Das Evangelium unter die Leute bringen

I. Einführung

I.1 Die Zukunft des Glaubens

(1) „Alle Bemühungen um den missionarischen Auftrag fangen damit an, zu erkennen und zu beschreiben, wie schön, notwendig und wohltuend die christliche Botschaft ist. Sie zielt auf die Antwort des Glaubens.“ (Kundgebung der Synode der EKD 1999, s. u. S. 41) Die Kirche ist evangelisierend tätig, damit diese Erkenntnis weite Verbreitung findet und die Antwort des Glaubens weiterhin gegeben wird. Sie trägt Verantwortung dafür, dass der Glaube auch in Zukunft lebendig bleiben kann.

(2) Christen bekennen Jesus Christus als Herrn der Welt und ihres eigenen Lebens. Dieses Bekenntnis führt sie notwendig zur Evangelisation und zur Mission. Denn nur so entspricht ihr Bekenntnis dem universalen Heilswillen Gottes. Dabei ist – wie oft in der Geschichte der Kirche, in der gegenwärtigen Umbruchsituation zumal – eine neue Verständigung über die Begriffe Mission und Evangelisation nötig. Denn um der Zukunft des Glaubens und des Heils der Menschen willen muss der in Jesus Christus offenbare Heilswille Gottes werbend und lebensfördernd zur Sprache gebracht und bezeugt werden. Die Perspektive, die sich bei dem Thema Evangelisation eröffnet, ist darum eine Perspektive für die Gesamttätigkeit der Kirche. „Es hat eine Zeit gegeben, in der es den Anschein haben konnte, als sei die missionarische Orientierung das Markenzeichen nur einer einzelnen Strömung in unserer Kirche. Heute sagen wir gemeinsam: Weitergabe des Glaubens und Wachstum der Gemeinden sind unsere vordringliche Aufgabe, an dieser Stelle müssen die Kräfte konzentriert werden.“ So lautet ein Schlüsselsatz der Kundgebung, die die Synode der EKD 1999 verabschiedet hat, und die im Anhang der vorliegenden Schrift im vollen Wortlaut abgedruckt ist (s. u. S. 42).

(3) Die Zukunft des Glaubens beschäftigt die Glaubenden selbst. Sie erleben in ihren eigenen Familien und Gemeinden, wie der Umbruch der Zeiten auch die Weitergabe des Glaubens, sein Verständnis und seine Ausdrucksformen beeinflusst. Viele nehmen Aufbrüche des Glaubens in den Kirchen anderer Regionen dieser Welt wahr und fragen, ob die Zukunft des Glaubens in Deutschland verschlossen sei. Die Zukunft des christlichen Glaubens beschäftigt aber auch – teilweise unausgesprochen – Menschen, die sich nicht zur Gemeinschaft der Glaubenden halten. Sie fragen, welche Kräfte und welchen Beitrag zur Gestaltung der Zukunft unserer Gesellschaft aus der biblischen Botschaft zu erwarten sind.

(4) Über Theorie und Praxis von Mission und Evangelisation wird zur Zeit viel nachgedacht. Eine Fülle von kirchlichen Publikationen, Tagungen und Konferenzen zeigt das. Die Synode der EKD vom November 1999 in Leipzig ist nur ein besonders herausragendes Beispiel dafür. Jetzt gilt es aber, die Chance zu nutzen und sowohl in der theologischen Besinnung wie in praktischen Handlungsempfehlungen Struktur und Kontinuität zu gewinnen. Darauf hebt diese Schrift ab. Die Absicht ist, eine Verantwortungsgemeinschaft für die Weitergabe des Glaubens an Jesus Christus zu begründen. Sie soll verschiedene Gruppen in unserer Kirche umfassen, Haupt- und Ehrenamtliche, evangelistisch Engagierte und Zurückhaltende, unermüdliche und ermüdete Christinnen und Christen.

(5) Die Idee von der Verantwortungsgemeinschaft für die Zukunft des Glaubens in unserem Land trägt eine große Hoffnung in sich: Das gemeinsame Ziel kann verschiedene und unterschiedliche Positionen und Formen kirchlicher Arbeit einen. Sie sollen nicht nivelliert und dadurch harmlos gemacht werden. Im Gegenteil. Die besonderen Profile, Erfahrungen, Erkenntnisse und Interessen werden in ihrer jeweiligen Eigenart gebraucht. Alle sind nötig, wenn es um die Zukunft des Glaubens geht. Aber wenn sie von der Idee der Verantwortungsgemeinschaft ergriffen werden, stehen sie nicht länger nebeneinander oder gar gegeneinander. Sie brauchen sich vielmehr wechselseitig, stützen sich gegenseitig und ergänzen sich. Das Ziel eint sie, auch wenn ihre Ausgangspunkte verschieden sind.

I.2 Die Zukunft der Kirche

(6) Mit der Frage nach der Zukunft des Glaubens ist auch die Frage nach der Zukunft der Kirche aufgebrochen. Die Kirche als Institution muss deshalb mit in die Überlegungen einbezogen werden, zumal in den jüngsten Diskussionen und Veröffentlichungen über die Zukunft der Kirche auch die Leitworte Mission und Evangelisation wieder prominent geworden sind.

(7) Es gibt gute Gründe dafür, dass die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Kirche neu aufgebrochen ist. Viele Menschen haben ein Gespür dafür bekommen, dass wir uns in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs befinden, der sich auf alle Lebensgebiete auswirkt. Die Jahrtausendwende wurde als symbolisches Datum erlebt, das dieses Gefühl für kurze Zeit emotional verdichtet hat. Sowohl im alltäglichen Umgang der Menschen miteinander wie in den Wissenschaften werden alle Institutionen danach befragt, wie sie sich auf die Zukunft einstellen und welche Leistungen künftig von ihnen zu erwarten sind. Diese Fragen werden auch an die Kirche gerichtet.

(8) Innerhalb der Kirche ist die Frage nach ihrer Zukunft hauptsächlich aus Verunsicherung über die Entkirchlichung in unserer Gesellschaft und über die Privatisierung des Glaubens entstanden. Hinzu kommen Diskussionen über die Gestalt der Kirche und über ihre Arbeitsformen. Veränderungen sind nötig, wenn im Wandel der Zeit der Auftrag bewahrt und zeitgerecht wahrgenommen werden soll. Die Kirche hat sich neu ihrer Identität und ihres Auftrags zu vergewissern.

(9) Das Nachdenken über Auftrag, Lebensgestalt und Arbeitsformen der Kirche muss sich an den Stichworten Mission und Evangelisation orientieren. Dabei soll nicht ein zusätzliches Aktionsprogramm ausgerufen, ein Kirchenbild der Vergangenheit aufgefrischt oder ein bestimmtes kirchliches Milieu favorisiert werden. Vielmehr sollen die Begriffe Mission und Evangelisation an den Grundauftrag der Kirche erinnern, das Evangelium einladend zu den Leuten zu bringen. Wird Evangelisation erst einmal als der Vorgang verstanden, in dem das Evangelium den Menschen einladend nahegebracht wird, dann ist deutlich, dass damit eine Konzentration auf den Grundauftrag der Kirche gemeint ist.

(10) Nur aus dieser Konzentration heraus kann sachgerecht und aussichtsreich über die Zukunft der Kirche nachgedacht werden. Eine Kirche, zu der Menschen neu hinzukommen, verändert sich. Eine Kirche, die sich nicht verändert, wird kaum neue Menschen für das Evangelium gewinnen können. Kommen Menschen zum Glauben, müssen sie zumindest die Chance bekommen, ihre bisherigen Vorbehalte gegen den Glauben und gegen die Kirche so zur Sprache zu bringen, dass die Kirche daraus lernt und nötige Veränderungen erkennt. Insofern gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen der Frage nach der Zukunft des Glaubens und der Frage nach der Zukunft der Kirche. Die Stichworte Mission und Evangelisation markieren diesen Zusammenhang. In dieser Perspektive öffnet sich der Blick für viele Entwicklungsmöglichkeiten, die die Kirche für die Zukunft lebendig machen. In dieser Perspektive gehören die evangelistischen Tätigkeiten der Kirche und die Werbung für die Kirchenmitgliedschaft und deren Pflege zusammen.

I.3 Das Ziel der Veröffentlichung

(11) Zu allen Zeiten musste die Kirche zwischen dem einen Auftrag und verschiedenartigen Formen der Auftragserfüllung unterscheiden. Der Auftrag steht fest. „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Mt 28,18 – 20). Dieser Auftrag ist unwandelbar, invariant. Die Formen der Auftragserfüllung hingegen sind wandlungsfähig und wandlungsbedürftig, variabel. Sie müssen sich auf das Leben der Menschen der jeweiligen Zeit beziehen und ihnen entsprechen.

(12) Die Situation, in der der Auftrag wahrgenommen werden soll, ist möglichst genau zu erfassen (Kapitel II). Sie ist zur Zeit vor allem dadurch bestimmt, dass ein populäres Verständnis von Toleranz dem christlichen Missionsauftrag entgegen steht und dass die sozialen Leistungen wie auch das ethische Versagen der Kirchen mehr Aufmerksamkeit zu beanspruchen scheinen als die Verkündigung der biblischen Botschaft. Eine vom Auftrag her bestimmte Deutung der Situation kann davor bewahren, die Situation nur oberflächlich negativ wahrzunehmen. Je mehr man sich aber auf die Verhältnisse einer Zeit einlässt, desto größer ist die Gefahr, das Evangelium einfach an die Erwartungen und die Bedürfnisse der Menschen anzupassen. Deshalb ist es nötig, grundsätzlich nach Ursprung und Auftrag der Kirche in Mission und Evangelisation zu fragen (Kapitel III). Bei der Präzisierung der evangelistisch-missionarischen Aufgabe ist über das Verhältnis von Glaube und Taufe ebenso nachzudenken wie über das Verhältnis von persönlichem Glauben und der Gemeinschaft der Glaubenden. Das macht Überlegungen zu Evangelisation, Taufe und Gemeindeaufbau erforderlich (Kapitel IV).

(13) Die Absicht, eine Verantwortungsgemeinschaft für die Weitergabe des Glaubens zu begründen, trifft in der aktuellen Situation auf vielfältige evangelistische Engagements. In ihnen drückt sich eine hohe Bereitschaft aus, für die Weitergabe des Glaubens zu sorgen. Sie wollen andere zu ähnlichen Engagements animieren. Sie tragen manchmal auch Unruhe in die Kirchen und in die Gemeinden, was für diese Anlass sein muss, über eigene Defizite nachzudenken. Sie können aber in den Gemeinden auch ein Gefühl der Überforderung auslösen. Darum ist es nötig, darüber nachzudenken, wer was wann und wie tun soll (Kapitel V). Damit wird zugleich ernst genommen, dass in einer vielfältig aufgegliederten Gesellschaft ebenso vielfältige Engagements zur Weitergabe des Evangeliums erforderlich sind. Die grundlegenden Überlegungen und die praktischen Hinweise laufen auf Empfehlungen hinaus, die eine evangelistische Profilierung der Gesamttätigkeit der Kirche absichern wollen (Kapitel VI).

(14) Das Nachdenken über den Auftrag zur Evangelisation und die praktischen Bemühungen um diese stehen unter der Verheißung, dass Christus selbst seine Sache heraufführt. Unter dieser Verheißung ist keine Anstrengung zur Weitergabe des Glaubens vergeblich. Unter dieser Verheißung ist der evangelistische Auftrag ein Auftrag, der die Kirche in die Freiheit führt. Denn: „Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“ (Barmer Theologische Erklärung Artikel VI).

I.4 Die Adressaten der Veröffentlichung

(15) Der Absicht der vorliegenden Schrift entspricht es, dass sie sich in erster Linie an einen innerkirchlichen Adressatenkreis wendet: Kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – hauptamtliche ebenso wie ehrenamtliche, Mitglieder kirchenleitender Gremien – von den Kirchenvorständen bis zu den Synoden mit ihren verschiedenen Ausschüssen, Lehrende in den Ausbildungseinrichtungen, die kirchliche Publizistik. Die Schrift setzt also eine gewisse Vertrautheit mit der kirchlichen Situation und der theologischen Argumentation voraus und sieht es nicht als ihre Aufgabe an, elementare Einführungen in die behandelten Sachverhalte zu geben. Sie hat den Charakter einer Handreichung und Anleitung für das evangelistisch-missionarische Handeln der evangelischen Kirche.

(16) Die vorliegende Schrift versucht, Hoffnungen und Befürchtungen bei kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufzunehmen, die mit der neuen Wertschätzung von Mission und Evangelisation aufgekommen sind. Die Hoffnungen zielen darauf ab, dass eine konsequente Ausrichtung des kirchlichen Lebens auf die Werbung für den Glauben die Kirche von vielen selbstquälerischen und lähmenden Diskussionen befreien kann. Diese Hoffnung soll gestärkt werden. Die Befürchtungen gehen dahin, dass neue Anforderungen auf eine schon überforderte Mitarbeiterschaft zukommen und ein bestimmtes kirchliches Milieu normgebend präferiert werden soll. Die grundsätzlichen Überlegungen und die praktischen Erwägungen sollen diese Befürchtungen als unbegründet erweisen.

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