen Theologie vorherrschte. Unter dem Einfluss vor allem von Aurelius Augustinus (354-430) und von Thomas von Aquin (1225-1274) hat die christliche Tradition den Suizid lange Zeit als Todsünde verworfen. Leitend war dabei vor allem der Gedanke, dass das Leben eine Gabe Gottes ist. Indem ein Mensch seinem Leben ein Ende macht, vergreift er sich gewissermaßen an dieser Gabe. Und dies ist dann seine letzte Handlung, für die er keine Möglichkeit der Reue oder Buße mehr hat. „Selbstmördern“ wurde daher die kirchliche Bestattung verweigert. Dies gehört zu den dunklen Kapiteln in der Geschichte der Kirchen. Die Aussage, dass Leben Gottes Gabe ist, wurde einseitig im Sinne des Verbots verstanden, selbstmächtig über das eigene Leben und dessen Ende zu verfügen. Anders verhält es sich, wenn diese Aussage im Sinne der Ermutigung verstanden wird, das eigene Leben als Gabe Gottes zu sehen und es in der Vielfalt der mit ihm verbundenen Erfahrungen so anzunehmen. Wird das Leben in diesem Sinne begriffen, dann heißt Führung des eigenen Lebens: sich führen lassen durch den, dem es sich verdankt. Das betrifft insbesondere Kontingenzerfahrungen, die dem eigenen Leben eine andere Richtung geben, wie z. B. der Verlust eines geliebten Menschen, die Geburt eines behinderten Kindes oder eine schwere Erkrankung. Sich führen zu lassen bedeutet hier: solche Erfahrungen nicht bloß als Störungen des eigenen Lebensentwurfs zu begreifen, sondern sie anzunehmen und nach Möglichkeit in das eigene Leben zu integrieren. Das ist etwas anderes als ein bloß passives Hinnehmen. Es nimmt dem Menschen die eigene Verantwortung für notwendig gewordene Entscheidungen nicht ab, sondern ist seinerseits ein Akt der Selbstbestimmung. Sich führen zu lassen schließt vielmehr ein, solche Verantwortung bewusst zu übernehmen und die Entscheidungen zu treffen, die die eingetretene Situation erfordert. Am Ende des Lebens kann dazu zum Beispiel der bewusste Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen gehören [34]

Kann dazu auch angesichts einer leidvollen, tödlichen Krankheit die Beendigung des eigenen Lebens durch Suizid gehören? Wer sein Leben so versteht, dass er sich darin führen lässt, für den wird sich hier die Frage stellen, ob dazu nicht auch das Annehmen einer solchen Krankheit gehört mit allem, was sie an Einschränkungen, Schmerzen, Leiden oder Belastungen für Dritte bedeutet. Die Beendigung des eigenen Lebens erscheint in dieser Sicht wie eine Abkehr von jener Grundeinstellung gegenüber dem Leben. Die Entstehung von Hospizen für Kranke und Sterbende ist wesentlich dadurch motiviert, Menschen zu helfen, sich auch in der letzten Phase ihres Lebens diese Einstellung bewahren und ihr Schicksal annehmen zu können. Damit wird kein Urteil gesprochen über diejenigen, die eine andere Einstellung zu Leben und Sterben haben. Das Evangelium wirbt dafür, dass Menschen sich durch es bestimmen lassen in der eigenen Lebensführung, aber es zwingt nicht und hindert sie nicht daran, ihr Leben anders zu begreifen und zu gestalten. Es beansprucht den Menschen in der Freiheit des eigenen Gewissens. Und man wird nicht die Augen verschließen dürfen davor, dass es verzweifelte Situationen und Lebenslagen gibt, die ein Außenstehender nicht ermessen kann. Auch wenn der unbedingt nötige Ausbau der Palliativmedizin vorangetrieben wird, können solche verzweifelten Lebenssituationen, in denen ein Mensch nur noch seinem Leben ein Ende machen möchte, nicht ausgeschlossen werden. Ein Urteil darüber steht niemandem zu.

Was bedeutet dies für die Suizidbeihilfe? Kann man Beihilfe zu einer Handlung leisten oder die Beihilfe Dritter zu einer Handlung befürworten, die man selbst aufgrund der eigenen Lebensauffassung für keine mögliche Option hält? Dies erscheint schwer vorstellbar, auch wenn man den Respekt einrechnet vor der Sicht, die ein anderer auf sein Leben hat und die man selbst nicht teilt. Wenn gesagt wurde, dass das Evangelium den Menschen in der Freiheit des eigenen Gewissens anspricht, dann schließt dies solchen Respekt gegenüber der Sicht anderer auf ihr Leben ein, noch dazu, wenn diese in Verbindung steht mit einer schweren, leidvollen Krankheit. Man wird dann aber auch zu respektieren haben, wenn ein anderer in solcher Lage zu der Entscheidung gelangt, sein Leben zu beenden, und wenn Dritte ihm dabei helfen, auch wenn man selbst dies nicht bejahen kann oder tun könnte. Wer Situationen schweren Leidens erlebt hat, der wird sich hier jedes Urteils enthalten. Und vielleicht weiß er auch um den tiefen Gewissenskonflikt, der in solchen Situationen aus der eindringlichen Bitte um Beistand bei der Beendigung des eigenen Lebens erwachsen kann. Ja, es mag Grenzfälle geben, in denen Menschen sich um eines anderen willen genötigt sehen können, etwas zu tun, das ihrer eigenen Überzeugung und Lebensauffassung entgegensteht.

3.2.2 Sozialethische Beurteilung

Was die sozialethische Beurteilung im Hinblick auf die Gestaltung des Rechts in dieser Frage betrifft, so ist zu berücksichtigen, dass das Recht für alle Bürgerinnen und Bürger gilt. In einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft können daher für die Gestaltung des Rechts nicht allein die religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen lediglich eines Teils der Bürgerinnen und Bürger maßgebend sein. Denn dies würde bedeuten, dass alle anderen mit Rechtszwang Normen unterworfen würden, die ihre Begründung in Überzeugungen haben, die sie selbst nicht teilen. Dies mutet allen die Bereitschaft zu, bei der Gestaltung des Rechts solche Lösungen zu suchen, mit denen auch Andersdenkende leben können. Dass es solche Lösungen nicht immer und vielleicht nur in den selteneren Fällen gibt, ändert nichts an der Notwendigkeit dieser prinzipiellen Bereitschaft zur Verständigung, bei der in jedem Fall die Würde, das Wohl und das Recht des Anderen zu achten sind.

Wie ausgeführt, spielen bei der institutionenethischen Frage noch andere Gesichtspunkte eine Rolle als bei der individualethischen Beurteilung. Daher gilt es hier, nach Möglichkeit eine Verständigung zu suchen über unterschiedliche individualethische Einschätzungen hinweg. Zu bedenken sind hier die Auswirkungen im gesellschaftlichen, politischen und ärztlichen Bereich, die die gegenwärtig diskutierten Vorschläge zur Änderung der Rechtslage hätten. Zu unterscheiden ist hier zwischen a) Vorschlägen, die auf eine Einschränkung der Garantenpflicht des Arztes, d. h. seiner Pflicht zum Einschreiten mit dem Ziel der Abwendung des Suizids abzielen und b) Vorschlägen, die die Zulässigkeit der ärztlichen Suizidbeihilfe (im Sinne der aktiven Mithilfe beim Suizid, z. B. durch die Verschreibung des todbringenden Medikaments) ausdrücklich im Recht verankern möchten. Hinzu kommt c) ein Gesetzesvorschlag, der auf ein Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe abzielt.

a) Was die Einschränkung der Garantenpflicht des Arztes im Falle eines freiverantwortlichen Suizids betrifft, so erscheint es in der Tat widersprüchlich, dass nach geltender Rechtslage ein Arzt sich nicht strafbar macht, wenn er einem Suizidwilligen ein tödliches Mittel besorgt, sich aber strafbar macht, wenn er bei dessen Selbsttötung nicht einschreitet, sobald das Mittel zu wirken beginnt. Zugunsten der Einschränkung der ärztlichen Garantenpflicht wird geltend gemacht, dass dies der Respekt vor der Selbstbestimmung Suizidwilliger gebietet. Im Bereich der Medizinethik wird der Selbstbestimmung ein hoher Stellenwert zuerkannt. Hier geht es um die Frage, wer bestimmen soll, ob eine medizinische Behandlung vorgenommen werden soll: man selbst oder andere. Dieser negative Begriff von Selbstbestimmung, der sich darauf bezieht, dass nicht andere bestimmen sollen, ist von einem starken Begriff von Selbstbestimmung im Sinne eines Selbstbestimmen-Könnens zu unterscheiden, für den in der medizinethischen Literatur der Begriff der Einwilligungsfähigkeit verwendet wird. Es herrscht Konsens, dass ein Arzt einen Behandlungsverzicht seitens eines einwilligungsfähigen Patienten zu respektieren hat, auch wenn dies zu dessen Tod führt. Die Pflicht, Leben zu erhalten, hat hier zurückzustehen hinter der Pflicht, die Selbstbestimmung zu respektieren. Diesem Fall scheint der Suizid einer einwilligungsfähigen Person, die an einer schweren Krankheit leidet, vergleichbar. Daher hatte der Nationale Ethikrat in Deutschland gefordert, dass ein Arzt, der in einem solchen Fall nicht eingreift, straffrei bleibt.

Die Vorschläge zur Einschränkung der ärztlichen Garantenpflicht, also der Pflicht zur Abwendung eines Suizids unterscheiden freilich nicht danach, ob es sich um einen schwer erkrankten, körperlich schwer leidenden Patienten handelt oder um einen Suizidenten, der seinem Leben aus anderen Gründen eine Ende machen will. Die Vorschläge sehen überwiegend die Einschränkung der ärztlichen Garantenpflicht generell bei Suizidversuchen von urteilsfähigen Personen vor. Hier ergeben sich Spannungen zur ärztlichen Pflicht, Leben zu erhalten. Wie die Suizidforschung gezeigt hat, sind die meisten Suizidversuche, die Suizidenten überlebt haben, einmalige Ereignisse in deren Leben geblieben, und sie haben keine weiteren Suizidversuche unternommen. Es ist für den Arzt kaum zu beurteilen, ob das Suizidvorhaben unter die Kategorie des „freiverantwortlichen“ Suizids gehört, selbst wenn das Vorhaben noch so bestimmt und ernsthaft bekundet wird. Die Respektierung der Selbstbestimmung kann hier zur Folge haben, dass ein Mensch z. B. aufgrund einer momentanen persönlichen Krise stirbt, der, wenn er gerettet würde, ein Leben führen könnte, das er selbst wert schätzt. Das Gebot, die Selbstbestimmung zu respektieren, gerät hier in Konflikt mit der ärztlichen Pflicht, Leben zu erhalten. Hier muss aus ethischer Sicht letztere Pflicht den Vorrang haben.

Weitergehend ist der Vorschlag b), die Möglichkeit der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen ausdrücklich im Recht zu verankern. Einerseits würde damit Rechtssicherheit für die ärztliche Suizidbeihilfe im Einzelfall geschaffen. Andererseits würde damit freilich auf der Ebene des Rechts eine Situation geschaffen, die einem Eingriff in den Bereich des ärztlichen Ethos und des Verständnisses des ärztlichen Berufes gleichkäme. Eine solche Rechtsbestimmung ginge insofern über die Schweizer Rechtslage hinaus, als diese die ärztliche Suizidbeihilfe nicht explizit erwähnt. Wie ausgeführt, lässt dies dort die Möglichkeit offen, die ärztliche Suizidbeihilfe ausdrücklich nicht als Teil der ärztlichen Tätigkeit zu begreifen, sondern die Aufgabe des Arztes auf Heilung, Linderung und Begleitung zu beschränken, ohne dass damit kategorisch ausgeschlossen wird, dass ein Arzt mit Ausnahmesituationen konfrontiert sein kann, die er auf seine persönliche Verantwortung nehmen muss, ohne durch die Regeln seines Berufes gedeckt zu sein. Man wird im Blick auf die vorgeschlagene Verankerung der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung im Recht deren symbolische Wirkung nicht außer Acht lassen dürfen. Damit wird eine Verbindung hergestellt zwischen Arztberuf und Beihilfe zur Selbsttötung, und dies wird nicht ohne Auswirkungen auf das allgemeine Verständnis des ärztlichen Berufs bleiben. Ein solcher Eingriff auf der Ebene des Rechtes in den Bereich des ärztlichen Ethos und des Verständnisses des ärztlichen Berufes wiegt umso schwerer, als die Ärzteschaft selbst, folgt man den Verlautbarungen ihrer offiziellen Vertretungen, die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung bislang kategorisch ablehnt. In der Begründung zum Alternativ-Entwurf „Sterbebegleitung“ des Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schweizerischer Juristen ist eine solche Einwirkung des Rechts auf das ärztliche Ethos auch ausdrücklich vorgesehen: „Es ist zu erwarten, dass dann [Anm.: d. h. nach Erlass des Gesetzes, das den ärztlich assistierten Suizid ausdrücklich zulässt] auch die Bundesärztekammer ihre Grundsätze dem Gesetz anpasst und dass die Berufsordnungen der Landesärztekammern entsprechend geändert werden.“ [35] Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass sich in dem geltenden Verständnis des ärztlichen Berufs ein gesellschaftlicher Grundkonsens bezüglich des Verständnisses menschlichen Lebens niederschlägt, wonach es gilt, Menschen nach Möglichkeit zum Leben zu helfen. Mit der Aufnahme der ärztlichen Suizidbeihilfe ins Recht würde das Spannungsverhältnis zwischen diesem der Medizin eingeschriebenen Verständnis des Lebens und dem Wunsch von Menschen, mit ärztlichem Beistand ihr Leben zu beenden, einseitig zugunsten von Letzterem aufgelöst.

Aus diesem Grund ist gegenüber einer Verankerung der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung als allgemeiner rechtlicher Regel Ablehnung geboten. Es zeigt sich hier ein Problem, das innerhalb der Ethik auch aus anderen Bereichen bekannt ist. Es kann Einzelfälle geben, die sich nicht unter allgemeine Regeln fassen lassen und in denen entsprechende Entscheidungen mit einer Übertretung geltender Regeln verbunden sind, die nur persönlich verantwortet werden kann. Das kann auch für das ärztliche Handeln nicht ausgeschlossen werden. In der ethischen Tradition hat man dies mit dem Begriff der Epikie, der Einzelfallgerechtigkeit, bezeichnet. Würde man für solche Fälle allgemeine Regeln aufstellen, so hätte dies gravierende Folgen für das ethische Bewusstsein insgesamt, da dadurch der Ausnahmefall zum Regelfall gemacht würde. Insofern geht es bei der Suche nach einem angemessenen ethischen und rechtlichen Umgang mit der Suizidbeihilfe im ärztlichen Bereich um eine schwierige Gratwanderung, bei der der Situation der Betroffenen und der Gewissensentscheidung von Ärztinnen und Ärzten im Einzelfall ebenso Rechnung getragen werden muss wie den Aspekten des ärztlichen Ethos und des Arztbildes. Die Verankerung sowohl der unter a) diskutierten Einschränkung der Garantenpflicht im Blick auf gesunde Personen als auch der unter b) diskutierten Möglichkeit der ärztlichen Suizidbeihilfe im Recht würde hier die Gewichte in Richtung auf eine tiefgreifende Veränderung des allgemeinen Verständnisses des ärztlichen Berufes verschieben. Dessen Aufgabe wären dann nicht nur Heilung, Linderung und Begleitung, sondern auch die Beihilfe zur Beendigung des Lebens. Sie würde darüber hinaus eine gesellschaftliche Signalwirkung haben, die den assistierten Suizid in die Nähe einer „normalen“ Option am Lebensende rückt. Für diesen Fall ist nicht auszuschließen, dass daraus ein Druck entsteht, diese Option zu wählen, z. B. um Dritten die Belastungen zu ersparen, die durch eine langwierige Pflege bei einer schweren Erkrankung entstehen können.

Die Strafrechtsprechung hat in schwerwiegenden Konfliktlagen, in denen es um die Beendigung schwerster, mit medizinischen Mitteln nicht mehr behandelbarer körperlicher Leidenszustände ging und der Arzt deshalb Hilfe beim freiverantwortlichen Suizid geleistet oder keinen Versuch zur Abwendung des Todes gemacht hat, Straffreiheit zumindest unter dem Gesichtspunkt des Notstandsrechts angenommen. Insoweit besteht bereits ein Handlungsspielraum. Hier kommt es aber auf die konkrete verantwortliche Abwägung und die besonderen Umstände in jedem Einzelfall an. Der Arzt behält seine große Verantwortung und muss damit rechnen, sich dafür unter Umständen rechtlich verantworten zu müssen. Eine darüber hinausgehende gesetzliche Regelung braucht es nicht.

Der oben unter c) angeführte Gesetzesvorschlag, der auf das Verbot der geschäftsmäßigen Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung und damit auf ein Verbot der Tätigkeit von Sterbehilfeorganisationen abzielt, verdient hingegen uneingeschränkte Unterstützung. Denn es gilt, einer Situation vorzubeugen, die die Entstehung von Sterbehilfeorganisationen nach Schweizer Muster begünstigt. Mit dem Erscheinen von Sterbehilfeorganisationen hat sich das Spektrum der Diskussion um die Beihilfe zum Suizid erweitert. Beihilfe zum Suizid wird dann nicht mehr nur im individuellen Einzelfall geleistet, sondern sie wird zum Dienstleistungsangebot, das von jedermann gegen Geld in Anspruch genommen und „gekauft“ werden kann. Beihilfe zum Suizid wird Teil des Marktgeschehens, auch wenn über Vereinskonstruktionen und über die Verrechnung von Einnahmen als Verwaltungskosten eine eventuelle Gewinnerzielungsabsicht verschleiert werden kann. Die Verweigerung der ärztlichen Beihilfe reicht zur Gegensteuerung allein nicht mehr aus, wie die Fälle organisierter Selbsttötungen durch Helium unlängst zeigten. Die Sterbehilfeorganisationen müssten zudem einer effektiven Kontrolle unterstellt werden, um Missbräuche zu verhindern. Die Politik könnte damit wie in der Schweiz unter Druck geraten, die Praxis der Sterbehilfeorganisationen mit weitergehenden Bestimmungen gesetzlich zu regeln, etwa, was die Suizidbeihilfe bei psychisch Kranken oder bei Kindern und Jugendlichen betrifft. Es würde sich damit in ähnlicher Weise das Problem einer staatlichen Zertifizierung und Legitimierung solcher Organisationen stellen. Die Zulassung solcher Organisationen zu Pflegeheimen und Akutkrankenhäusern müsste geregelt werden. Aus allen diesen Gründen sollte das Recht in dieser Hinsicht so restriktiv wie möglich ausgestaltet werden.

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