Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen

Ein gemeinsames Wort zum Jahr 2017, GT 24, Hg. DBK und EKD, September 2016

4. Theologische Schlüssel – 500 Jahre Reformation in der Ökumene heute

Durch die Reformation und die römisch-katholische Reaktion auf sie sind Grundbegriffe des Christentums, die hohe Bedeutung für die religiöse Praxis haben, neu entdeckt und teils scharf gegeneinander profiliert worden. Die Leidenschaft der Debatten, das Bemühen um den Gewinn an Eigenstand und die Konkurrenz der Konfessionen haben Wunden gerissen. Die Kontroversen haben aber auch das Nachdenken über das Christsein vorangetrieben, wenngleich oft im Interesse der Abgrenzung von den anderen Konfessionen und der eigenen Erstarkung auf Kosten anderer. Zugleich hat es immer grundlegende bleibende Gemeinsamkeiten gegeben: die Heilige Schrift, das Glaubensbekenntnis, die Liturgie, viele Lieder und Gebete, die Aktivitäten in Katechese und Mission, das Engagement in der Politik, die Initiativen von Diakonie und Caritas. Aber die fundamentalen Gemeinsamkeiten drohten oft in den Konflikten über ihr genaues Verständnis und ihren angemessenen Gebrauch aus dem Blick zu geraten, und die Verteidigung der eigenen Position hinderte nicht selten daran, die eigenen Schwächen und Stärken wie die der anderen Konfessionen sowohl selbstkritisch als auch selbstbewusst einzuschätzen.

Heute können Protestanten und Katholiken gemeinsam sagen, dass die Impulse der Reformation, aber auch die Kritik an ihr und die Kritik der Kritik, das evangelische wie das katholische Verständnis dessen, was für das Christentum wesentlich ist, tief geprägt haben. Worüber die Konfessionen heute Rechenschaft ablegen müssen, ist die Frage, wie sie das Verhältnis von substantiellen Gemeinsamkeiten und konfessionellen Unterschieden bestimmen. Die römisch-katholische Theologie kann freimütig erklären, von welchen Impulsen der Reformation sie profitiert und wie sie diese Impulse in ihr Denken integriert, wo sie aber auch Rückfragen hat und Klärungsbedarf sieht. Die evangelische Theologie kann freimütig erklären, welche Impulse der Reformation sie unter ökumenischer Rücksicht für besonders wichtig hält und wie sie bei der Bildung ihrer eigenen Identität von der Auseinandersetzung mit der römisch-katholischen Theologie profitiert hat. Die Vorbereitung auf 2017 ist die beste Zeit, dass beide Seiten erklären, was sie aneinander schätzen und inwieweit sie ihre eigenen theologischen Grundbegriffe nicht mehr ohne die ebenso kritische wie konstruktive Auseinandersetzung mit denen der anderen Seite formulieren können. Das ist ein Beitrag zu der Aufgabe, die als Healing of Memories immer neu vor uns steht. Die Erfüllung dieser Aufgabe hilft dabei, die Gottesfrage heute neu in das gemeinsame Gespräch zu bringen.

Drei dieser Grundbegriffe sollen im Folgenden ausgewählt werden: der Glaube in seinem Verhältnis zu den Werken, die Freiheit in ihrem Verhältnis zum Gehorsam, speziell gegenüber der Autorität des kirchenleitenden Handelns unter dem Evangelium, und die Einheit der Kirche in ihrem Verhältnis zur Trennung und zur Vielfalt.

Diese drei Grundbegriffe werden unter anderen denkbaren ausgewählt, weil sie in der gesellschaftlichen wie in der kirchlichen Debatte hohe Bedeutung haben und starke Beachtung finden. Bei allen drei Themen wird deutlich, dass die Ökumene keinen Weg einschlagen kann, der das Geschehen der Reformation ignoriert, sondern nur einen Weg, der mit der Reformation und ihrer Rezeption in eine neue Form der Kirchen-Einheit hineinführt. Die Orientierung auf diesem Weg gibt die Heilige Schrift.

4.1. Glaube - und Werke

In seiner späten Erinnerung stellte Martin Luther die Entdeckung des Glaubens in seiner grundlegenden Bedeutung für die Rechtfertigung als Anfang seines religiösen Aufbruchs dar (Weimarer Ausgabe 54, 182,12 - 186,29). Er, der Augustiner-Mönch und Professor für Biblische Theologie, habe erkannt, dass die Gerechtigkeit Gottes, über die Paulus schreibt, nicht auf die Bestrafung des Sünders aus ist, sondern auf das Geschenk der Rechtfertigung. „Der Gerechte lebt aus Glauben“, so gibt er den Kernsatz aus dem Alten Testament (Hab 2,4) im Römerbrief (Röm 1,16 f.) wieder. Martin Luther nimmt für sich nicht in Anspruch, damit eine neue Theologie erfunden zu haben; er erinnert sich im Gegenteil daran, eine analoge Rechtfertigungstheologie bereits bei Augustinus gefunden zu haben, nachdem er ihn mit neuen Augen gelesen hatte. Dennoch hat Martin Luther in seiner Zeit dem Begriff des Glaubens, der für das Christentum charakteristisch ist, ein neues Gewicht gegeben: Er hat ihn ins Zentrum des Verhältnisses gerückt, das Menschen nach Gottes Willen zu ihm haben sollen; damit hat er spätere Zeiten stark beeindruckt, auf evangelischer wie auf römisch-katholischer Seite.

Martin Luther hat seine Theologie des Glaubens aus den biblischen Texten, wie er sie gelesen hat, heraus entwickelt; er wurde dabei auch von den spätmittelakerhchen Frömmigkeitsbewegungen beeinflusst, besonders der Mystik. Er hat diese Theologie des Glaubens unter Berufung auf Paulus kritisch gegen das gewendet, was er als religiöse „Werkerei“ gebrandmarkt hat. Beginnend mit der Ablehnung des Ablasshandels, gewinnt seine Kritik eine doppelte Stoßrichtung: gegen die populäre Erwartung, durch religiöse Leistungen Verdienste vor Gott zu erwerben, und gegen den Anspruch kirchlicher Hierarchie, in eigener Autorität über Gnadenmittel zu verfügen. Diese Kritik Luthers ist von einer tiefen Spiritualität des Glaubens getragen. Sie zeigt sich nicht nur in seinen theologischen Schriften, sondern ebenso in seinen Liedern und Gebeten, aber auch in seinem Bewusstsein für die Zuwendung zum Nächsten, die seit ältester Zeit zur Sendung der Kirche gehört.

Mit der neuen Profilierung und Gewichtung des Glaubensbegriffs hängt direkt zusammen, dass die Reformation das Evangelium als Botschaft von der den Sünder rechtfertigenden Gnade Gottes allein aus Glauben in das Zentrum der christlichen Heilsverkündigung gerückt hat. Ihre kritische Spitze richtet sich gegen die soteriologische Vorstellung, der Mensch könne sich durch seine Werke selbst rechtfertigen. Der selbstgerechte Mensch verkennt, wie radikal er auf Gottes Gnade angewiesen ist (vgl. Lk 18,9-14); er begreift dieses restlose Angewiesensein auf Gott nicht als Chance auf seine Rettung, sondern als Angriff auf seine eigenen Fähigkeiten. Demgegenüber betont die reformatorische Einsicht: Der sündige Mensch Gottes ist allein auf Gottes Gnade angewiesen, die er nur empfangen kann. Das christologisch-soteriologisch begründete sola gratia ist daher konsequent durchzuhalten.

Luthers neu profilierter Begriff des Glaubens steht in Spannung zum Begriff des Glaubens, wie ihn Thomas von Aquin entwickelt hat, mit großer Wirkung auf die katholische Kontroverstheologie. Aus dem Glaubensbegriff ergeben sich Unterschiede im Zugang zum Konzept der Rechtfertigungslehre. Bei Thomas ist nicht allein der Glaube (fides), der als „verständige Zustimmung“ zum Evangelium gedeutet wird, sondern die Liebe (caritas), die als Einheit von Gottes- und Nächstenliebe gemäß dem Doppelgebot Jesu aufgefasst wird, die Grundbestimmung des Christseins. Luther hat dagegen zur Geltung gebracht, dass der Glaube von Paulus und den Evangelien, aber auch von zentralen Aussagen des Alten Testaments her in der Einheit von Vertrauen und Bekenntnis, von Bekehrung und Erkenntnis, von Empfangen und Engagement gedacht werden muss und darin durch Gottes Gnade das sündige Begehren des Menschen beendet, Gottes Gnade verdienen zu wollen. Insofern ist es nach Luther „allein“ der Glaube (sola fide), der rechtfertigt. Daraus folgt keine Abwertung der menschlichen Freiheit und Verantwortung: Die Reformation hat darauf vertraut, dass der gerechtfertigte Mensch aus eigenem Antrieb, frei und fröhlich (suasponte ... libenter et hilariter) gute Werke tut (Martin Luther). Das neue Ethos des Christenmenschen ist ein Ethos der dankbaren Gebotserfüllung in der Folge der von Gott zuerst erwiesenen Gnade.

Die katholische Kritik an der Reformation, die auch in das Konzil von Trient Eingang gefunden hat, zielt darauf, den freien Willen des Menschen und damit seine Verantwortung wie seine Beteiligung an der Rechtfertigung zu betonen. Sie äußert den Verdacht, das sola fide unterminiere die theologische Bedeutung des gelebten Christseins und der Ethik. Dieser Verdacht entsteht allerdings nur deshalb, weil der Glaube nicht wie bei Luther als umfassende Antwort des Menschen auf Gottes Wort, sondern als Zustimmung zum Evangelium verstanden wird; dann erscheint das sola fide als Verkürzung der Rechtfertigungsgnade. Umgekehrt sehen die Reformatoren in dem römisch-katholischen Traditionsgut, dass der Glaube durch die Liebe geformt werden müsse (fides caritate formata), eine Einschränkung der Gnade Gottes durch den Rekurs auf menschliche Werke, obwohl es tatsächlich um eine umfassende gnadentheologische Anthropologie der Freiheit geht; die reformatorischen Theologen gehen bei ihrer Kritik von ihrem eigenen Glaubensbegriff aus, ohne die spezifische Begrifflichkeit der Scholastik und des Konzils von Trient konstruktiv zu würdigen.

Die vergangenen Jahrzehnte haben beachtliche Annäherungen zwischen dem römisch-katholischen und dem evangelischen Verständnis der Rechtfertigungsbotschaft sowie des Verhältnisses zwischen Glaube und Werken erbracht. Missverständnisse konnten aus dem Weg geräumt, Konvergenzen und Übereinstimmungen beschrieben werden. Zwei Beispiele für viele sollen an dieser Stelle genügen: Dietrich Bonhoeffer hat „Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderter Trost, verschleudertes Sakrament“ (Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, hg. von Martin Kuske und Ilse Tödt, München2 1994 [= Dietrich Bonhoeffer Werke 4], 29) nicht ohne stichhaltige Gründe als ein Grundübel protestantischer Frömmigkeit kritisiert. Die Päpste Benedikt XVI. und Franziskus haben in der Enzyklika „Das Licht des Glaubens“ (2013) den Begriff des Glaubens aus dem biblischen Wurzeln heraus bestimmt und für die Gegenwart erschlossen.

Es ist möglich geworden, die Rechtfertigungslehre aus der Sprache der einen in die Sprache der anderen zu übersetzen, ohne die Zusagen des Evangeliums dabei abzuschwächen. Die im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz erstellte Studie „Lehrverurteilungen - kirchentrennend?“ konnte den differenzierten Konsens feststellen, „dass wir als Sünder allein aus der vergebenden Liebe Gottes leben, die wir uns nur schenken lassen, aber auf keine Weise, wie abgeschwächt auch immer ,verdienen’ oder an von uns zu erbringende Vor- oder Nachbedingungen binden können“ (Karl Lehmann/Wolfhart Pannenberg [Hg.], Lehrverurteilungen kirchentrennend? I, Freiburg/Göt- tingen 1986, 75). An diesem Konsens sind die bestehenden Lehrdifferenzen zu messen. Im Horizont dieses Konsenses treffen die Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts die jeweils andere Seite nicht mehr. Das hat die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ festgeschrieben, die nach eingehender, weltweiter Konsultation der beteiligten Kirchen mit ausdrücklicher Zustimmung vieler Synoden evangelischer Landeskirchen und der Deutschen Bischofskonferenz am 31. Oktober 1999 in Augsburg vom damaligen Präsidenten des Lutherischen Weltbundes und vom damaligen Präsidenten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen feierlich unterzeichnet worden ist. Es gibt nach wie vor Unterschiede im römisch-katholischen und evangelischen Verständnis der Rechtfertigungslehre; aber diese Unterschiede haben keinen kirchentrennenden Charakter, sie haben vielmehr den Status von „heilsamen Warnungen“ vor einer konfessionellen Verengung des Blicks.

Die Rückbesinnung auf die biblische Basis hat in der evangelischen wie der römisch-katholischen Theologie des 20. und 21. Jahrhunderts allerdings auch deutliche Unterschiede zwischen dem biblischen und dem reforma- torischen, aber auch dem tridentinischen Verständnis des Glaubens und der Rechtfertigung aufgezeigt. Diese Unterschiede sind entstanden, weil die Voraussetzungen, unter denen die Konzepte entwickelt worden sind, und die Ziele, die mit ihnen erreicht werden sollten, sich in gewandelten geschichtlichen Herausforderungen deutlich verschoben haben. Die heutige Exegese betont weit stärker als früher die Zugehörigkeit Jesu zum Judentum sowie die alttestamentlichen Wurzeln und den jüdischen Kontext der paulinischen Rechtfertigungslehre, der durch neue Funde und Forschungen heute stärker vor Augen steht, als das im 16. Jh. der Fall sein konnte. Sie erkennt, dass nicht allgemein ein religiöses Leistungsdenken, sondern konkret ein Heilsvertrauen auf die Gebote des Gesetzes und die menschlichen Möglichkeiten, durch ihre Befolgung Rechtfertigung zu erlangen, von Paulus kritisiert worden ist (vgl. Röm 7), und dass nicht nur die Beantwortung der individuellen Heilsfrage eines sündigen Menschen, sondern auch die missionarische Integration der Heiden in das Volk Gottes und die Vertiefung der kirchlichen Einheit wesentliche Momente der biblischen Glaubens- und Rechtfertigungstheologie sind.

Durch die Unterscheidungen zwischen dem biblischen Glaubensverständnis einerseits und dem genuin reformatorischen wie dem traditionell römisch-katholischen Glaubensverständnis andererseits werden neue Möglichkeiten erschlossen, heute ein gemeinsames Glaubenszeugnis abzulegen. Die gemeinsame Hinwendung zur Heiligen Schrift erlaubt eine Stärkung der evangelisch-katholischen Ökumene, die zugleich den jüdisch-christlichen Dialog fördert. Die gemeinsame Rückbesinnung auf das Zeugnis der Bibel zeigt, dass der Glaube, der rechtfertigt, immer der ist, der „durch Liebe wirksam ist“ (Gal 5,6). Rechtfertigung und Heiligung gehören untrennbar zusammen. Die Proklamation des Evangeliums wird nur dann zur Proklamation der „billigen Gnade“, die alles entschuldigt und verharmlost, wenn übersehen wird, dass durch das Geschenk der Rechtfertigung am Menschen etwas gewirkt wird, was ihn verändert. Zwischen der Rechtfertigung des Menschen sola fide und der Neubestimmung seines Lebens sola fide besteht ein innerer Zusammenhang. Entscheidend ist, dass durch den Impuls der Reformation und die römisch-katholische Auseinandersetzung mit ihm der Glaube in der Welt von heute so zur Sprache kommen kann, dass Gott die Ehre gegeben wird und die Größe der Liebe Gottes erahnt werden kann, ohne dass konfessionelle Streitigkeiten das Glaubenszeugnis verdunkeln.

„Glaubt an das Evangelium“, ist nach dem Markusevangelium die erste und alles entscheidende Forderung Jesu; sie ist getragen von dem zentralen Anliegen seiner Verkündigung, dass Gottes Herrschaft „nahegekommen“ ist (Mk 1,15). Die Jünger, die auf dieses Wort gehört haben, werden im Markusevangelium auf dem Weg der Nachfolge gezeigt. Auf diesem Weg werden sie in ihre Sendung eingeführt, ihrerseits dieses Evangelium zu verkünden; auf diesem Weg werden sie aber auch mit ihrer Schwäche, mit ihrer Ohnmacht und mit ihrem Versagen konfrontiert; auf diesem Weg entdecken sie Jesus als den „Menschensohn, der gekommen ist, nicht bedient zu werden, sondern zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45). In diesen Jüngern erkennen sich die Gläubigen aller christlichen Konfessionen heute wieder. Im Blick auf die Jünger erkennen sie ihre eigene Versuchung, die Frage zu stellen, „wer von ihnen der Größte sei“ (Mk 9,35 parr). Die Heilung der Erinnerungen dient auch dazu, die Größe dieser Versuchung zu erkennen; wenn sie mit Gottes Hilfe bestanden wird, kann das Zeugnis für Christus gemeinsam abgelegt werden, auch wenn die Wege verschieden sind.

4.3. Freiheit - und Autorität

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1; vgl. Gal 5,13). Dieses Bekenntnis des Apostels Paulus verbindet evangelische wie katholische Christinnen und Christen. Das Verständnis der Freiheit hat sich allerdings von der Antike bis in die Neuzeit stark verändert; es wird auch zwischen den Konfessionen unterschiedlich akzentuiert. Die evangelische Kirche sieht sich oft als „Kirche der Freiheit“ und beruft sich dabei auf die Reformation, besonders auf die Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) von Martin Luther. Allerdings kann es nicht der Sinn einer solchen Berufung sein, einer anderen Kirche das Attribut der Freiheit abzusprechen. Gerade das ökumenische Gespräch zeigt die Spannungen, in denen sich der Begriff der Freiheit ausbildet. Die katholische Theologie erinnert daran, dass die Willensfreiheit ein großes Anliegen des Konzils von Trient ist, das in der Neuzeit starke Resonanzen auslöst. Wie aber verhält sich die Freiheit für die Kirche zur Freiheit in der Kirche? Welcher Gehorsam entspricht der Freiheit? In welchem Verhältnis zur Freiheit steht die Autorität in der Kirche, die nicht nur in der römisch-katholischen Kirche, sondern auch in den reformatorischen Kirchen strukturell verortet ist? Die überkommenen Oppositionen müssen kritisch auf ihren Sachge- halt hin überprüft werden.

Eine gesamtbiblische Betrachtung der Rede von der Freiheit wird die Vielfalt des biblischen Freiheitszeugnisses für den Glauben und für die Freiheitssehnsucht des heutigen Menschen fruchtbar zu machen versuchen. Ein solches Vorgehen steht im Dienst der Heilung der Erinnerungen. Martin Luther bezieht sich auf den Apostel Paulus, der im Brief an die Galater die Freiheit des Glaubens verteidigt (vgl. Gal 2,4) und durch das Liebesge- bot mit Inhalt füllt (vgl. Gal 5,1.13). Für den paulinischen Begriff ist zweierlei konstitutiv: der Bezug auf Gott, der sich im gekreuzigten Jesus Christus als Befreier offenbart (vgl. Gal 1,3 f.; 3,13 f.), und der Bezug auf die Wahrheit des Evangeliums, das die Freiheit erschließt (vgl. Gal 2,5.14; 4,16; 5,7). Diese Wahrheit hat Paulus auf dem Apostelkonzil (vgl. Gal 2,1-10) und im antiochenischen Streit mit Petrus (Gal 2,11-14) bezeugt und durch die Rechtfertigungslehre erschlossen (vgl. Gal 2,15 f.): Es ist der Glaube an Christus, der befreit, weil er alles Gute allein von der Gnade Gottes gewirkt sieht. Diese Theologie der Freiheit ist für die römisch-katholische Kirche ebenso prägend und verbindlich wie für die evangelischen Kirchen.

Die paulinische Theologie der Freiheit ist in der Theologie Israels verwurzelt. Die Befreiung aus Ägypten hat das Gottesvolk zutiefst geprägt. Die Erinnerung an den Exodus prägt seine Liturgie und inspiriert sein Ethos der Liebe zum Nächsten (vgl. Lev 19,18), aber auch der Liebe zu den Fremden (vgl. Lev 19,34). Aus dem lebendigen Gedächtnis des Exodus nährt sich die Hoffnung auf die endgültige Erlösung von aller Schuld und Sünde, aller Entfremdung und Unterdrückung.

Jesus hat seine Sendung darin gesehen, die Menschen von ihrer Krankheit und Not zu befreien; er ist gekommen, um sie von ihrer Schuld zu erlösen (vgl. Lk 4,18 f. in Aufnahme der Verheißung in Jes 61,1 f.) und ins Reich Gottes hineinzuführen, in das Reich der Freiheit und des Friedens (vgl. Röm 14,17). Die Freiheit, die Gott schenkt, damit die Menschen sie annehmen und gestalten, ist die große Verheißung, die Jesus und die Apostel zur Verkündigung des Evangeliums geführt hat. Jedem Menschen ist das Evangelium angeboten; werden die Boten abgelehnt, sollen sie den Staub von ihren Füßen abschütteln und weiterziehen (vgl. Lk 10,1-16).

Martin Luther hat die Thematik „Freiheit“ im Horizont der Rechtfertigungslehre als eine streng theologische Fragestellung behandelt. Er unterscheidet zwei Aspekte: die evangelische Freiheit (libertas Christiana) und die Willensfreiheit (liberum arbitrium). Die „evangelische Freiheit“, die darin besteht, den eigenen Glauben in der Hingabe an Gott und den Nächsten zu leben, hat er mit großem Nachdruck und hohem persönlichen Einsatz verteidigt; die Willensfreiheit hingegen, verstanden als Fähigkeit des Menschen, sich selbstbestimmt für Gott und das Gute zu entscheiden und dieses zu tun, hat er radikal in Frage gestellt: Kann es vor Gott eine menschliche Willensfreiheit geben? Mit Augustinus betont Luther, dass der Mensch die Erlösung nur empfangen kann („mere passive"); zugleich hebt er das erwählende Handeln Gottes für die Hinwendung des Menschen zum Glauben hervor. Ihm liegt daran, das Gnadenhandeln Gottes als Grund der Freiheit des Menschen zu erfassen; es ist eine geschenkte Freiheit. Luther verbindet mit dieser Erkenntnis die Offenheit hin auf eine universale Heilsperspektive. Dabei stehen Freiheit und Bindung in einem unauflöslichen Wechselverhältnis: Der Christ ist ein freier Herr über alle Dinge und zugleich ein dienstbarer Knecht in allen Dingen - niemandem verpflichtet und zugleich j edermann verpflichtet. Seine Freiheit erfährt der Christ in der Bindung an Christus, und kraft seiner Christusbindung vermag er sich frei und dankbar an seine Mitmenschen zu binden.

Im Rahmen der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (1999) konnte eine Konvergenz im Hinblick auf das Verhältnis von Aktivität und Passivität des Menschen im Rechtfertigungsgeschehen (vgl. Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre 19-21) erreicht werden. Die in der römisch-katholischen Tradition zu findende Achtung und Wertschätzung des Moments der Freiheit in der Zuwendung zu Gott und zum Nächsten steht im Kontext der Gestaltung des neuen Lebens im Glauben: Der Mensch ist und bleibt in Verantwortung für sein Handeln für das Gute oder wider die Gebote Gottes. Die erreichte Verständigung im Kontext der Rechtfertigungslehre sowie der Anthropologie kann genutzt werden, um den biblisch begründeten Begriff der Freiheit als Geschenk Gottes, das sich die Gerechtfertigten zu eigen machen, in ein konstruktiv-kritisches Verhältnis zum neuzeitlichen Begriff der Freiheit als Autonomie zu setzen. Das Freiheitsverständnis der Moderne transformiert zwar ein genuines Moment der Rechtfertigungslehre, wenn es dem Menschen die Fähigkeit zuschreibt, in selbsterkannter Verantwortung aus dem eigenen Ich heraus handeln zu können. Wenn diese Fähigkeit aber so absolut gesetzt wird, dass die freiheitsstiftende Kraft der Gottesbeziehung geleugnet und der Bezug der Freiheit auf die Mitmenschen nur noch auf die horizontale Ebene beschränkt wird, dann ist die Freiheit in ihrem Kern bedroht. Das Handeln aus selbsterkannter Verantwortung bedarf eines positiven Verhältnisses zur Gotteserfahrung. Denn das Ich wird im Glauben durch die Liebe Jesu Christi konstituiert (Gal 2,19 f.), damit die Freiheit nicht gegen Gott und den Nächsten, sondern mit Gott und dem Nächsten gelebt wird und deshalb nicht mit dem Tod endet, sondern durch die Auferstehung vollendet wird: Das Reich Gottes ist das Reich der Freiheit, auf das Menschen ganz unterschiedlichen Glaubens und ganz verschiedener Weltanschauung hoffen.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat in mehreren Kontexten von der Freiheit gesprochen. Dem Konzil lag insbesondere an der Begründung der Religionsfreiheit unter Berufung auf die unvertretbaren Freiheitsrechte der Person (vgl. bes. Dignitatis humanae 2; 4). Im Hintergrund der Argumentation steht die Erfahrung, dass in vielen Staaten die freie Religionsausübung behindert wird. Die Autonomie der gesellschaftlichen Institutionen (Kultur und Wissenschaft) im Gegenüber zur Kirche (vgl. Gaudium etspes 36) wird vom Konzil ebenso betont wie das Recht und die Pflicht aller Getauften zur freien Meinungsäußerung auch innerhalb der kirchlichen Institutionen (vgl. Lumen gentium 37).

Bei all diesen Themen besteht ein klarer Konsens zwischen der römisch-katholischen und der evangelischen Auffassung. Beide Konfessionen sehen und betätigen sich heute als Anwälte der Unverletzlichkeit der Menschenwürde und bestehen auf der Geltung der in Deutschland und in anderen Demokratien verfassungsrechtlich definierten Freiheitsrechte. Die friedlichen Revolutionen im Herbst 1989 wären ohne das konfessionsübergreifende kirchliche Engagement für die politisch erfahrbare Freiheit nicht denkbar gewesen. Dahinter lag freilich ein langer, oft mühsamer Lernweg. In ihrer jüngeren Geschichte haben die christlichen Kirchen zu oft auf der Seite der Gegner der Freiheitsrechte gestanden. Eine Heilung der Erinnerungen im Blick auf das Eintreten für die Freiheitsrechte wird selbstkritisch das in beiden Konfessionen gehegte Misstrauen gegenüber den neuzeitlichen Freiheitsbewegungen zu bearbeiten haben und das biblische Erbe gemeinsam in die aktuelle Debatte einbringen, um sie zu bereichern.

Wie verhalten sich Freiheit und Autorität in der Kirche zueinander? Die Kirche, in der die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21) zur Erfahrung kommen will, bedarf der Leitung durch dazu berufene Menschen. Leitung aber setzt Autorität voraus - einerseits definierte Entscheidungsbefugnisse, andererseits Akzeptanz und Loyalität gegenüber getroffenen Entscheidungen. In den evangelischen Kirchen ist das - jedenfalls im Prinzip - nicht anders als in der römisch-katholischen Kirche. Gleichwohl gehen die Kirchen bei der Ausgestaltung kirchlicher Autorität unterschiedliche Wege. Die römisch-katholische Kirche hat an den episkopalen Strukturen der Kirchenleitung unter Berufung auf die Nachfolge der Apostel festgehalten. In der reformatorischen Tradition haben sich Formen entwickelt, die auf die bewusste Beteiligung aller Getauften an Leitung und Lehrverantwortung der Kirchen ausgerichtet waren und schließlich der Autorität der Synoden den Vorzug gaben. Die Rezeption der durch die Aufklärung geformten neuzeitlichen Freiheitsrechte des Menschen hat diese bei den Reformierten bereits im 16. Jahrhundert einsetzende Entwicklung begünstigt. Synodale Wege der Beratung sind in der römisch-katholischen Kirche zwar nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil erheblich verstärkt worden, die Bindung der Lehrentscheide an die zuständigen kirchlichen Amtsträger (Pfarrer, Bischof und Papst) bleibt jedoch gewahrt.

Die Heilung der Erinnerungen ermöglicht einen nüchternen Erfahrungsaustausch über die Chancen und Möglichkeiten sowie zugleich die Grenzen und Gefahren synodaler und episkopaler Wege bei der kirchlichen Entscheidungsfindung in religiösen Fragen. Jede Konfession kann die eigene Tradition selbstkritisch reflektieren und nach den Stärken der anderen suchen, ohne Angst vor Identitätsverlust haben zu müssen.

Echte Autorität erkennt man daran, dass ihr jede Form von Hörigkeit und erzwungener Unterwerfung fremd ist. Solche Autorität kann sich Gehör durch freie Zustimmung der Hörenden verschaffen. Von dieser Art Autorität ist die Autorität des Evangeliums - des den Menschen befreienden und zugleich verpflichtenden Zeugnisses von Jesus Christus. Daraus erwächst ein unumkehrbares Autoritätsgefälle: von der Autorität der von Christus her gelesenen und ausgelegten Schrift und der Autorität des Bekenntnisses zu der Autorität der damit gegebenen kirchlichen Lehre und weiter zur Autorität der zur Auslegung von Schrift und Bekenntnis berufenen Personen. Dieses Gefälle ist in der Ökumene dem Grundgedanken nach nicht kontrovers. Kontroversen ergaben sich allerdings aus den unterschiedlichen Gewichtungen der einzelnen Elemente dieses Gefälles. Durch die Heilung der Erinnerungen wird die bei allen vorhandene Bereitschaft bestärkt und stabilisiert, theologische Entscheidungen konsequent am Christuszeugnis der Heiligen Schrift auszurichten und zu bewähren.

Eine Grenze der Freiheit der einen ist durch die Gewährleistung der Freiheit der anderen gegeben. Freiheit meint weder Willkür noch Indifferenz, weder Verantwortungslosigkeit noch Alleingang. Es gibt ein Gebot zum Widerstand, wenn menschliches Handeln die von Gott geschützten Lebensrechte Dritter gefährdet. Freiheit ist - theologisch betrachtet - nicht die Hingabe an eine normlose Wahl, die Ausübung der Freiheit untersteht vielmehr dem Evangelium, das allen Geschöpfen - auch den Sünderinnen und Sündern - die von Gott verbürgten Daseinsrechte zuspricht. Bei einer Heilung der Erinnerungen sind auch die gesellschaftlichen Folgen bei einem konfessionellen Dissens in Fragen der Ethik unter Berufung auf die unterschiedlichen Prinzipien der Urteilsbildung (Freiheit versus Autorität) zu berücksichtigen.

In einer Situation, die durch gesellschaftliche Benachteiligung wegen des Glaubens, durch die politische Beschneidung der Religionsausübung und durch die öffentliche Bestreitung des Evangeliums gekennzeichnet war, heißt es im Ersten Petrusbrief an die Adresse der Christen: „Handelt als Freie, aber nicht, als wäre die Freiheit ein Deckmantel der Bosheit, sondern als Knechte Gottes“ (1 Petr 2,16). Im Brief werden die Gläubigen auf ihre Berufung angesprochen, im königlichen und priesterlichen Gottesvolk die großen Taten der Befreiung zu verkünden (1 Petr 2,9 ff. - Ex 19,5 f.); dazu müssen sie Jesus Christus gehorsam sein (1 Petr 1,2). Um im Hören auf das Wort ihren festen Stand im Glauben zu gewinnen, brauchen sie Hirten, die sich am Guten Hirten Jesus orientieren (1 Petr 5,4) und deshalb die Mahnung beherzigen: „Seid nicht Herrscher über die Gemeinde, sondern Vorbilder der Herde“ (1 Petr 5,3). In diesem Spannungsfeld steht jede Form der kirchlichen Leitung, aber auch der persönlichen Gewissensbildung. Die Heilung der Erinnerungen dient diesem Verständigungsprozess; er zielt darauf, das Zeugnis für Christus verständlich und verbindlich abzulegen - mit vielen Stimmen, aber in einer Grundmelodie.

4.3. Einheit - und Vielfalt

Keiner der Akteure im Reformationszeitalter hatte die Absicht, die Einheit der Kirche zu verletzen. Eine Betrachtung allein des Wirkens einzelner Persönlichkeiten im 16. Jahrhundert reicht nicht mehr aus, das Phänomen der Konfessionalisierung des westlichen Christentums zu begründen. Historische Forschungen haben die tiefe Verwurzelung des reformatorischen Gedankenguts in der patristischen und in der mittelalterlichen Tradition aufgezeigt. Die geistesgeschichtliche Epoche der beginnenden Neuzeit, die bestehenden sozialen Spannungen, politische Bedingungen und theologische Erkenntnisse haben eng zusammengewirkt. Die Erinnerungen werden geheilt, wenn die vielfältigen Geschehnisse im Reformationszeitalter gemeinsam betrachtet werden: in der Bereitschaft, die Komplexität der Vorgänge anzuerkennen und von einseitigen Schuldzuweisungen loszukommen.

Wenn gefragt wird, ob die Reformation zu einer Spaltung der Kirche geführt oder die genuine Vielfalt der Kirche zum Ausdruck gebracht habe, dann muss die zugrundeliegende Konzeption von Einheit oder Vielfalt zum Thema gemacht werden. Die Heilung der Erinnerungen besteht in der Einsicht, dass Einheit nicht Uniformität und Vielfalt nicht Beliebigkeit meint, sondern dass es um Gemeinschaft des Verschiedenen in gelebter Katholizität geht.

Die Kirche war am Beginn des 16. Jahrhunderts keine uniforme Größe. Das Mittelalter hatte die Vision des Corpus christianorum; aber die Kirchengemeinschaft zwischen Ost und West war seit dem 11. Jahrhundert beschädigt. Einzelne Streitfragen, insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem souveränen Handeln Gottes und der Teilhabe des Menschen am Heilsgeschehen, hatten in vorreformatorischer Zeit zur Bildung von Schulen in der Theologie beigetragen. Die Orden haben ihr je eigenes Charisma gepflegt. Die aufstrebenden Städte haben die Territorialherrschaften herausgefordert. Im Westen waren im Verlauf des 15. Jahrhunderts durch die Bewegung der böhmischen Hussiten, die für ihre Unabhängigkeit vom Papsttum kämpften, und dem später so genannten Galikanismus, der auf die traditionellen Rechte und Freiheiten der französischen Kirche pochte, starke Kräfte entstanden, die aus unterschiedlichen Gründen gegen eine von Rom beherrschte Einheitskirche aufbegehrten. Die westeuropäischen Nationen Portugal und Spanien konzentrierten sich auf die Christianisierung der neu entdeckten Erdteile. Auch in Rom schauten viele eher in die neue als in die alte Welt.

Die hohe Bedeutung der reformatorischen Rückbesinnung auf das Evangelium wurde oft nicht erkannt. Weder die zeitgenössischen Päpste noch die Bischöfe hatten die Kraft, die Vorgänge, die von Deutschland und der Schweiz ausgingen, in ihrer Tragweite angemessen einzuschätzen und konstruktiv zu reagieren. Umgekehrt war der Eigensinn der reformatori- schen Bewegungen stärker ausgeprägt als der Wille zur Einheit. Mit großer Intensität und in hoher Qualität sind allerdings die frühen theologischen Disputationen zwischen Katholiken und Protestanten geführt worden. Auch die damalige Lehrbildung in beiden Konfessionen (reformatorische Bekenntnisschriften und Trienter Konzil) findet heute - jenseits einzelner Kontroversen - theologische Anerkennung. Ein Beitrag zur Heilung der Erinnerungen muss es sein, all dieser Menschen zu gedenken, die mit ihren damaligen Mitteln der einen Kirche dienen wollten.

Im Reformationszeitalter beginnt im Westen eine Geschichte der Differenzierung zwischen christlichen Bekenntnistraditionen, deren Ursachen keineswegs allein in theologischen Auseinandersetzungen liegen.

Nationale Interessen, die sich nicht zuletzt in den frühen Religionskriegen auswirkten, hatten ebenso Einfluss auf die Ereignisse wie persönliche Anliegen einzelner politischer Regenten. Die folgenden Jahrhunderte brachten eine Verfestigung der neu entstehenden Institutionen, die vor allem die Legitimität ihrer Existenz verteidigten. Die kirchlichen Denominationen, die sich auf die Reformation als eine Quelle ihrer Identität berufen, haben im Kontext der Missionsbemühungen insbesondere im 19. Jahrhundert zu einer Pluralisierung der konfessionellen Gegebenheiten weltweit beigetragen. Unter den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen haben sich Eigenarten in der Gestaltung der Liturgien, in der Form der Katechese, in der Ausübung der Leitungsdienste und bezüglich der Optionen im ethischen Handeln ausgebildet, die es heute auch den konfessionellen Weltbünden schwer machen, in bestimmten Fällen die Einheit im Bekenntnisstand zu wahren. Die katholische Kirche hat seit der Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils verstärkt die Herausforderung erkannt, der Notwendigkeit einer regionalen Differenzierung innerhalb der Katholizi- tät angesichts der unterschiedlichen Nöte, Kulturen und Mentalitäten zu entsprechen. Die entscheidende gemeinsame Aufgabe bleibt das missionarische Zeugnis des Glaubens in der Welt; die Heilung der Erinnerungen dient diesem Zeugnis.

Das Nizäno-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis (381 n. Chr.), das in der griechischen Originalsprache von orthodoxen, katholischen und evangelischen Christen gemeinsam gesprochen wird (während im lateinischen Westen dasfilioque hinzugefügt wurde), verbindet mit dem Wirken des Heiligen Geistes die gläubige Erwartung, dass die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche bewahrt werden kann. Die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse sind ein integraler Bestandteil der reformatori- schen Bekenntnisschriften. Die in diesem Bekenntnis genannten vier Wesensattribute der Kirche (Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizi- tät) stehen in einem inneren Zusammenhang. Die Einheit der Kirche wird verwirklicht, wenn sie sich ganz und gar in den Dienst der Verkündigung des allein heiligen Gottes stellt, die kirchliche Lehre aufgrund der biblischen Weisungen als verbindlich für alle und somit als katholisch ausgewiesen wird und wenn der apostolische Ursprung der kirchlichen Mission, das Evangelium Jesu (Mk 1,15) und das Zeugnis seiner Auferstehung „gemäß den Schriften“ (1 Kor 15,3-5), stets handlungsleitend bleibt.

Martin Luther, Philipp Melanchthon und Johannes Calvin meinten nachweisen zu können, dass die römische Kirche ihrer Zeit nicht die katholische sei und daher auch nicht die eine, heilige Kirche, die es anzuerkennen gilt; als „katholisch“ könne sich nur bezeichnen, wer der Schrift gemäß lehrt. Die Reformatoren unterschieden zwei verschiedene Redeweisen von Kirche und bezogen sie zugleich aufeinander: Neben der sichtbar vor- findlichen Kirche stehe die nur verborgen gegenwärtige, geglaubte Kirche, von deren vier Wesensattributen sämtliche Kirchen in der Verschiedenheit ihrer geschichtlichen Gestalten sichtbar Zeugnis ablegen sollen. Auch das Zweite Vatikanische Konzil differenziert im Blick auf den Anspruch auf Katholizität der römisch-katholischen Kirche zwischen der Vollständigkeit der institutionellen Elemente (unter Einbezug des Petrusdienstes) und der Anerkennung, dass im Blick auf den gelebten Christusglauben die Fülle der Katholizität nicht von der römisch-katholischen Kirche allein erreicht werden kann (vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Unitatis redintegratio 4). Eine Heilung der Erinnerungen fußt angesichts der zahlreichen Kirchenspaltungen vom Altertum an auf einer ökumenischen Bemühung um das angemessene Verständnis des gemeinsamen Bekenntnisses zur Einheit und Katholizität; sie bringt dadurch die Wesensattribute der Kirche - einig, heilig, katholisch (allgemein), apostolisch - zur Geltung.

Die gemeinsame ökumenische Besinnung auf das Verständnis von „Einheit“ muss sich am Zeugnis der Schrift orientieren. In jeder Einheitsvorstellung schwingen konfessionelle Vorverständnisse mit. Dieser Vorbehalt gilt zwar bei jeder Beschreibung geschichtlicher Vorgänge und auch bei der Auslegung der Bibel, aber angesichts der von allen Kirchen anerkannten Autorität der Schrift kommt dieser hermeneutischen Erkenntnis eine hohe Relevanz zu: Es gilt, durch eine wechselseitige Ergänzung und Korrektur der Schriftauslegung dem Gesamtsinn des Wortes Gottes nahe zu kommen.

Die Einheit der Kirche ist in der Einheit des Leibes Christi (1 Kor 10,16 f.) und damit in der Einheit der Taufe (vgl. Gal 3,26-28) vorgegeben. Sie musste in der Suche nach Gemeinschaft zwischen Judenchristen und Heidenchristen in einer missionarisch hoch aktiven Kirche gewährt werden. Es galt, Sorge zu tragen für die Tischgemeinschaft zwischen Beschnittenen und Unbeschnittenen auch angesichts unterschiedlicher Speisevorschriften (vgl. Gal 2,11-21). Sie musste vor Ort in Konflikten um die rechte Lehre Gestalt gewinnen (vgl. Röm 14; 1 Kor 1-4; Gal 1; Phil 1-3). Paulus lehnt in Kontroversen eine Berufung auf menschliche Autoritäten ab und verweist auf Christus, den einzigen Grund und Garanten der Einheit (vgl. 1 Kor 3,5-15). Die Einheit im Glauben ist für die Glaubwürdigkeit des Evangeliums von entscheidender Bedeutung, meint allerdings nicht Uniformität, sondern organische Vielfalt, wie das Bild vom Leib Christi zeigt (vgl. 1 Kor 12,12-27; Röm 12,3-8; vgl. Gal 3,26 ff.). Auch in der zweiten und dritten Generation bleibt die Berufung auf den einen Herrn, den einen Glauben, die eine Taufe und die eine Hoffnung konstitutiv bei der Begründung der christlichen Einheit (vgl. Eph 4,4-6). Die konkrete personale Ausgestaltung der amtlichen Gemeindeleitung bleibt diesem Anliegen nachgeordnet.

Für das neutestamentliche Anliegen, in der Vielfalt der Wege und Begabungen die Einheit der Kirche zu wahren und zu vertiefen, bleibt die vom Johannesevangelium überlieferte Bitte Jesu um die Einheit der Seinen konstitutiv: „Nicht für diese allein bitte ich dich, sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben, damit alle eins seien, so wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, damit auch sie in uns seien, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast“ (Joh 17,20 f.). Daher ist die alte Frage, ob die Heilige Schrift die Einheit der Kirche oder die Vielfalt der Konfessionen begründet, von ihrer konfessionalisierenden Funktionalisierung zu befreien. Die Heilige Schrift bezeugt vielmehr eine Einheit der Kirche, die nicht uniformistisch gedacht ist, sondern der Einheit des Leibes Christi entspricht, die in der Kooperation seiner vielen Glieder besteht (1 Kor 12,13-27).

In der Geschichte der Ökumenischen Bewegung sind immer wieder Modelle der Einheit konzipiert worden: Modelle partieller Einheit beispielsweise im diakonischen Bereich ebenso wie Modelle umfassender Einheit von der Fusion bis zur Konziliaren Gemeinschaft. Theoretisch ansetzende Überlegungen wurden nach und nach durch Reflexionen zu bereits gelebten Einheitsmodellen abgelöst. Bis heute ist die Suche nach der „sichtbaren Einheit“ der Kirche die Grundlage der Beratungen auf der Ebene von „Faith and Order“ oder auch in der von allen Konfessionen in Europa 2001 in Straßburg unterzeichneten „Charta Oecumenica“.

Kontrovers zwischen den Konfessionen ist, was notwendig zum Sein (esse) und was optional zur Qualifizierung (bene) des Kircheseins gehört.

Im Sinne von Confessio Augustana 7 genügt es zum wahren Kirchesein, das Evangelium rein zu verkündigen und die Sakramente recht zu verwalten. Das ordinierte Amt erfährt als ein geordneter Dienst in der Öffentlichkeit Anerkennung (Confessio Augustana 14), ist jedoch nicht konstitutiv für das Sein der Kirche. Aus römisch-katholischer Sicht gehört das dreigliedrige ordinierte Amt hingegen konstitutiv zum Wesen der Kirche.

Es muss offen gesagt werden, dass es heute keine gemeinsame Sicht der kirchlichen Einheit gibt, die wir zu suchen haben. Diese Offenheit ist selbst Teil der Heilung der Erinnerungen. Es zeigt sich aber, dass die Heilung der Erinnerungen bestehende Herausforderungen neu bewusst macht. Es gilt, sich gemeinsam der Frage zu stellen: Ist die „Einheit“ (noch) das Ziel? Welche Form(en) der „Einheit“ sollen wir anstreben? Diese Fragen bedürfen einer ökumenisch tragfähigen, orientierenden Antwort.

Vor Resignation in der Ökumene der Kirchen bewahrt der Gedanke, dass die „Einheit“ als ein qualitativ, nicht numerisch zu verstehender Begriff betrachtet werden kann: Einheit meint dann eindeutige Bestimmtheit, Unterschiedenheit von Anderem, Klarheit und Entschiedenheit. Das eine Christusbekenntnis unterscheidet die eine Kirche von anderen religiösen Traditionen. Im interreligiösen Kontext kann der Gedanke der Heilung der Erinnerungen bedeuten, sich gemeinsam bewusst zu werden, dass jede Wahrnehmung einer scheinbar unversöhnlichen Differenz zwischen den Kirchen die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses für Jesus Christus mindert. Mit dieser Erinnerung ist zugleich die Scham verbunden, in allen christlichen Traditionen der Versuchung erlegen zu sein, die Berufung auf die christliche Wahrheit als ein Mittel im gewaltsamen Kampf gegen andere Religionen missbraucht zu haben. Wunden am Leib der anderen Konfessionen sind auch eigene Wunden; Heilungen am Leib der anderen Konfessionen sind auch eigene Heilungen. Es gilt, was der Apostel Paulus den Korinthern über den Leib Christi schreibt: „Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm“ (1 Kor 12,26).

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