Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen

Ein gemeinsames Wort zum Jahr 2017, GT 24, Hg. DBK und EKD, September 2016

2. Ökumene heute – Rückblick und Ausblick

2017 ist die erste Gedächtnisfeier der Reformation im Zeitalter der Ökumene. Die Heilung der Erinnerungen, die dem gemeinsamen Christuszeugnis dient, ist die Frucht intensiver
ökumenischer Dialoge, deren wichtigste Etappen wir kurz beschreiben wollen, um die Basis sichtbar zu machen, auf der wir heute stehen. 2017 steht aber im Zeichen einer nach wie vor bestehenden Kirchentrennung. Deshalb können nicht nur die ökumenischen Anstrengungen, es müssen auch die wichtigsten offenen Fragen und Aufgaben benannt werden, die in der Vorbereitung auf 2017 zu berücksichtigen sind.

2.1. Die ökumenische Bewegung

Über Jahrhunderte hinweg war das Verhältnis zwischen evangelischen und römisch-katholischen Christinnen und Christen von tiefgreifenden Vorbehalten bestimmt, die vom zäh sitzenden Ressentiment bis hin zur unverhüllten Feindseligkeit reichten. Selbst dort, wo die getrennten Glaubensgeschwister mehr oder weniger freiwillig ein und dasselbe Kirchengebäude benutzten, blieben sie in der Regel durch dicke Mauern voneinander getrennt und befürworteten das auch. Es waren zunächst nur einzelne, die nach dem Scheitern der Religionsgespräche des 16. Jahrhunderts wieder Annäherung und Verständigung suchten - zum Beispiel der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz, der von 1679 bis 1702 im Auftrag des Hannoverschen Hofes offizielle Verhandlungen zur Reunion der christlichen Kirchen führte, nachdem der Dreißigjährige Krieg bei Vertretern beider Konfessionen die Aufmerksamkeit für die Wiederannäherung der verfeindeten Konfessionen geweckt hatte. Leibniz hatte eine Union von Teilkirchen vor Augen, die im Kultus durchaus unterschiedlich blieben und sich moderat an den Aussagen der Confessio Augustana orientierten, wobei er auch die orthodoxen Kirchen einbeziehen wollte. Sein Vorhaben kam über den Stand von Verhandlungen nicht hinaus.

Zugleich lockerten und relativierten sich im Laufe des 18. Jahrhunderts bei den Gebildeten die konfessionellen Gegensätze. Die Auffassung, dass die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Einzelnen als ein hohes Gut zu betrachten seien, das dem Frieden im Lande diene, während die Intoleranz nur Unfrieden stifte, breitete sich in vielen Teilen Europas aus. Sie stieß da und dort auch auf massiven Widerstand, weil die Gegner der Religionstoleranz befürchteten, die Wahrheit der christlichen Lehre könne verloren gehen und die kirchliche Autorität würde Einbußen erleiden. Dennoch ließ sich die Entwicklung zur allgemeinen Anerkennung von Glaubensund Gewissensfreiheit nicht aufhalten. Zwar ist zwischen den früheren Entwicklungen und den heutigen Menschenrechten auf Religions- und Gewissensfreiheit zu unterscheiden. Aber es hat hoffnungsvolle, zu ihrer Zeit wegweisende Ansätze gegeben, Religionsfrieden zu stiften. Die Vereinbarungen des Westfalischen Friedens von 1648 gewährten dem Hausvater - wenigstens theoretisch - das Recht, in seinem Haus eine religio privata zu pflegen, die von der öffentlichen Religionsausübung abwich. 150 Jahre später ist Toleranz gegenüber Andersglaubenden ein anerkannter Grundsatz der allgemeinen Rechtsentwicklung. Die amerikanische Bill of Rights of Virginia (1776) garantiert in Artikel 1, dass der Kongress weder eine Staatsreligion aufbaut noch die freie Religionsausübung per Gesetz untersagt; neben der Religionsfreiheit werden auch Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit garantiert. In den modernen Demokratien sind diese und ähnliche Regelungen fest verankert, auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

Mit der Rechtsentwicklung wurden allerdings zunächst nur die äußeren Rahmenbedingungen des Zusammenlebens verbessert. Sie sagen noch nichts über den Wandel der theologischen Auffassungen und der konfessionellen Mentalitäten. Hier waren und sind vor allem die Kirchen gefragt. Toleranz ist gut; aber im strengen Sinne wird nur das toleriert, was man eigentlich verneint. Das, was man bejahen kann, braucht man nicht zu tolerieren. Insofern stellt der - nur zu begrüßende - Respekt vor der Gewissensfreiheit des Anderen lediglich den wichtigen ersten Schritt dar. Entfremdung und Abneigung sind damit noch nicht überwunden. Hier hat erst das 20. Jahrhundert für eine tiefgreifende Veränderung gesorgt, denn nun erkannte man, dass man die theologische Verständigung suchen und miteinander reden muss.

Annäherungen werden möglich, wenn man mit Respekt und Hörbereitschaft aufeinander zugeht. Dann kann sich auch Vertrauen entwickeln. Das vollzog sich langsam, nicht überall gleichzeitig und mit gleicher Intensität, aber auch nicht ohne Rückschritte und Enttäuschungen; doch es vollzog sich so, dass Christinnen und Christen aus vielen Konfessionen heute gemeinsam Wortgottesdienste und Taufgedächtnis feiern, weithin den gleichen Wortlaut des Credos und des Vater Unser beten, einen kontinuierlich wachsenden Schatz ihres Liedguts und ihrer spirituellen Texte teilen, gemeinsam diakonisch handeln, ökumenische Kirchentage organisieren bzw. ihre eigenen Kirchentage ökumenisch gestalten und von der tiefen Sehnsucht einer Vereinigung am Tisch des Herrn erfüllt sind. Diejenigen, die noch vor einem Jahrhundert dazu neigten, sich gegenseitig den richtigen Glauben oder gar das Christsein abzusprechen, sehen sich heute auf die eine, unwiederholbare Taufe auf den Namen des dreieinigen Gottes gegründet, deren Vollzug sie jeweils beim anderen als gültig anerkennen.

Die christlichen Kirchen haben sich bewusst gemacht, dass die Katholizität und die Ökumenizität der Kirche untrennbar zusammengehören und dass die Einheit in Christus nicht nur eine die Christen tragende Vorgabe ist, sondern gestaltbildend in den Lebensäußerungen der Kirche wirken will. Der heute vielfach spürbare Wunsch nach ökumenischer Annäherung korrespondiert dem mit der Weltmissionskonferenz von Edinburgh 1910 eröffneten ökumenischen Aufbruch des 20. Jahrhunderts, der mit den Vollversammlungen des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam 1948 und N eu Delhi 1961 sowie mit dem Dekret über den Ökumenismus des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) seine herausragenden Höhepunkte fand und sich in einer Fülle von bilateralen und multilateralen Begegnungen, Dialogen und Aktionen aufgegliedert und konkretisiert hat. Im geduldigen Hören aufeinander und im Bemühen um Verstehen und gemeinsames theologisches Erkennen ist man sich nahe gekommen. Man hat es gelernt, sich in das theologische Denken des Gegenübers hineinzuversetzen und seine Fragen zu hören und ernst zu nehmen. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre zwischen dem Lutherischen Weltbund und der römisch-katholischen Kirche (31. Oktober 1999), die 2006 vom Weltrat Methodistischer Kirche mit unterzeichnet wurde, hat verdeutlicht, dass man das Evangelium der Rechtfertigung zwar unterschiedlich auslegen und akzentuieren kann, dass aber die unterschiedlichen Lesarten ihre kirchentrennende Bedeutung verloren haben.

Der Ökumene auf der Ebene der offiziellen Dialoge und Begegnungen entspricht die Ökumene im Bereich der Lebenswelten der christlichen Kirchengemeinden. Hier gibt es je nach Region unterschiedliche Zahlenverhältnisse. In Deutschland sind die von der EKD repräsentierten evangelischen und die römisch-katholischen Christinnen und Christen in der Mehrheit; deshalb sind sie in besonderer Weise gefordert, in die Gesellschaft hinein zu wirken; sie sind aber auch dafür verantwortlich, dass die anderen christlichen Traditionen bei allen ökumenischen Vorhaben zu ihrem Recht kommen.

Die Ökumene im „hohen Chor“ wäre kaum erfolgreich, wenn ihr nicht eine Ökumene im Alltag der Menschen korrespondierte, an jenen Orten, wo sich Christinnen und Christen der verschiedenen Konfessionen als Nachbarn, Kollegen, Mitschüler und Kommilitonen begegnen und dabei zunehmend die Erfahrung machen, dass sie heute mehr denn je im Bekenntnis zu ihrem Christsein gemeinsam herausgefordert sind. Es gibt zwar auch im heutigen Europa immer noch vereinzelt Landstriche, wo konfessionelle Milieus in gegenseitigen Abwehrstellungen verharren, aber das ist glücklicherweise nicht die Regel, schon gar nicht in Deutschland. Der dramatische Verlauf der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die in konfessioneller Hinsicht zunächst noch vom „Kulturkampf“ der Bismarck-Ära bestimmt war, hat auf seine Weise die ökumenische Bereitschaft der Menschen provoziert und gefördert.

So verblassten in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs die konfessionellen Gegensätze. Im deutschen Sprachraum entstand in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur und der Umwälzungen danach die Una sancta-Bewegung und mit ihr der Gedanke einer evangelischen Katholi- zität (Friedrich Heiler, Nathan Söderblom, Max Josef Metzger). Die „Märtyrer von Lübeck“, die katholischen Priester Johannes Prassek, Eduard Müller und Hermann Lange sowie der evangelische Pastor Karl Friedrich Stellbrink, die 1943 wegen ihres Widerstands hingerichtet wurden, stehen stellvertretend für die Menschen, die im Widerstand gegen Gewalt und Unrecht oder auch in tiefer N ot den unbedingten Vorrang der Verbundenheit im Glauben vor den konfessionellen Differenzen erfahren. Die Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg berichteten von der geistlichen Gemeinschaft, die sie in den Lagern gelebt haben und die ihnen das Überleben ermöglichte. In der äußeren Not werden Menschen auf das Elementare des Glaubens zurückgeworfen und durchleben die heilsame Erfahrung, dass sich das Wirken Jesu Christi nicht durch die Grenzen einer bestimmten Konfession binden und begrenzen lässt.

Die Vertreibung aus der Heimat nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war ein großes Unglück. Aber die damit verbundenen innerdeutschen Wanderungsbewegungen haben die konfessionelle Geschlossenheit der bislang römisch-katholisch oder evangelisch dominierten Gebiete aufgebrochen. Die dadurch entstandenen neuen konfessionellen Nachbarschaften waren ein Nährboden der Ökumene. Die Ökumene lebte damals und lebt heute von Begegnungen. In den ehemals evangelisch geprägten Gebieten Mittel- und Norddeutschlands wuchsen die römisch-katholischen Gemeinden. Umgekehrt wanderten in die ehemals römisch-katholisch geprägten Welten Westfalens, Bayerns oder des Rheinlands viele evangelische Christen ein. Es ist noch viel zu wenig untersucht worden, was diese Migrationsbewegungen für die Geschichte der Ökumene bedeuten. Auf jeden Fall haben sie in kaum zu überschätzendem Umfang für Annäherung und wachsende gegenseitige Wertschätzung gesorgt. Es ist nicht zuletzt dieser Entwicklung zu verdanken, dass die ökumenische Offenheit heute von der großen Mehrheit der Menschen als selbstverständlich und in jeder Hinsicht angemessen empfunden wird. Man muss nicht mehr begründen, weshalb man mit dem anderen die geschwisterliche Gemeinschaft sucht. Vielmehr muss man begründen, wenn man sich dem anderen ökumenisch verweigert. Es hat sich weitgehend die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses unmittelbar von der Verbundenheit derer abhängt, die das Evangelium bezeugen.

Die Ökumenische Bewegung in ihrer institutionalisierten Gestalt hat außerhalb der römisch-katholischen Kirche begonnen. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat sich hier ein Wandel vollzogen, in der die römisch-katholische Kirche auf die anderen Kirchen zugegangen ist. Heute stellen sich weitere Fragen, die zu einer Suche nach neuen Gestaltungsweisen ermutigen, bei denen auch die immer stärker wachsenden pentekostalen Gemeinschaften einen Ort im ökumenischen Gespräch finden. Die soziale Not in der Welt ist groß. Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung sind mehr denn je drängende Herausforderungen in der Gegenwart. Das ökumenische Gespräch unter Christinnen und Christen ist deshalb auch um das Gespräch der Religionen zu erweitern.

2.2. Offene Fragen und Aufgaben

Auf den weiten Wegen, die die Ökumenische Bewegung bis heute gegangen ist, sind trotz aller Bemühungen um ein wachsendes Vertrauen in die im Glauben begründete christliche Gemeinschaft offene Fragen zurückgeblieben und einige neu aufgeworfen worden. Diese Fragen bedürfen weiterer Beratung; sie stellen vor große ökumenische Aufgaben in der Zukunft.

Zum einen gibt es weiterhin sowohl in den Mentalitäten als auch in den theologischen Beurteilungen typische Unterschiede in der Auseinandersetzung mit der Reformation und ihren Wirkungen; für evangelische Christinnen und Christen gehört 1517 in eine Kette von Ereignissen, die sie als maßgebend für die eigene Identität und wegweisend für die Zukunft der Kirche einschätzen; für Katholikinnen und Katholiken hat die Reformation hingegen meist nur eine untergeordnete Bedeutung für das eigene Selbstverständnis und wird immer wieder als Kirchenspaltung gesehen. Zum anderen sind in den 500 Jahren seit 1517 auf römisch-katholischer wie auf evangelischer Seite wirkungsgeschichtlich bedeutsame Entwicklungen eingetreten, die im 16. Jahrhundert nicht absehbar waren, aber die konfessionellen Profile heute stark bestimmen. Als Beispiel seien auf katholischer Seite die Ausführungen des Ersten und des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Vollmacht und Lehrautorität des Papstes genannt, auf evangelischer Seite die Entscheidung für die Ordination von Frauen. Jüngst haben sich auch im Bereich der Ethik stärkere Unterschiede herausgebildet. Im Blick auf die Versöhnung der Kirchen reicht es daher nicht aus, allein die im 16. Jahrhundert formulierten Differenzen gemeinsam zu bedenken und Konvergenzen zu erreichen. Es müssen auch die neuen Herausforderungen erkannt und bestanden werden.

In zwei thematischen Bereichen, die theologisch eng miteinander verbunden und seit langem Gegenstand ökumenischer Gespräche sind, wird die Notwendigkeit einer Klärung besonders deutlich: einerseits im Blick auf die Eucharistie und die Abendmahlsgemeinschaft, andererseits im Kirchen- und Amtsverständnis.

2.2.1. Eucharistie und Abendmahlsgemeinschaft

Von evangelischer Seite sind Katholikinnen und Katholiken heute eingeladen, als Gäste an der Abendmahlsfeier teilzunehmen. Nach katholischem Verständnis setzt jedoch die Eucharistiegemeinschaft einen Grad von Kirchengemeinschaft voraus, der noch nicht besteht. Die Frage ist von hoher Bedeutung für das Glaubensleben. Viele Menschen, gerade solche in konfessionsverbindenden Ehen, leiden darunter, dass sie in der Regel nicht gemeinsam zum Tisch des Herrn treten dürfen, auch wenn dies pastoral manchmal anders gehandhabt wird. Als seelsorgliches Kriterium für den konkreten Einzelfall könnte dabei an eine ganz persönliche Beziehung zu Jesus Christus und eine gelebte Verbundenheit mit der katholischen Kirche gedacht werden. Andere befürchten in diesem Zusammenhang, dass die heilige Kommunion Mittel zum Zweck einer ökumenischen Verständigung werden soll, die noch nicht so weit ist, dass die Eucharistie gemeinsam gefeiert werden kann. Wieder andere sehen die Gefahr einer sakra- mentalistischen Verengung, wenn sich die ganze Ökumene auf das Verständnis der Eucharistie und die Abendmahlsgemeinschaft reduziert.

Eine schnelle Lösung wird es aller Voraussicht nach nicht geben. Umso wichtiger ist es, dasjenige in den Mittelpunkt zu stellen, was bereits gegenwärtig möglich ist. An erster Stelle ist die Taufe zu nennen, die von allen Gliedkirchen der EKD und von der römisch-katholischen Kirche wechselseitig anerkannt wird. Eine eigene Bedeutung haben die ökumenischen Liturgien: Sie feiern das gegenwärtige Wort Gottes; sie stärken die Gemeinschaft; sie motivieren zum Dienst in der Welt. Überdies gibt es auch die Möglichkeit, mit großem geistlichen Gewinn an den Gottesdiensten der jeweils anderen Konfession teilzunehmen. Das gilt gerade auch für Abendmahls- oder Eucharistiefeiern, selbst wenn nicht kommuniziert wird.

Freilich kann die gegenwärtige Praxis nicht befriedigen. Es bedarf starker Anstrengungen, um die psychologischen Blockaden zu lösen und vor allem die theologischen Grundfragen zu bearbeiten. Hier hat die Ökumene des 20. Jahrhunderts große Fortschritte gemacht, auch an Stellen, an denen es früher schwer denkbar schien, so bei der grundlegenden Bedeutung der Wortverkündigung, beim Verständnis des eucharistischen „Gedächtnisses“ und der sakramentalen Gegenwart Jesu Christi, auch beim „Laienkelch“ resp. der Kommunion unter beiderlei Gestalt. Es bleibt aber bislang dabei, dass die Unterschiede im Verständnis des kirchlichen Amtes nicht so weit geklärt sind, dass von beiden Seiten aus Abendmahls- und Eucharistiegemeinschaft zuerkannt werden. Mit dieser Situation gilt es pastoral sensibel umzugehen.

2.2.2. Kirchen- und Amtsverständnis

Im Jahre 2000 hat die Erklärung der Glaubenskongregation „Dominus Iesus“ hohe Wellen geschlagen, dass die evangelischen „Gemeinschaften“ nicht „Kirche im eigentlichen Sinn“ seien. Auf evangelischer Seite wurde diese Erklärung vielfach als Herabsetzung empfunden. Auf einer anderen Ebene liegt, dass sich die evangelische Kirche 2006 im Vorfeld des Reformationsjubiläums als „Kirche der Freiheit“ dargestellt und damit die Frage ausgelöst hat, ob die römisch-katholische Kirche als Kirche der Unfreiheit hingestellt werden soll.

Beide Vorgänge, so unterschiedlich sie sind, verlangen nach einer Klärung. Im Kern muss das jeweilige Verständnis von „Kirche“ stehen. Es darf sich nicht mit einer Selbstvergewisserung begnügen, sondern muss den ökumenischen Partner im Auge behalten.

Das Zweite Vatikanische Konzil hält daran fest, dass die römisch-katholische Kirche auf der Ebene der institutionellen Gestalt als einzige unter den Kirchen alle biblisch begründeten Strukturelemente bewahrt hat, zu denen auch das Dienstamt des Bischofs von Rom gehört. Zugleich unterscheidet das 2. Vatikanische Konzil zwischen der äußeren Gestalt der Kirche und ihrem geistlichen, inneren Leben; es gesteht zu, dass die katholische Kirche angesichts der Spaltungen nicht allein die Fülle der Katholizität zum Ausdruck bringen kann (vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Unitatis redintegra tio 4); es erkennt an, dass wesentliche „Elemente“ des Kircheseins auch bei den nicht-katholischen Kirchen und Gemeinschaften bestehen und dass sie von Gott als „Mittel des Heiles“ gebraucht werden (Unitatis redintegratio 3). Das wird durch „Dominus Iesus“ nicht in Zweifel gezogen. Es bedarf neuer theologischer Vorstöße, die spezifische Art des evangelischen Kircheseins aus katholischer Sicht zu würdigen und positiv zu beschreiben.

Die evangelische Kirche sieht sich heute als die durch die Reformation hindurchgegangene katholische Kirche. Damit entwickelt sie ein positives Verständnis zu den 1500 Jahren der gemeinsamen Kirchengeschichte vor der Reformation. Sie konfrontiert die katholische Kirche mit der Frage, wie sie sich zur Reformation stellt, zumal die katholische Kirche inzwischen viele Impulse aufgenommen hat, die auch für die Reformatoren von zentraler Bedeutung waren, z. B. die Volkssprache in der Liturgie, die verstärkte Aufmerksamkeit für die Heilige Schrift und die starke Beteiligung des ganzen Kirchenvolkes am Leben der Kirche. Ihrerseits sieht sich die evangelische Kirche vor der Aufgabe zu klären, wie sie heute die in der Heiligen Schrift begründete Tradition des kirchlichen Dienstamtes (Episkopos, Presbyter und Diakone) und den Dienst des Petrus sieht, der ihm nach dem Neuen Testament übertragen worden ist (Mt 16,18 f.; Lk 22,32; Joh 21,15 ff.)

Aus diesen Gründen haben sich ökumenische Gespräche der neueren Zeit auf die Frage konzentriert, wie das Verständnis der Apostolizität der Kirche gemeinsam weiter entwickelt werden kann. Es herrscht Übereinstimmung, dass die apostolische Sukzession weder auf die historische Nachfolge im Bischofsamt reduziert noch unabhängig vom Dienst der Episkope gedacht werden kann. In dieser Richtung muss und kann weitergearbeitet werden.

2.2.3. Konsequenzen

Keine Kirche ist frei von der Versuchung, das eigene Selbstverständnis als theologisches Maß für alle Kirchen zu wählen. Jede Kirche muss dieser Versuchung widerstehen.

Eine besondere Herausforderung im Blick auf die konfessionellen Kirchenverständnisse sind Überlegungen zur Gestaltung von Entscheidungsfindungsprozessen. Welche christliche Stimme findet öffentliches Gehör? Im medial geprägten Alltag lassen sich Botschaften von Menschen, die mit Autorität für eine weltweite Gemeinschaft sprechen, oft leichter vermitteln als Erklärungen von Entscheidungsträgern, die nur für eine begrenzte Region Geltung beanspruchen können. Synodale Strukturen sollen gewährleisten, dass alle, über deren Situation gesprochen wird, in den Beratungen mit Stimme präsent sind. Autoritativ getroffene Entscheidungen bieten möglicherweise eine höhere Gewähr, frühere Überlegungen im Gedächtnis zu bewahren und zu erinnern. Kritische Rückfragen an die Geltungsdauer einer im synodalen Prozess formulierten Lehrposition können ebenso verletzen wie eine pauschale Infragestellung der Repräsentanz einer stellvertretend für die Glaubensgemeinschaft getroffenen Entscheidung. In den beiden genannten Beispielen - Eucharistie- und Abendmahlsgemeinschaft sowie Fragen des Kirchenverständnisses - haben sich in jüngerer Zeit auch deshalb wieder Differenzen vertieft, weil die hier erreichten Ergebnisse der ökumenischen Dialoge zu wenig beachtet werden. Desto wichtiger ist eine gemeinsame Anstrengung im Hinblick auf 2017.

Die in der Geschichte der ökumenischen Bewegung begründete Option für die Suche nach einer Verständigung in theologischen Lehrgesprächen über den Glauben und die Kirchenverfassung („Faith and Order“) und die Option einer gemeinsamen Gestaltung des christlichen Tatzeugnisses („Life und Work“) gewinnen heute wieder an Profil. In jüngerer Zeit haben sich trotz der offenen Fragen in der Sinnbestimmung der Ökumene und auch angesichts des damit verbundenen Streits über die rechten Wege, an ein noch unbestimmtes Ziel zu gelangen, neue Perspektiven eröffnet: Die konfessionelle Vielfalt wird (auch) als ein Reichtum wahrgenommen. Manche christlichen Gemeinschaften haben ein Gut bewahrt, das Anderen verloren ging und an dem sie nun als Gabe teilhaben. Insbesondere die Entdeckung des großen Schatzes an unterschiedlichen Weisen, die eine christliche Spiritualität zu leben, ist ein Gewinn für die Gesamtheit der Kirchen. Zur Wahrnehmung und Aufnahme von Erfahrungen in anderen christlichen Traditionen als der eigenen bereit zu sein, aufeinander zu hören, miteinander zu leben und füreinander da zu sein, sind Grundanliegen der Ökumene heute.

Christinnen und Christen kennen einander oft nicht gut genug. Auch Gleichgültigkeit oder gar Selbstgenügsamkeit können verletzen. Die im Jahr 2001 in der Charta Oecumenica auf europäischer Ebene von allen Kirchen unterzeichneten Selbstverpflichtungen zum ökumenischen Denken und Handeln haben nicht an Dringlichkeit verloren: „Wir verpflichten uns, der apostolischen Mahnung des Epheserbriefes zu folgen [Eph 4,3-6] und uns beharrlich um ein gemeinsames Verständnis der Heilsbotschaft Christi im Evangelium zu bemühen; [wir verpflichten uns], in der Kraft des Heiligen Geistes auf die sichtbare Einheit der Kirche Jesu Christi in dem einen Glauben hinzuwirken, die ihren Ausdruck in der gegenseitig anerkannten Taufe und in der eucharistischen Gemeinschaft findet sowie im gemeinsamen Zeugnis und Dienst“ (Charta Oecumenica 1). In vielen Bereichen des gelebten ökumenischen Alltags wird diese Selbstverpflichtung der Kirchen heute im Handeln vor Ort eingelöst. Es waren und sind insbesondere die Orte, an denen Menschen in ihrer Not einander begegnen, die zu einem gemeinsamen christlichen Handeln herausfordern: in den Hospizen, in der Telefonseelsorge, in den Gefängnissen, an den Bahnhöfen und Flughäfen, im Kriegseinsatz und in der Trauerpastoral. Die Ökumene lebt dort in lebendiger Beziehung zu der gemeinsamen Mitte des Glaubens: dem im österlichen Bekenntnis angerufenen Jesus Christus.

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